Tag Archives: Suche

Kann man ein Herz reparieren?

Valerie Fritsch – Herzklappen von Johnson & Johnson

Ist ein Leben ohne Schmerz ein erstrebenswertes? Die österreichische Autorin Valerie Fritsch in „Herzklappen von Johnson & Johnson“ über das Verbindende von Generationen, Muttergefühle und ein Kind, das keinen Schmerz kennt.


Dass ein Indianer keinen Schmerz kennt, das wird besonders Jungen zuweilen immer noch eingeimpft. Doch was ist, wenn ein Junge tatsächlich keinen Schmerz kennt? Wenn er sich beim Schaukeln einen Arm bricht, und es nicht merkt? Wenn er stundenlang in der Sonne tobt, den schmerzhaften Sonnenbrand aber nicht fühlt? Oder wenn er einem Zauberkunststück gleich seinen Körper verstümmelt, um andere zu beeindrucken? Was macht das mit dem Kind, und was mit seinen Eltern?

Valerie Fritsch - Herzklappen von Johnson & Johnson (Cover)

Valerie Fritsch hat darüber einen zugleich zarten und doch mit rauschhafter Sprache ausgestatteten Roman geschrieben. Er rückt drei unterschiedliche Generationen in den Mittelpunkt. Da sind zunächst die Großeltern Almas. Er Soldat, der im Zweiten Weltkrieg die Hölle Stalingrads geschaut hat, Sie eine mondäne Erscheinung. Gottesgläubig, nicht-fürchtig, wie es im Roman heißt. Die Vergangenheit hat die beiden nie wirklich losgelassen, zu präsent sind die Schrecken des Erlebten zu Zeiten des Dritten Reichs.

Es sind die titelgebenden Herzklappen von Johnson & Johnson, die dem Großvater das Weiterleben ermöglichen. Die Grauen des Kriegs und die Folgen haben das Herz angegriffen. Nur die mechanischen Herzklappen halten das Herz am Laufen und ermöglichen so das Überleben des Großvaters. Manchmal kann man ein Herz eben doch reparieren.

Misstrauen gegenüber dem eigenen Körper

Das Misstrauem gegenüber dem eigenen Körper, es ist auch drei Generationen weiter wieder ein Thema. Denn als Alma Emil zur Welt bringt, stellt er sich schnell als schmerzunempfindlich heraus. Eine große Herausforderung für Alma, ihren Mann Friedrich und die gesamte Familie. Nach einer Stunde Spiel ruft Alma Emil zu sich, tastet ihn auf eventuelle Frakturen oder anderweitige Verletzungen ab. Denn Emil selbst bemerkt diese nicht. So musste er zeitweise sogar eine Taucherbrille tragen, um sich nachts nicht aus Versehen selbst die Augen auszureiben. Eine Herausforderung, der sich Alma stellen muss.

Wenn Alma mit Emil bei den Großeltern zu Besuch war, schien der Schmerzkosmos der einen mit jenem der Schmerzlosigkeit des anderen auf wunderliche Art und Weise zu kollidieren. Der Bub stürmte durch die Erstarrtheit des Hauses, rannte durch den Korridor der alten Dinge, als wäre er auf einer Zeitreise in die Vergangenheit, und nichts tat ihm weh. Die jahrelange Leidens- und Verfallsgeschichte der Alten mit dem kindlichen Unverständnis für jedes Leid auszusöhnen war keine leichte Aufgabe. Ständig musste Alma ihren Sohn zur Vorsicht anleiten, damit er nicht zu grob war mit der alten Frau, und oft musste sie der Großmutter erklären, dass die Abwesenheit des Schmerzes kein Segen war, auch wenn die sich an schlechten Tagen nichts mehr als das wünschte. Die Alten und ihr jünster Nachfahr waren Antipoden, die Gegengestalten der Familiengeschichte, der eine die Folge der anderen. Der Großbater und Emil standen sich gegenüber als Spiegelfigur der Zeit, mit einem jungen und einem alten Gesicht, voller Ersatzteile innen drin, Schrauben, die sie zusammenhielten, und einem falschen Herzen.

Fritsch, Valerie: Herzklappen von Johnson & Johnson, S. 125 f.

Ein Fest der Sprache und der originellen Bilder

Hier in diesem Ausschnitt zeigt sich schon die wahre Stärke des Romans. Diese besteht nicht in ihrer Geschichte, denn die geschilderten Schicksale etwa von Almas Großeltern kennt wohl jeder aus der eigenen Familie oder aus dem erweiterten Umfeld. Und auch Emils Schicksal wird, abgesehen von der außergewöhnlichen Krankheit, nicht wirklich tief ausgelotet. Selbst die Reise der Familie am Ende des Romans wirkt nur hingetupft. Vielmehr ist der herausragende Aspekt dieses Buchs die Sprache.

Wie es Valerie Fritsch gelingt, die Leben und Schicksale in eine wortmächtige Prosa zu kleiden, das ist große Kunst. Hinter jeder Ecke der Geschichte lauert eine originelle Formulierung oder Metapher. Stets gelingt es ihr, auch abgenutzte Bilder oder Abläufe neu zu betrachten oder durch ihre Sichtweise neue Aspekte zu vermitteln. Sätze wie dieser sind es, die die Klasse von Herzklappen von Johnson & Johnson begründen:

Mit jedem Jahr, das sie älter wurde, erschien sie mehr auf der Welt. Mit jedem Jahr wurde sie sichtbarer auf ihr, wuchs in die eigenen Formen, nahm ihren Platz ein, hineingeboren ins Fragen und in die Lücke, die auf der Welt war, bevor ein Mensch sie füllte.

Fritsch, Valerie: Herzklappen von Johnson & Johnson, S. 9

Hier schreibt eine Autorin mit einem genauen Blick auf die Welt und einer eigenen Sichtweise, die sie auch in Worte überführen kann. Wenn man wie im meinen Falle dieses schwer greifbare Wort Literatur mit Sprachgefühl, ästhetischer Empfindsamkeit, Präzision und kreativer Wortmacht definiert, dann kann man gar nicht anders als Herzklappen für Johnson & Johnson als große Literatur zu rühmen. Valerie Fritsch ist eine ganz eigene Sprachkünstlerin und dieses Buch belegt das nach Winters Garten einmal mehr.

Ähnlich sehen das im Übrigen auch Marina Büttner, Anne Fuxbooks und Tobias vom Buchrevier.


  • Valerie Fritsch – Herzklappen von Johnson & Johnson
  • ISBN: 978-3-518-42917-4, Suhrkamp-Verlag
  • Gebunden, 174 Seiten
  • Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen

Hari Kunzru – Götter ohne Menschen

Ein Roman, so unergründlich wie die Wüste, in der er spielt: Hari Kunzrus Roman Götter ohne Menschen über verschwundene Kinder, kriselnde Beziehungen und Außerirdische.


Geht es um scheinbar Übersinnliches, das in den vernünftigen, geordneten Alltag einbricht, dann ist der Brite Hari Kunzru ein ausgemachter Fachmann. Das bewies er schon in seiner Vintage-Musik/Geisterstory White Tears, in der zwei Musiknerds mithilfe eines Blues-Fragments auf die Spur eines geisterhaften Musikers gelangten, die in den Süden der USA führte.

Nun liegt in der deutschen Übertragung durch Nicolai von Schweder-Schreiner Kunzrus Roman Götter ohne Menschen aus dem Jahr 2011 vor. Ein Buch, das durch seine Vielschichtigkeit und Vielstimmigkeit eine einfache inhaltliche Zusammenfassung kaum möglich macht.

Vielmehr kommt man der komplexen Erzählung Kunzrus am besten mit dem Vergleich eines Baumes nahe. Den Hauptstamm jenes Baums bildet die Geschichte des Paars Matharu. Er, Jaz, ein indischer Einwanderer, zerrissen zwischen dem Wunsch nach Teilhabe an der amerikanischen Aufstiegsgesellschaft und seinen familiären Wurzeln. Sie, Lisa, Mutter von Raj, dem gemeinsamen Sohn, der unter einer Autismus-Spektrums-Störung leidet. Die Ehe kriselt, die beiden Partner leiden unter ganz eigenen Problemen, zudem belastet beide die Situation mit ihrem Kind zusehends. Ein gemeinsamer Ausflug soll Abhilfe schaffen. Bei diesem Trip in Richtung Mojave-Wüste verschwindet Raj dann allerdings spurlos. Wilde Spekulationen über das Paar setzen ein und die Öffentlichkeit nimmt rege Anteil am Schicksal des verschwundenen Jungen.

Geschichten aus drei Jahrhunderten

Um diesen Erzählungsstamm ranken sich diverse Episoden, die Kunzru im 18. Jahrhundert beginnen lässt und die sich bis in die Gegenwart erstrecken. Da gibt es den Bericht eines spanischen Missionars, Geschichten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs bis hinein in die Flower-Power-Jahre. Inhaltlich vielstimmig sind diese Erzählungen mal an die mündliche Erzähltradition der Indianer angelegt, mal eine wilder Cowboy-Räuberpistole, mal eine höchst aktuelle Erzählung einer aus dem Irak stammenden Geflüchteten. Allen gemein ist, dass sie zu einem Zeitpunkt ihres Lebens in die Nähe einer sagenumwobenen Gesteinsformation in der Wüste kamen.

Hari Kunzru - Götter ohne Menschen (Cover)

Wie ein fein verästeltest Geflecht umgeben diese Geschichte die Haupterzählung. Verschiedene Figuren aus den Episoden tauchen in anderen Geschichten wieder auf. Leitmotive wie die Wüste, das Verschwinden von Kindern oder der Kontakt mit Außerirdischen sind Themen, die in verschiedenen Manifestationen immer wieder hervorscheinen und so ein Netz aus Bezügen herstellen. Diese Verästelungen sind manchmal ganz zart, dann auch wieder offensichtlicher. Alle Suchenden, die Lektüre auch als Schnitzeljagd begreifen, dürften hier ihre große Stunde erleben. Denn hinter Götter ohne Menschen steckt wirklich ein raffiniertes Konzept.

Zu den Kunstfertigkeiten diesen Romans zählt auch, dass Kunzru Themen zusammenbringt, die eigentlich nicht nicht zusammenpassen wollen. So schafft er es, aus der Alienbegeisterung, der Sinnsuche und dem Wunsch nach spiritueller Erfahrung in der Wüste ein Thema zu machen, das in unterschiedlichsten Facetten immer wieder im Buch auftaucht. Die Hinwendung zu einer übersinnlichen Kraft, die schon im Buchtitel thematisiert wird, setzt sich im Buch fort. Und dass, ohne dass das Buch in eine unangenehme theosophische oder esoterische Stoßrichtung kippt. Vielmehr zeigt Kunzru den Wunsch nach Spiritualität, der über alle Zeit hinweg in allen Menschen wurzelt.

Götter ohne Menschen, aber mit literarischer Vielfalt

Eine weitere Stärke dieses grandiosen Frühjahrstitels ist auch seine literarische Vielfalt. Sobald Schriftsteller*innen das Mittel der Multiperspektive für ihre Erzählung wählen, besteht eine ganz große Gefahr: die schriftstellerischen Mittel der Erzählenden sind dergestalt limitiert, dass alle Figuren gleich denken und gleich klingen (wie etwa zuletzt in Simone Lapperts Der Sprung). Obwohl sich der Name der erzählenden Figur ändert, klingt sie genauso wie die anderen Figuren zuvor, mit der wir die Handlung erlebt haben.

Für solche Fehler oder erzählerischen Limitation ist Hari Kunzru viel zu versiert. Mit welcher Akribie er sich in die unterschiedlichen Milieus einarbeitet und deren Welten auf wenigen Seiten glaubhaft zum Leben erweckt, ist meisterhaft. Wie fühlt sich eine Ehe mit einem an Autismus leidenden Kind an? Wie hat ein spanischer Eroberer im 18. Jahrhundert seine Berichte formuliert? Wie fühlt sich ein sinnentleerter britischer Rockstar, der die Flucht in ein anonymes Motel angetreten hat? All diesen höchst heterogenen Figuren verpasst der britische Schriftsteller eine eigene Sprache (toll von Nicolai von Schweder-Schreiner übersetzt) und einen eigenen Blick auf die Welt.

Es macht große Freude, immer wieder in neue Zeiten und neue Lebensgeschichten einzutauchen, die trotzdem miteinander verbunden sind. Ähnlich wie bei David Mitchells Wolkenatlas steht auch hier am Ende ein zeitenüberspannendes Netzt aus Figuren und Geschichten. In meinen Augen große Schrifstellerkunst.

Fein geschrieben, raffiniert komponiert, mit interessanten Motiven und Ideen durchzogen: Götter ohne Menschen ist ein wirkliches literarisches Ereignis, das Hari Kunzrus Ruf als einem der interessantesten britischen Schriftstellern der Gegenwart zementiert.

  • Hari Kunzru: Götter ohne Menschen
  • Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schrein
  • 416 Seiten, € 24,00 Gebunden mit Schutzumschlag
  • ISBN 978-3-95438-117-3 (Liebeskind-Verlag)
Diesen Beitrag teilen

Verena Güntner – Power

Wenn die Suche nach einem Hund die ganze Dorfgemeinschaft auseinanderzureißen droht – Verena Güntners zweiter Roman „Power“.


Wenn man im namenlosen Dorf Verena Güntners jemanden etwas wiederfinden will, dann betet man nicht zum Heiligen Antonius. Kerze ist es, die man fragen muss. Die junge Schülerin hat ein Talent im Auffinden von Dingen. Und so ist es auch sie, die von der alten Frau Hitschke kontaktiert wird. Denn ihr geliebter Hund Power ist verschwunden. Hatte sie ihn kurz vorher noch vor dem Edeka angebunden, findet sich von ihm nach dem Supermarktbesuch keine Spur mehr. Jetzt soll Kerze helfen, den Hund wiederzufinden. Und Kerze stürzt sich gleich in die Ermittlungen, die am Ende zu einem völligen Riss zwischen den Generationen im Dorf führen werden.

Dabei ist eigentlich der Rahmen der Geschichte schon nach wenigen Seiten klar. Der verschwundene Power und die Tatsache, dass Kerze nach sieben Wochen den madenzersetzten Leib Powers gefunden haben wird. Doch die Zeit dazwischen ist es, für die sich Verena Güntner in ihrem Buch interessiert. Dabei beschränkt sie sich hauptsächlich auf drei Figuren, mithilfe derer sie ihre Geschichte erzählt. Da ist die alte Hitschke, die nach dem Tod ihres Mannes isoliert in ihrem Haus lebt. Dann gibt es noch den Sohn des Bauern Huber, der neben dem teuren Fendt 1000 Vario-Traktor, Freiwild und der Abrichtung des hofeigenen Hundes keine großen Hobbys hat. Er fungiert als Bindeglied zwischen Alt und Jung. Und da ist zu guter Letzt noch Kerze, die im Lauf des Buchs zur Anführerin der Dorfkinder wird.

Aufstand der Kinder

Glaubt man sich zunächst in einem schon hundertmal gelesenen Coming-of-Age Roman (das sommerliche Dorf fernab der Zivilisation, die kindliche Protagonistin, die scheinbare Ereignislosigkeit, geschildert in eigenwillig-jugendlicher Sprache), kippt das Ganze schon bald. Denn aus Kerzes Suche wird etwas sehr Eigentümliches. Kerze fühlt sich nämlich auf beängstigende Art und Weise in Power ein. So wird sie sukzessive selbst zum Hund und eignet sich tierische Verhaltensweisen wie etwa den Gang auf vier Beinen oder Bellen zur Kommunikation an. Und mit dieser Nachahmung ist sie nicht alleine. Immer mehr Kinder schließen sich ihr an, die schließlich dahin flüchten, wo schon seit den Gebrüdern Grimm die meisten Märchen spielen – in den Wald. Dort werden die Kinder zum wilden Rudel, die versuchen, Powers Spuren aufzunehmen.

Power

Versucht man Power auf realistische Art und Weise zu lesen, dann scheitert man schnell. Weder kann oder will Verena Güntner die Motivation Kerzes und ihrer Gefolgsleute erklären, noch spielen äußere Ordnungsmächte wie Lehrer*innen oder die Polizei eine Rolle. Auch kommen Medien, die eine solche Entwicklung aufgreifen würden, allenvoran die sozialen, überhaupt nicht vor. Die Lösung des Problems wird nur unter den Erwachsenen und den Kindern des Dorfs ausgemacht. Während die alte Hitschke als Verursacherin der Entwicklungen im Dorf langsam ausgehungert wird, rotten sich die Kinder im Wald zusammen. Schon bald wird klar, dass man mit den Kriterien des Realismus an Power scheitert.

Vielmehr muss man Power in meinen Augen als Generationenfabel oder Groteske lesen. Der Wald als Schauplatz setzt schon einen gewissen märchenhaften Ton, der durch das Tun und Treiben der Kinder verstärkt wird. Durch die Fokussierung auf die drei Hauptfiguren Hitschke, Hubersohn und Kerze zeigt die Berliner Autorin und Schauspielerin das Auseinanderdriften der Generationen, in deren Mitte der Hubersohn steht, der symbolhaft selbst ganz zerrissen ist, zwischen Vater und Hund, zwischen dem potentiellen Erbe des Hofs und dessen Zerstörung.

Zwischen den Generationen

Wie weit das Verschwinden eines Hundes zu einer Radikalisierung auf beiden Seiten der Demarkationslinie Generation führen kann, das exerziert die Autorin in Power durchaus eindrücklich durch. Aber hat das Buch neben dieser Schilderung der Radikalisierung mehr zu bieten? Ich finde leider nein. Denn eine allzu tiefe Bedeutung sollte man in Güntners Fabel nicht suchen (zumindest habe ich sie nicht gefunden). Bezeichnend war für mich ein Dialog, der am Ende des Buchs steht.

Kerze läuft an ihr vorbei, die Treppe hinauf, wirft einen Blick ins Zimmer der Mutter, sieht die Monstera auf dem Sims stehen, halb vertrocknet wie immer.

„Schön, dass die noch da ist“, ruft sie nach unten.

„Bitte?“

„Ach, Egal“

Im Badezimmer macht sie das Duschwasser an, geht kurz in ihr Zimmer, in dem die Geister nicht mehr sind.

Güntner, Verena: Power, S.

Irgendwo zwischen skurril, beunruhigend, grotesk und märchenhaft ordnet sich dieses Buch mit seiner Handlung ein. In welche Richtung Verena Güntner am Ende damit wollte, könnte ich selber nicht sagen. Einen wirklichen Angriffspunkt für eine stringente Lesart habe ich leider nicht entdeckt. Für mich eine interessante Stimme mit einem originellen Plot. Vollkommen überzeugt hat es mich dennoch leider nicht, weshalb ich auch nicht glaube, dass Güntner mit Power den Preis der Leipziger Buchmesse erringen wird. Aber vielleicht hat Güntner doch die Power, um mich zu überraschen? Am 12.03 um 16:00 Uhr wissen wir dann mehr, wenn die Jury in der Glashalle der Leipziger Buchmesse verkündet, wer den Preis der Buchmesse erringen konnte.

Diesen Beitrag teilen

Der Blogbuster und ich

eine schwierige Beziehung

Unverhofft kommt oft. Das gilt auch im Bloggerbusiness. So erreichte mich in diesem Jahr kurzfristig die Anfrage von Tobias vom Blog Buchrevier. Dieser betreut auch dieses Jahr wieder den sogenannten Blogbuster-Preis.

Die Idee dahinter: alle Autor*innen, die noch keinen Buchvertrag aber ein Manuskript haben, können es an einen von zehn Bloggerpat*innen schicken. Diese sichten dann alle eingesendeten Manuskripte und entscheiden sich für eines davon. Aus diesen zehn Texten wird eine Longlist erstellt, die im Anschluss von einer Fachjury gesichtet wird (darunter unter anderem Elisabeth Ruge, Knut Cordsen und die Schriftstellerin Alexa von Henning-Lange). Diese küren dann schlußendlich den Siegertext, der anschließend beim Eichborn-Verlag als Buch veröffentlicht wird. So schnell kann es im Optimalfall gehen: vom Text in der Schublade bis zum Bestseller im Buchregal. Zweimal wurde der Blogbuster-Preis schon verliehen, jetzt geht die Suche nach dem besten unveröffentlichten Text in die dritte Runde.

So weit so gut. Doch mit dem Ausstieg von Marc vom Blog Lesen macht glücklich kam ich nun ins Spiel. Vom Beckenrand hinein der Sprung ins kalte Nass der Textsuche. Ich übernahm die an Marc geschickten Manuskripte und bekam obenauf noch einmal weitere Manuskripte zugeteilt. So landete ich am Ende bei 16 Leseprobe, die es zu lesen und zu bewerten galt. Welchen Texten würde ich den Vorzug geben?

Einmal bitte alles

Thematisch war dabei alles breit gefächert. So erreichten mich Jugendromane, ein Superhelden-Thriller, Krimi oder auch ein fiktionales Memoir – einmal quer durchs Gemüsebeet. Auch reichlich skurrile Manuskripte befanden sich unter den Einsendungen, die mir völlig fern lagen. So gab es Liebesromanzen um quickfidele Fotografen, Science Fiction oder Plots, die schon einmal solche Beschreibungen enthielten:

Erzählt wird die Welt eines gescheiterten Frauenhelden, der vergebens auf weibliche Erlösung hofft. Die Geschichte ist ein Versuch über die Liebe in einer hochmobilen Gesellschaft und schnelllebigen Welt voller Gegensätze. Aufgrund seiner chauvinistischen, teils sexistischen Ansichten, taugt der Protagonist, dessen Heilssuche im Schweigekloster der Happening- und Konsumgesellschaft den Spiegel vorhält, zunächst nur als Antiheld … Bis seine Suche in den Armen Gottes endet und die Kraft der selbstlosen Liebe ihn erlöst.

Das war und ist leider alles gar nicht so meins. Zwar honoriere ich die Mühe, die die Autor*innen in ihre Zeilen gesteckt haben wirklich, aber bei manchem Expose musste ich mich doch schon wundern. Auch die vertiefenden Blicke in die Leseproben stellten mich so manches Mal auf die Probe. Stilblüten, Metaphern, schiefe Bilder, verunglückte Vergleiche – hätte ich für jede dieser Trouvaillen eine Süßigkeit bekommen, ich hätte wohl jetzt zu gleichen Teilen Karies, Adipositas und Diabetes.

Wenn die Stilblüten blühen

Es war Weiberfastnacht gegen halb sechs. Seine Freunde feierten in der Kölner Altstadt im Wissen, dem Höhepunkt wie ein Baumstamm auf dem Rhein entgegenzutreiben.

Oder sehr schön auch dieser Romanbeginn:

An einem schönen Sommertag ging Shirin durch diese Tür. War es nicht die andere? Und war das nicht eher so: Es war einmal, dass Shirin durch irgendeine Tür ging? Nein, es war nicht beliebig, es war höchst präzise, dieses Gehen, echt akkurat und verdammt bestimmt. Es war eine äußerst dezidierte Tür, weil Shirin ihrem Tun eine sehr klare Entscheidung vorausschickte, nämlich die, aus ihrem bisherigen Leben erst räumlich, also körperlich, und umgehend auch nichtkörperlich, also im übertragenen Sinne, herauszutreten. An die berühmte und so oft bemühte frische Luft, dorft wo der sogenannte Duft der großen weiten Welt herumwaberte, ohne sich darum zu scheren, ob eine oder einer sich aufmachte, ihn zu erschnüffeln.

Platzende Blasenkatheter, Perioden, die wie Fontänen sprudeln – häufig stieß ich auf unappetitliche Schilderungen aus den unteren Körperregionen und fragte mich, womit ich diese verdient hätte (bespreche ich hier auf dem Blog wirklich so etwas!?). Lebendigmachender Odem, den Protagonisten nach dem Recken und Strecken ihrer Glieder einatmen oder Dergleichen mehr. Bei mir löste das keine Begeisterungsstürme aus. Auch ließen mich lebensnahe Dialoge á la „Das ist doch Mumpitz!“ schnell die Lust an Texten verlieren.

Aber es hat ja auch sein Gutes: durch die Texte und ihre Stärken und Schwächen wurde ich mir einmal mehr gewahr, was ich an Texten schätze. Dialoge, die vom Leben abgeschaut und sinnig in den Text integriert sind. Eine frische Sprache, die auf abgegriffene Sprachbilder verzichtet. Eine Figurenzeichnung, die sich nicht durch das Aufzählen phänotypischer Merkmale erschöpft. Autor*innen, die erzählerisch andere Wege als alle anderen gehen. All das fand ich leider in keinem meiner ursprünglich zugewiesenen Text in so ausreichender Dichte und Qualität. Deshalb geht es für mich nun in Runde 2 des Blogbuster.

Auf zu Runde 2

Denn alle Literaturblogger*innen haben die Möglichkeit, Manuskripte, die sie gut finden, aber selbst nicht ausgewählt haben, in einen Pool zu legen. Und in diesem Pool werde ich nun noch einmal ausgiebig tauchen gehen. Vielleicht finde ich dann das Manuskript, von dem ich überzeugt bin, damit in eine Abstimmung zu gehen. Über den weiteren Verlauf meiner Manuskript-Suche und den Verlauf unseres Blogbusters 2020 halte ich euch natürlich auf dem Laufenden. Mehr in Kürze hier!

Diesen Beitrag teilen

Damiano Femfert – Rivenports Freund

Ein Arzt in einer Klinik im Nirgendwo mit einer Faszination für Schmetterlinge. Und ein gedächtnisloser Mann, der als Patient in das Krankenhaus jenes Arztes eingeliefert wird. Darum dreht sich das Debüt von Damiano Femfert. Eine moderne Adaption des Kaspar-Hauser-Mythos, die leider etwas blass und überraschungsfrei bleibt.


Es ist schon wieder fünfzehn Jahre her. Damals griff die Polizei nächtens in der Grafschaft Kent in England einen jungen Mann im Smoking auf. Völlig vom Regen durchnässt war er durch die Gegend geirrt, bis die Polizei den mysteriösen Patienten in ein Krankenhaus brachte. Die Geschichte erregte weltweit großes Aufsehen. Denn der Mann sprach nicht und schien sein Gedächtnis verloren zu haben. Lediglich als man den Patienten an das Klavier der Krankenhauskapelle setzte, spielte er einigen Zeitungsberichten nach plötzlich ein klassisches Konzert.

Das ist der Stoff, aus dem Legenden sind. Ein junger Mann ohne Erinnerung mit einer Inselbegabung. Ein großes Rätselraten um dessen Identiät und Spuren, die sich im Nichts verlieren. Dass sich die Geschichte am Ende als Fake herausstellte und es zu einigen Unstimmigkeiten in der Darstellung des Falls kam, tat der Faszination um diesen modernen Kaspar Hauser keinen Abbruch. Längst hatte der Fall um den von der Presse Piano Man getauften Mann eine eigene Dynamik bekommen.

Der Piano Man in S.

Auch Damiano Femfert scheint sich von der Geschichte des Piano Man und anderen Amnesiegeschichten Inspiration geholt zu haben. Denn die Geschichte, die er in Rivenports Freund erzählt, weist einige Parallelen zu dem aufsehenerregenden Fall in England auf. Allerdings spielt Femferts Geschichte nicht auf der britischen Insel, sondern 1952 im nördlichen Landstrich Argentiniens, direkt an der Grenze zu Chile. Dort liegt die Kleinstadt S..

In dieser nicht näher beschriebenen Kleinstadt versieht der verwitwete Arzt Rivenport seinen Dienst als Direktor des örtlichen Krankenhauses. Sein wahres Interesse gilt aber der Entomologie, genauer gesagt der Schmetterlingskunde. In der Klassifizierung und der Präparierung seiner gefangenen Exponate findet er die wahre Erfüllung. Sein großes Ziel ist die Einrichtung eines eigenen Schmetterlingsmuseums, für das er einen ehrgeizigen „Generalmarschplan“ verfolgt.

Aber auch im Norden Argentinien trifft Dürrenmatts Diktum zu, der einst bemerkte: „Je planvoller die Menschen vorgehen, desto wirksamer werden sie vom Zufall getroffen.“ Im Falle von Doktor Rivenport trägt der Zufall den Namen Kurt. Dieser Kurt wird nämlich in der argentinischen Wüste in der Nähe des Grenzübergangs nach Chile aufgefunden.

Kurt scheint das Gedächtnis verloren zu haben. Nackt hat man ihn in der aufgegriffen, Dokumente führte er keine mit sich. Auf Kontaktversuche reagiert er nicht, lediglich auf Deutsch angesprochen, äußert er den Namen Kurt. Ansonsten ist der erwachsene Mann wieder in das Stadium eines Kleinkindes zurückgefallen.

Obwohl zunächst völlig ablehnend, weckt der Fall des retardierten Patienten ohne Gedächtnis und Geschichte das Interesse von Rivenport. Denn als man den blonden Mann an die Orgel der kleinen Stadtkirche setzt, ereignet sich fast so etwas wie ein Wunder. Obwohl er sich kaum ausdrücken kann, spielt der Gedächtnislose plötzlich ein Konzert, das alle Anwesenden ins Staunen versetzt: Buxtehude, Pachelbel und Bach intoniert der Patient in einer Qualität, die so zuvor noch nie in S. zu hören war.

Wer ist Kurt?

In der Folge begeben sich Rivenport und wir Leser*innen mit ihm auf die Suche nach dem Geheimnis des Mannes. Woher kommt er? Was hat ihn in die Einöde Nordargentiniens verschlagen? Nachdem die Polizei sehr passiv bleibt, ergreift Rivenport selbst die Initiative und betätigt sich als Schmalspur-Ermittler.

Leider gelingt es Damiano Femfert dabei nicht, mich als Leser mit dem Geheimnis von Kurt auf irgendeine Art und Weise zu überraschen – [Achtung, wer das Buch noch nicht gelesen hat – es folgt ein Spoiler!]. Ein blonder, blauäugiger und deutsch sprechender Mann 1952 in Argentinien, der vor irgendetwas geflohen ist. Schon bei der Lektür des Klappentextes weckte das bei mir Assoziation zu der in Südamerika endenden Rattenlinie im Zweiten Weltkrieg. Ebenso kam mir unmittelbar das Buch Das Verschwinden des Josef Mengele von Olivier Guez in den Sinn. Und genauso, wie ich mir das schon vor Beginn des Buchs ausmalte, kommt es dann auch. Hier platzt keine Bombe, hier explodiert höchstens ein Knallbonbon.

Schade ist es auch, dass die Fragen und Erkenntnisse, die Rivenport aus dem Geheimnis Kurts ziehen könnte, auf ein paar wenigen Seiten abgearbeitet werden. Die Geschichte des retardierten Patienten hätte zu einer goßen Reflektion eingeladen: Wie gehen wir miteinander um eingedenk dessen, was oder was wir nicht übereinander wissen? Wann hat man Schuld verbüßt? Kann es überhaupt so etwas wie Sühne geben? Viele Fragen, die sich angeboten oder fast aufgedrängt hätten. Leider reizt Femfert dieses seiner Geschichte innewohnende Potenial überhaupt nicht aus.

Statt sich den Überlegungen zu stellen und verändert aus der erlebten Gschichten herauszugehen, kehrt Rivenport wieder zu seinen Schmetterlingen zurück. Der Generalmarschplan wartet ja schließlich nicht. Der Erkenntnisgewinn für den Doktor (und auch für mich) beläuft sich eher auf null.

Nicht genutzte Chancen

Damiano Femfert vergibt in Rivenports Freund die Chance, den Text mit stärkerer Bedeutung und philosophischer Tiefe anzureichern. Stattdessen begnügt sich Femfert damit, einfach seine Geschichte zu erzählen.

Das ist ja auch durchaus legitim, allerdings gibt es auch hier neben dem etwas zähen Tempo in der Mitte des Buchs auch andere leichte Schwächen, die für mich ins Gewicht fallen.

Das Personal, mit dem Femfert seinen Roman besetzt, bleibt recht eindimensional. Abgesehen von Rivenport und Kurt bekommt keine der Figuren Tiefe. Die Polizisten sind faul, die Nonnen Frömmlerinnen, die Zugehfrau ein Hausdrache, die Kollegen im Krankenhaus haben nicht viel mehr als Namen abbekommen. Nach einem Bordellbesuch winselt und heult Rivenports verheirateter Kollege beispielsweise und rennt die ganze Zeit im Kreis (S. 207). Ein bisschen raffinierter dürfte die Charakterisierung der Figuren für meinen Geschmack da schon ausfallen.

Und auch die Sprache Femferts wirkt stellenweise etwas abgegriffen. So macht man sich im Buch gegenseitig die Hölle heiß, Menschen taumeln wie Motten in das Licht, der Blondschopf gibt dem Doktor Rätsel auf, man erlebt verflixte Morgen, im Verhör nimmt Rivenport Kurt hart ran. Das kann man alles so schreiben. Für mich, der ich eine gehobene Sprache, frische Formulierungen und kreative Sprachbilder schätze, war das Buch in dieser Hinsicht leider etwas enttäuschend.

Hätte Femferts Buch die Fragen nach Schuld und Sühne vertieft behandelt oder das Thema der Metamorphose im Buch weiterverfolgt (Schmetterlinge als Leitmotive, Menschen, die sich als etwas entpuppen und Entwicklungen durchmachen, etc.), dann wäre sein Debüt für mich überzeugender ausgefallen, als es jetzt der Fall ist. Nichtsdestotrotz stellt sich mit Damiano Femfert hier ein Autor vor, der als Erstling einen soliden Unterhaltungsroman und eine moderne Kaspar-Hauser-Adaption vorgelegt hat und der sicher noch von sich reden macht.

Diesen Beitrag teilen