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Sam Hawken – Vermisst

Laredo ist einer der Hotspots für den amerikanisch-mexikanischen Güterverkehr. Das hat mit der Lage der texanischen Stadt zu tun, die über eine Brücke direkt mit Nuevo Laredo in Mexiko verbunden ist. Tausende von Trucks transportieren Tag für Tag Waren aus Mexiko in die USA und umgekehrt. Auch für den Drogenhandel ist die Stadt von zentraler Bedeutung. Verschiedene Kartelle wie die Golfos und das Sinaloa-Kartell kämpfen mit brutaler Gewalt um die Vorherrschaft über die Stadt. Auch Jack Searle, der Held von Sam Hawkens Krimi Vermisst wird in diesen Konflikt hineingezogen und bekommt die Tödlichkeit des mexikanisch-amerikanischen Drogenkriegs am eigenen Leib zu spüren.


Es war eine Meldung, die selbst die von den alltäglichen Mord- und Gewaltnachrichten im Bezug auf den Drogenkrieg abgestumpfte amerikanische Öffentlichkeit aufhorchen ließ. Gerade einmal sieben Stunden währte die Karriere des neuen Polizeichefs von Nuevo Laredo. Alejandro Domínguez Coello hatte gerade frisch seinen Dienst angetreten, als von Auftragsmördern eines lokalen Drogenkartells erschossen wurde. Diese Meldung ließ auch die in Sachen Brutalität und Gewalt schon viel gewohnten Menschen in der texanisch-mexikanischen Grenzregion aufhorchen.

Hier war eine neue Eskalationsstufe im Drogenkrieg erreicht. Leider aber bei Weitem nicht die finale, wie die Entwicklung der letzten Jahre gezeigt haben. Immer brutaler agieren die Kartelle, die mit Morden und zur Schau gestellter Gewalt wichtige Gebiete für sich besetzen wollen. Die Kämpfe zwischen den verschiedenen Kartellen eskalieren immer weiter und sorgen für Tausende von Opfern. Alleine in den Jahren 2015-2020 zählen vorsichtige Schätzungen über 150.000 Tote im Bezug auf den grassierenden Drogenkrieg. Es scheint kein Ende der Gewalt in Sicht. Im Gegenteil.

Wie sich ein Drogenkrieg anfühlt

Wie sich dieser Drogenkrieg für normale Menschen anfühlt, davon erzählt Sam Hawken. Er stellt den Handwerker Jack Searle in den Mittelpunkt seines Romans. Dieser verdient mit Aufträgen auf Baustellen sein täglich Brot. Er sorgt für seine beiden Stieftöchter und besucht einmal im Monat seine mexikanischen Verwandten. Dazu muss er mit seinen Töchtern über die Brücke nach Nuevo Laredo.

Sein Leben ist ein unspektakuläres. Manchmal heuert er mexikanische Migranten an, die ihm bei der Arbeit helfen. Die Aufträge sichern ihm ein Auskommen – für mehr reicht es allerdings nicht. Ein kleines Eigenheim mit Unkraut in der Auffahrt, ein Truck, das nennt Searle sein Eigen.

Die Katastrophe beginnt, als der dem Drängen seiner minderjährigen Tochter nachgibt. Diese möchte zusammen mit der Tochter der mexikanischen Verwandschaft in Konzert in Mexiko besuchen. Jack erlaubt ihr diesen Ausflug mit Bauchgrimmen – das sich schon bald als gerechtfertigt erweist. Denn die beiden jungen Frauen kehren nicht vom Konzert zurück. Verzweifelt beschließt Jack, sich auf die Suche nach seinen Töchtern zu machen. Unterstützung erhält er dabei vom Polizisten Gonzalo Soler, der für die Policia Municipale in Nuevo Laredo tätig ist. Zusammen durchkämmen die beiden die Grenzstadt auf der Suche nach den beiden Mädchen. Dabei stellen sie rasch fest, das in dieser Stadt nichts funktioniert, ohne dass ein Kartell seine Finger im Spiel hat …

Ein Buch im Schatten Don Winslows

Sam Hawken steht mit seinem Krimi unweigerlich im Schatten DES Chronisten des war on drugs: Don Winslow. Dieser hat mit seinen drei Epen Tage der Toten, Das Kartell und Jahre des Jägers von den Anfängen des Drogenkonfliktes bis in die heutige Trump-Ära hinein unglaublich feinteilig und komplex das metastasierende Geflecht Drogenkrieg herausgearbeitet. Die Messlatte liegt damit für Sam Hawken schon fast unerreichbar hoch. Und ja – er reißt sie erwartungsgemäß. Denn die Komplexität der fast 3000 Seiten starken Winslow’schen Opus Magnum erreicht Sam Hawken mit seinem Krimi nicht. Vielmehr konzentriert sich Hawken auf die verzweifelte Suche eines Vaters nach seiner Tochter.

Sam Hawken - Vermisst (Cover)

Ein klassischer Plot, der – wie auch Peter Henning in seinem Nachwort hinweist – in der Tradition von Ein Mann sieht rot oder der Taken-Filmreihe mit Liam Neeson steht. Ein solcher Plot steht und fällt natürlich mit einem zentralen Element – dem Helden. Und hier offenbart Vermisst leider zentrale Schwächen. Denn weder Jack Searle noch Gonzalo Soler sind sonderlich plastisch gezeichnet Figuren. Ihnen fehlt eine Backstory, die sie besonders auszeichnet und durch die man Sympathien für sie entwickelt. Dass Soler der um sich greifenden Korruption zu widerstehen versucht und Jack ein anständiger Kerl ist, das reicht für ein tiefergehendes Leseerlebnis leider nicht aus.

Folglich folgt man ihrer Suche nach dem Verschwinden von Jacks Stieftochter auch eher distanziert, vor allem, da diese Gegenperspektive der jungen Frauen im Buch nie wirklich angerissen wird (wenngleich dann das Ende klarmacht, warum). Um wirklich Drive zu entwickeln und die Leser*innen mitfiebern zu lassen, dazu fehlt es Sam Hawken schlicht an literarischen Möglichkeiten.

Auch hier drängt sich wieder unweigerlich der Vergleich zu Don Winslow auf, wenngleich das wenig fair erscheint. Der gebrochene Art Keller, den die Verluste seines Lebens gezeichnet haben, der aber unerschütterlich seine Mission verfolgt – das ist ein Charakter, wie er glaubhaft und plastisch ist. Mit diesem Vergleich im Hinterkopf hatte Sam Hawkens Buch das Nachsehen, wenngleich das Ende von Vermisst zu den stärksten Aspekten des Buchs gehört.

Von der Realität längst eingeholt

Ein Problem, das mich die Lektüre zudem etwas distanziert genießen ließ, ist das der Realität. Natürlich: was die Kartelle in Hawkens Buch treiben, ist schlimm. Auch die kriegsähnlichen Zustände und Schilderungen bedrücken. Allerdings ist die Realität doch noch ein ganzes Stück grausamer und brutaler geworden und hat die Fiktion dieses Buchs schon lange eingeholt. Es wirkt schon fast nostalgisch, wenn man sich hier noch auf der Suche nach den beiden Mädchen zusammentelefoniert oder an einem Drucker daheim Fotos reproduzieren muss, um die Stadt mit Suchaufrufen zu tapezieren. Die Realität der sozialen Medien, die modernen technischen Möglichkeiten einer Personensuche, in Vermisst haben sie noch nicht Einzug gehalten.

So wirkt es, als habe die Realität dieses Buch in vielen Aspekten längst eingeholt und mit Vollgas rechts überholt. Bilder von dutzenden unter Brücken Erhängten, Drogenbarone wie El Chapo und die flankierende Berichterstattung durch die Medien lassen Vermisst etwas abgehängt erscheinen und geben dem Buch einen leicht historischen Touch der Beschreibung eines frühen Zustandes des war on drugs.

In Verbindung mit den etwas limitieren literarischen Gestaltungsmitteln Sam Hawkens entsteht so der Eindruck eines Buchs, das sowohl von der Realität als auch von anderen literarischen Größen überholt wurde. Als Erzählung eines einfachen Mannes auf seiner Suche nach seiner Stieftochter gegen alle Widerstände geht das Buch in Ordnung. Auch schafft es Hawkens, einen Eindruck davon zu erwecken, wie sich diese Drogenkriege für unbescholtene Menschen in der Grenzregion anfühlen müssen. Mehr allerdings kann das Buch nicht liefern und verliert gegen die so komplexe und auf der Höhe der Zeit agierende Prosa Don Winslows deutlich.


  • Sam Hawken – Vermisst
  • Aus dem Englischen von Karen Witthuhn
  • ISBN 978-3-948392-02-4 (Polar-Verlag)
  • 400 Seiten. Preis: 22,00 €
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Sandra Gugić – Zorn und Stille

Blickt man auf die Veröffentlichungen der Verlage in diesem Herbst und achtet auf Themencluster, ist die Fülle an Büchern, die sich mit der Geschichte Jugoslawiens beschäftigen, frappant. So hat David Grossman mit Was Nina wusste einen Familienroman über drei Generationen verfasst, der im Tito-Regime und einer während dieser Zeit gefällten Entscheidung wurzelt. Ebenfalls (leider nicht so gelungen) thematisiert Zora del Buono diese Zeit in ihrem Buch Die Marschallin. Sie kreist in ihrem Buch um die Figur ihrer eigenen Großmutter, die im Lauf ihres Lebens fünf Pässe besaß und sich in den Partisanenkriegen und im Tito-Regime engagierte.

Und nun liegt auch von Sandra Gugić ein Roman vor, der sich der wechselvollen Geschichte Serbiens widmet und der die Auswirkungen der Geschichte im Privaten untersucht.


1976 in Wien geboren verfügt Sandra Gugić selbst über serbische Wurzeln. Mittlerweile lebt sie mit ihrer Familie in Berlin. Seit ihrem Debüt Astronauten im Jahr 2015 hat sie sowohl Prosa als auch Lyrik vorgelegt. Zorn und Stille ist nun der zweite Roman von ihr, der sich mit einer in Wien lebende Migrantenfamilie beschäftigt.

Eine Familiengeschichte aus drei Perspektiven

Die Erzählung setzt im September 2016 ein. Die Ich-Erzählerin Billy Bana erzählt ihre Geschichte. Eigentlich trägt sie den Namen Biljana Banadovic. Sie hat allerdings beschlossen, sich von ihrer Herkunft ebenso wie von ihrem Namen zu emanzipieren. Als Billy Bana ist sie als Fotografin tätig und hat die Flucht von Zuhause angetreten.

Sandra Gugic -Zorn und Stille (Cover)

Eine Nachricht reißt sie aus dem Leben, das sie sich aufgebaut hat. Ihr Vater ist tot. Folglich fliegt sie in die Heimat ihres Vaters, aus der er und seine Frau damals aufbrachen, um nach Wien zu gehen. Die Lebensgeschichten der beiden ist dann Thema der beiden anderen Teile, die Gugić zunächst aus Sicht von Billys Mutter im Juli 2008 erzählt, ehe dann ihr Vater Sima im Jahr 1999 Thema ist.

Aus diesen Teilen ergibt sich das Bild einer zerrissenen Familie. Eine, in der sich die Geschichte und die Verwerfungen des Balkans abbildet. Ein verschwundener Sohn, viele Kompromisse, nicht Ausgesprochenes und Verdrängtes. Dazu ständig die Unsicherheit, in einem Land zu leben, das einen nicht wirklich wollte:

Zuhause war damals die Vorstadt von Wien, dieses Zuhause mit seinen strengen Regeln holte uns jedes Jahr nach den Ferien zuverlässig wieder ein. Das oberste Gebot meiner Eltern war das aller braven Migranten: um keinen Preis auffallen oder Aufsehen erregen, unsichtbar und unangreifbar sein vor den Blicken und dem Urteil der Anderen. Sie waren Gastarbeiter, ihr Bleiben war nicht vorgesehen. Wir lebten in einem Häuserkomplex aus roten Backsteinen, in einer Substandardwohnung im zweiten Stock, die aus einem Zimmer und einer Küche bestand.

Gugić, Sandra: Zorn und Stille, S. 25

Drei Perspektiven, aber ähnlicher Sound

Gugić erzählt ihre Geschichte in einem schlichten Ton, der – und das wäre mein einziger Kritikpunkt an diesem Buch – bei allen drei Erzähler*innen relativ gleich bleibt. Zwar ändert sich die Erzählperspektive von Billy hin zu ihren Eltern. Klingen tun sie allerdings recht ähnlich, was sich aber durch einen Hinweis auf die Familienbande auch ein Stück weit erklären ließe. Abgesehen vom gleichen Sound ist Zorn und Stille ein konzentriertes Buch, das Einblick in das Seelenleben einer „Gastarbeiterfamilie“ gewährt. Das zeigt, wie die Konflikte des Balkan in der Familie fortwirken. Und das innerfamiliäre Konflikte aus mehreren Perspektiven beleuchtet. Das lässt sich nicht viel meckern.

Besondere Erwähnung muss an dieser Stelle natürlich auch das Cover finden. Ein echter Eyecatcher, der auch tatsächlich auf das Buchgeschehen anspielt. Da greift man gerne zu.

  • Sandra Gugić – Zorn und Stille
  • ISBN 978-3-455-00976-7 (Hoffmann und Campe)
  • 240 Seiten. Preis: 24,00 €

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On the road

Jacques Poulin – Volkswagen Blues

Unter dem Motto All together Now ging am Sonntag die als Special Edition betitelte Frankfurter Buchmesse zuende. Eine Buchmesse, die anders war als alle zuvor erlebten. Keine Besucher, keine Aussteller in den Hallen, gerade mal in der Festhalle zeichnete die ARD das Begegnungsformat der Blauen Couch auf. Ansonsten ein unübersichtliches, chaotisches Programm, bei dem Verlage, Zeitungen, Messe und Autor*innen alle über diverse eigene Kanäle kommunizierten. Interviews, gefilmte oder gestreamte Lesungen, Zoom-Meetings. Ein Angebot, das mich etwas ratlos zurückließ und bei dem mit einer gebündelten Darstellung oder einer gemeinsamen Plattform sicher eine bessere Auffindbarkeit und Übersichtlichkeit zur Folge gehabt hätte. Aber es ist, was es ist.

Auch der Auftritt des diesjährigen Gastlandes Kanada auf der Frankfurter Buchmesse entfiel und wurde ins nächste Jahr verschoben. Eine etwas ungünstige Lösung, da viele Verlage nun schon freie Programmplätze für Kanada freigeräumt hatten. Inwieweit sich dise verlegerische Aufmerksamkeit für die kanadischen Autor*innen übertragen lässt, bleibt abzuwarten.

Auch auf dem Blog habe ich unter dem Motto #kandaerlesen schon einige Perlen aus den Programmen der Verlage in diesem Bücherherbst gesammelt. Ein weiterer Roman, der nun zu entdecken ist, ist Jacques Poulins Volkswagen Blues. Ein Buch, das laut dem Hanser-Verlag in Kanada Kultstatus genießt.

Ein seltsames Paar

Es ist ein äußerst seltsames Paar, das da in Poulins Roman zusammenfindet. Er, der Schriftsteller Jack Waterman, auf der Suche nach seinem Bruder. Und sie, Pitsémine, genannt Große Heuschrecke. Eine junge Frau mit indigenen Wurzeln, die von ihrer jungen Katze begleitet wird.

Dise beiden treffen auf den ersten Seiten des Romans aufeinander – und tun sich für den Rest des Romans zusammen. Denn Pitsémine stellt sich mit ihrem logischen Verstand und ihrem Aplomb als die passende Ergänzung für Jack und seine Mission heraus. Denn dieser hat durch Zufall eine Karte seines Bruders entdeckt. Jener Bruder, den Jack seit Dutzenden von Jahren nicht mehr gesehen hat. Doch nun ist es doch an der Zeit, dass man diesen Spuren nachgeht, so beschließt es Jack.

Zusammen mit Pitsémine und dem Kater namens Chop Suey begibt er sich auf eine Schnitzeljagd, die sie vom Norden Kanadas bis nach St. Louis und entlang des Oregon Trails in den Westen der USA führen wird. Eine turbulente Schnitzeljagd beginnt. Und damit auch ein Roadtrip durch ein Amerika, das wie aus einer anderen Welt scheint.

Aus der Zeit gefallen

Volkswagen Blues erschien 1984 in Kanada. Das Alter merkt man dem Roman auch an, der völlig aus der Zeit gefallen wirkt. Da tut sich ein widersprüchliches Pärchen zusammen, da fährt man im VW Bulli mitsamt durchrostenden Bodenblech durch ein Kanada und eine USA, die unserer heutigen Lebenswelt nicht ferner sein könnte. Love, Peace and Happiness. Der Geist der Hippiebewegung durchweht diesen Roman. Und natürlich muss der Roman auch dort enden, wo schon Scott McKenzie das Paradies aller Hippies besang: San Francisco.

Jacques Poulin - Volkswagen Blues (Cover)

Man begegnet sich respektvoll, ist neugierig aufeinander und kennt keine gesellschaftlichen Barrieren. Die soziale Wirklichkeit in diesem Roman ist größtenteils eine, die mit Blick auf die heutigen Zustände in Amerika völlig absurd wirkt. In diesem Sinne ist Volkwagen Blues für mich auch ein Stück bittersüße Nostalgie, da hier eine Welt gefeiert wird, die noch in Ordnung ist, wenngleich Poulin auch die Gräuel an der indigenen Bevölkerung nicht verschweigt und während der Reise thematisiert.

Generell verfestigte sich aber für mich der Eindruck einer nostalgischen Lektüre. Fernab von sozialen Spaltungen, ökologischen Sorgen und materiellem Auskommen reist man da einfach mal ein paar tausend Kilometer quer durch die kanadische und amerikanische Landschaft und macht sich keine gesteigerten Sorgen um die eigene Existenz.

Höchster Akt der Anarchie sind Diebstähle von Büchern aus Bibliotheken oder Buchhandlungen, die die lesehungrige Pitsémine begeht. Ansonsten ist dieses Buch geradezu unschuldig, was auch seinen Status als Kultroman in Kanada erklären könnte.

Fazit

Zu einem Kultroman in Deutschland wird es zwar nicht reichen. Aber Volkswagen Blues nimmt doch mit auf eine toll erzählte Reise quer durch Kanada und Amerika und ist somit die ideale Möglichkeit einer „Lehnstuhlreise“. Ein leichtes Buch, das das Fernweh und die Sehnsucht nach einer anderen Zeit befeuert. Und das ein wirklich seltsames Paar in den Mittelpunkt rückt, das in diesem Bücherherbst zu den skurrilsten Paarungen der Literatur zählen dürfte. Von Jan Schönherr wurde der Roman aus dem Französischen ins Deutsche übertragen und ist damit eine schönes Beispiel für #kanadaerlesen.


  • Jacques Poulin – Volkswagen Blues
  • Aus dem Französischen von Jan Schönherr
  • ISBN 978-3-446-26761-9 (Hanser)
  • 256 Seiten. Preis: 23,00 €

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Charlotte McConaghy – Zugvögel

Und wir schauen in den Himmel
denn bald ist es soweit
In jedem Jahr auf diesem Platz zur gleichen Zeit
bilden Zugvögel ein V am Firmament
und wir schauen ihnen nach bis man das V nicht mehr erkennt

Thees Uhlmann – Zugvögel

Doch was passiert, wenn man am Himmel kein Vögel mehr beobachten kann, die in V-Formation gen Süden fliegen? Wenn die meisten Tiere auf der Erde verschwunden sind? Woran soll man noch festhalten? Diese Frage stellt sich auch Franny. Sie hat die letzten Küstenseeschwalben aufgestöbert und will deren Zug nachverfolgen. Denn Küstenseeschwalben gehören zu den belastbarsten Zugvögeln, legen in ihrem Leben den Weg von Arktis zu Antarktis mehrfach zurück. In ihrem Leben fliegen die Tiere eine Strecke von über 2,4 Millionen Kilometer, das ist eine Strecke, der der dreifachen Distanz zum Mond entspricht.

Küstenseeschwalben in Patagonien (By PMATAS – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48578659)

Wenn es also robuste und überlebensfähige Tiere gibt, dann die Küstenseeschwalben. Und so beringt Franny drei Tiere mit einem Peilsender und will ihrem Kurs folgen. Vielleicht gibt es an dem Ort ihrer Brut ja noch mehr Tiere?

Franny überzeugt den Kapitän eines Fischerbootes, dem Signal der Tiere zu folgen. Denn dort wo die Küstenseeschwalben sind, muss es auch Fische geben. Für die Crew des Kutters ein entscheidendes Argument, schließlich liegen die letzten Fangerfolge schon wieder eine ganze Weile zurück. Wie die anderen Tiere, so sind auch die Fische größtenteils verschwunden. Eine Reise beginnt, die einen unvorhergesehenen Verlauf nehmen wird.

Zugvögel – ein gutes Buch

Manchmal kann ein Urteil über ein Buch ganz einfach ausfallen. Zugvögel ist ein Buch, das ein solches Urteil erlaubt. Das bedeutet im konkreten Falle: dieses Buch ist wirklich gut! Mit ihrem Debüt ist Charlotte McConaghy ein stimmiges Debüt gelungen, das mich überzeugt hat.

Charlotte McConaghy - Zugvögel (Cover)

In diesem Roman findet vieles zusammen. Eine komplexe Protagonistin, deren Hintergrundgeschichte sich erst langsam entfaltet. Ein dystopisches Setting, das aber nicht brachial aufgemotzt wird, und das für die eigentliche Handlung nur die Grundierung darstellt. Themen wie Naturschutz oder Selbstfindung, die die Geschichte bereichern, aber nicht erdrücken. Und eine Heldin, die widersprüchlich ist und die die Sympathie der Lesenden ein ums andere Mal mit ihrem Verhalten strapaziert.

Trotz der vielen Rückblenden und Zeitsprünge entwickelt Zugvögel einen Sog und ein Tempo, der in die Geschichte rund um die Küstenseeschwalben und Frannys Lebens- und Liebesgeschichte hineinzieht. Nature Writing, Liebe, Umweltschutz – dieses Buch vereint viele zeitgeistige Themen. Es würde mich nicht wundern, wenn diesem Roman ein großer Erfolg beschieden ist. Übersetzt wurde es im Übrigen von Tanja Handels.


  • Charlotte McConaghy – Zugvögel
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-10-397470-6 (S. Fischer)
  • 398 Seiten. Preis: 22,00 €
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Rye Curtis – Cloris

Es gibt hilfreichere Dinge als ein paar Karamellbonbons, einen Stiefel und eine Bibel, um damit einen Flugzeugabsturz zu überleben. Doch genau damit muss die Seniorin Cloris Waldrip im gleichnamigen Roman von Rye Curtis überleben. Dieser erzählt in seinem Debüt von zwei ganz unterschiedlichen Frauen, dem Überleben in der Wildnis und dem, was uns durchhalten lässt, wenn alles auswegslos scheint (übersetzt von Cornelius Hartz).


Eigentlich eine schöne Idee, die der Ehemann von Cloris Waldrip da hatte. Das texanische Paar wollte einen Rundflug über die Bitterroot Mountains im Nordwesten der USA unternehmen. Doch dann stürzt das Kleinflugzeug ab. Ihr Mann und der Pilot sterben noch an der Unfallstelle. Wie durch ein Wunder überlebt allerdings Cloris und muss sich nun in der Wildnis der größten Aufgabe ihres Lebens stellen – der zu überleben. Die alte Dame nimmt den Kampf an und macht sich auf den Weg zurück in die Zivilisation, bewaffnet mit einer Bibel, Karamellbonbons und einem Stiefel ihres verstorbenen Mannes.

Derweil verbeißt sich die alkoholkranke Rangerin Debra Lewis in die Suche nach Cloris. Während die Öffentlichkeit und auch Lewis‘ Kollegen davon ausgehen, dass auch Cloris den Absturz nicht überlebt hat und in der Wildnis verstorben ist, folgt Debra ihren eigenen Instinkten. Zusammen mit einem Suchtrupp, einem Flugzeugpiloten und einer stets mit Merlot gefüllten Trinkflasche organisiert sie die Suche nach Cloris.

In der Wildnis der Bitterroot Mountains

Es sind zwei ungewöhnliche Heldinnen, die sich Rye Curtis für sein Debüt ausgesucht hat. Während Cloris uns ihr Schicksal per Nacherzählung schildert, unterbricht immer wieder die Gegenperspektive in Form von Debras Suchaktion die Erzählung. Die beiden Figuren nähern sich in der Wildnis der Bitterroot Mountains immer näher an. Doch da ist auch noch eine dritte, prominente Figur, die in der unzugänglichen Bergregion umherstreift. Es handelt sich um einen maskierten Mann, der Cloris immer wieder beisteht und ihr Überleben dort droben am Berg sichert. Wer ist dieser Mensch? Eine Erscheinung oder eine ganz weltliche Figur?

Rye Curtis - Cloris (Cover)

Lange Zeit ist nicht sicher, worum es sich bei dem Fremden handelt (wenngleich die meisten Leser*innen recht früh eine Ahnung haben dürften). Nicht nur diese Figur wird sich am Ende als sperrig und nicht so leicht einordenbar erweisen. Auch Cloris und Debra sind zwei Figuren, die durchaus Ecken und Kanten besitzen. So erinnerte mich persönlich die Merlot trinkende Rangerin stark an einge von Frances McDormand verkörperte Frauenfiguren, etwa Mildred Hayes in Three Billboards outside Ebbing, Missouri.

Wie es Rye Curtis gelingt, sich die Perspektiven der beiden Frauen anzunehmen, das ist für einen derart jungen Schriftsteller wirklich beeindruckend. Er verleiht den beiden Frauen unterschiedliche und überzeugende Stimme. Auch gelingt es ihm, die Wildnis der Bitterroot Mountains mitsamt der Berglöwen und Unbill der Natur eindrucksvoll einzufangen. Wie die alte Dame Cloris dort kämpft, sich (unterstützt durch den maskierten Mann) durchschlägt, und wie auch Debra Lewis unbeirrt ihr Ziel der Rettung von Cloris unbeirrt verfolgt, das macht dieses Buch so beeindruckend.

Fazit

Gewiss: bequem und glattgezogen ist das alles nicht. Rye Curtis Buch ist gefährlich. So manches Mal ist ein starker Magen vonnöten und gefällig ist Cloris auch nicht immer. Eben ganz genauso, wie es die Natur dort in der Einöde Nordamerikas auch ist. Hier schreibt ein junger Autor mit einer Stimme, die aufhorchen lässt. Ein Buch voller souveräner Frauen im Mittelpunkt, die sich nicht beirren lassen. Literatur der Marke „Originell, kantig, und bleibt im Kopf“.


  • Rye Curtis – Cloris
  • Aus dem Englischen von Cornelius Hartz
  • ISBN 978-3-406-75535-4 (C.H. Beck)
  • 352 Seiten, 24,00 €
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