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Leila Mottley – Nachtschwärmerin

Leila Mottley geht in ihrem Debüt Nachtschwärmerin dahin, wo es weh tut. Sie beobachtet den Kampf einer Teenagerin um ein geregeltes Leben für sich und ihren Bruder – und lässt sie an am Sozialsystem der USA, an Korruption, Ausgrenzung und Machtmissbrauch scheitern. Ein sozialkritischer Roman ohne viel Hoffnung.


Oakland, die drittgrößte Stadt in der San Francisco Bay Area. Hier lebt die siebzehnjährige Kiara und ihr älterer Bruder Marcus in einer heruntergekommenen Wohnanlage namens Royal Hi. Royal ist hier allerdings gar nichts. An allen Ecken und Enden herrscht Verwahrlosung, sowohl bei der Anlage selbst als auch bei deren Bewohnern, für die das Hi im Namen der Wohnanlage eher für „High“ steht. Der Pool der Anlage riecht nach Exkrementen, cracksüchtige Bewohner*innen hausen dort – und Kiara muss sich neben ihrem Bruder Marcus auch um das Kind einer dieser Cracksüchtigen kümmern, die sich irgendwo in Oakland herumtreibt, statt sich um ihr Kind zu kümmern.

In den Baracken von Oakland

Die Eltern von Kiara und Marcus sind beide abwesend – die Gründe dafür erklärt Lila Mottley später im Buch. Und so ist der ferne Onkel Ty das einzige greifbare Familienmitglied, der zum leuchtenden Idol für Marcus wird, hat dieser es doch als Rapstar aus der erbärmlichen Umgebung des Royal Hi hinaus in die besseren Viertel von Oakland geschafft. Doch Ty will mit den Kindern seiner Schwester nichts zu tun haben.

Leila Mottley - Nachtschwärmerin (Cover)

Schon zu Beginn spitzt sich die Lage dramatisch zu, als den beiden jungen Erwachsenen eine Mieterhöhung ins Haus steht, die sie nicht bezahlen können. Marcus verbringt seine Tage lieber im Musikstudio eines Freundes, um seinem Onkel nachzueifern und Rap-Tracks aufzunehmen, ohne etwas zur Haushaltskasse beizutragen. Und Kiara bekommt aufgrund ihres Alters und fehlenden Lebenslaufs beruflich kein Bein auf den Boden. So etwas wie ein sichernde Sozialsystem gibt es für sie gar nicht. Und so geht sie den einzigen Schritt, der ihr bleibt: den in die Prostitution.

Sie verkauft ihren Körper, um ihren Bruder und sich durchzubringen, denn auf ihre Familie kann sie nicht vertrauen. Doch dabei gerät sie in die Fänge der Polizeibehörde, nachdem sie sie von Officers ertappt wird, als sie sich prostituiert. Diese erpressen sie, damit sie ihnen und anderen Gesetzeshütern in Oakland fortan zur Verfügung steht und drängen sie damit in ein verhängnisvolles System aus Unterdrückung und Machtmissbrauch, aus dem Kiara aus eigener Kraft kaum herausfindet. Mal geben ihr die Polizeiangehörigen etwas Geld, mal behaupten sie, dass der widerwillige Sex mit ihnen sie vor einer Verhaftung schützen würde. Aus eigener Kraft schafft es Kiara kaum mehr heraus aus diesem System.

Ein bestürzendes Bild des amerikanischen Prekariats

Das Bild, das Leila Mottley vom amerikanischen Prekariat zeichnet, ist bestürzend. Fernab von sonnengesättigter kalifornischer Lässigkeit zeigt die gerade einmal 23 Jahre alte Autorin eine nachtschwarze Welt, in der es so etwas wie Hoffnung fast gar nicht gibt. Man haust in heruntergekommenen Appartements, Kinder werden vernachlässigt und das Aufstiegsversprechen des amerikanischen Traums gilt für das Personal in Nachtschwärmerin auch nicht, wenngleich Onkel Ty mit seinem Raperfolg die Ausnahme ist, die die Regel bestätigt.

Leila Mottley überrascht in ihrem Buch mit Gnadenlosigkeit und einem bestechend genaue Blick auf dieses System, bei dem mittellose Schwarze wie Kiara und ihr Bruder schnell durchs Raster fallen. Auch legt sie in den Finger der Wunde namens Korruption, die bei vielen Polizeibehörden in Amerika leider schwärt und immer wieder für Schlagzeilen sorgt. So schreibt sie im Nachwort zu Nachtschwärmerin:

2015 war ich ein junger Teenager in Oakland, als ein Artikel Aufsehen erregte, der beschrieb, wie Mitglieder des Oakland Police Department und mehrerer anderer Polizeibehörden in der Bay Area sich an der sexuellen Ausbeutung einer jungen Frau beteiligt und versucht hatten, es zu vertuschen.

Dieser Fall entwickelte sich über Monate und Jahre, und auch als das mediale Interesse abflaute, rätselte ich weiter über diese Geschehnisse, über diese Mädchen und über all die anderen Mädchen, die keine Schlagzeilen machten, obwohl sie ebenso die Grausamkeit dessen erfuhren, was die Polizei dem Körper, dem Geist und der Seele eines Menschen antun kann. Neben diesem einen Fall, der es in die Nachrichten schaffte, gab und gibt es Dutzende weitere Fälle von Sexarbeiter*innen und jungen Frauen, die Gewalt durch die Polizei erfahren und deren Geschichten unerzählt bleiben, die keinen Gerichtsprozess erleben und die diesen Situationen nicht entkommen. Aber wir kennen nur wenige von diesen Fällen.

Leila Mottley – Nachtschwärmerin, S. 410

Das Anliegen, auf diese Fälle hinzuweisen und den unmenschlichen Umgang mit den Opfern aufzuzeigen, löst Leila Mottley gelungen, indem sie Kiara alle Stationen ihrer Via Dolorosa abschreiten lässt, bis hin zum Prozess, in dem alles kulminiert.

Fazit

Die junge Autorin erinnert mit ihrem sozialkritischen Blick an andere Werke wie etwa Liz Moores Long bright river, in dem ebenfalls tief in die Abgründe der amerikanischen Gesellschaft geblickt wird. Erbaulich ist das natürlich nicht, eher erschütternd und ohne viel Hoffnung. Aber solche Literatur braucht es. Literatur, die dorthin blickt, wo man sich lieber abwendet und die die Realität an den Rändern der Gesellschaft in den Blick nimmt, auf dass diese Realität Veränderung erfahre!


  • Leila Mottley – Nachtschwärmerin
  • Aus dem Englischen von Yasemin Dincer
  • ISBN 978-3-7530-0058-9 (Ecco)
  • 416 Seiten. Preis: 22,00 €
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Michael Crummey – Die Unschuldigen

Die Einöde Neufundlands, irgendwann um 1800 herum. Mitten in der menschenfeindlichen Umgebung aus zerklüfteter Küste, Eis und Einsamkeit – ein minderjähriges Geschwisterpaar. Von ihrem Kampf ums Überleben und ihrem Zusammenleben erzählt der Kanadier Michael Crummey in seinem Debüt Die Unschuldigen.


Werden Kinder heute in jungem Alter zu Waisen, ist da ein umfangreiches Netz aus Verwandten und staatlichen Stellen, das sich ihrer annimmt und um ihr Wohl kümmert. Doch zweihundert Jahre zuvor war es um solche Kinder deutlich schlechter bestellt. Nicht nur Charles Dickens beleuchtet die soziale Realität in seinen Büchern das Schicksal von Waisenkindern eindrücklich. Was ist aber, wenn man noch einmal einen Schritt weitergeht und das soziale Netz der Zivilisation, wie durchlässig es auch immer sein mag, weglässt? Davon erzählt Michael Crummey, der seine Geschichte um zwei Geschwister in der absoluten Einöde Neufundlands ansiedelt.

Michael Crummey - Die Unschuldigen

Dort, an der Küste leben Evered und seine Schwester Ada. Die Eltern verdienen ihr kärgliches Brot mit dem Fang und Pökeln von Fisch, den sie an die jährlich vorbeisegelnde Crew eines Schiffes verkaufen, Im Gegenzug dazu erhalten sie Ressourcen für ihr Überleben draußen in der menschenfeindlichen Umgebung. Von allem ist stets zu wenig da, der Wind pfeift erbarmungslos über die Hütte, im Winter ist vor lauter Schnee und Eis nicht an Arbeiten zu denken. Irgendwie schlägt sich die Familie allerdings durch – bis kurz hintereinander die kleine Schwester, Mutter und Vater sterben. Evered und Ada bleiben als Waisen zurück. In die nächstgelegene Stadt wollen die beiden nicht. Sie versuchen, die Arbeit ihrer Eltern fortzuführen und dem Schicksal zu trotzen. Dabei ist Evered erst elf Jahre alt, seine Schwester sogar noch zwei Jahre jünger.

Eine wuchtige Geschichte

Gemeinsam nehmen sie die Arbeit in den Schären auf, versuchen sich das Handwerk des Fischfangs und elementare handwerkliche Fähigkeiten selbst beizubringen. Ihre größten Gegner sind Hunger, die unwirtliche Landschaft vor ihrer Hüttentür und die Einsamkeit.

Dieses Leben oder eher Überleben fängt Michael Crummey mit wuchtigen Bildern und einer Sprache ein, die die Härte des Lebens illustriert. So bezeichnet Evered seine Schwester schon einmal als „Pisstrine“ (Übersetzung aus dem kanadischen Englisch durch Ute Leibmann). Manche Szenen erfordern einen robusten Magen, etwa wenn die beiden ein verunglücktes Schiff durchsuchen und an Bord auf einige unappetitliche Szenen stoßen.

Auch zeigt der Kanadier die limitierte Erlebnis- und Vorstellungswelt der beiden. So erleidet ein Schoner in den Schären vor ihrem Zuhause Schiffbruch. In der Folge werden Dinge wie ein Fernglas oder ein runder, wohlschmeckender Laib angespült. Den Geschwistern fehlt ein Wort für diese Köstlichkeit, bis sie später von Gästen in ihrer Hütte über den Namen der Leckerei aufgeklärt werden: Käse.

Wie es sich angefühlt haben muss, dieses Überleben in der Einsamkeit Neufundlands, in Die Unschuldigen lässt es sich eindrucksvoll erleben. Das Buch ist wuchtig und beobachtet nicht zuletzt auch die Frage von Einsamkeit, Erwachsenwerden und Begehren sehr direkt. Ohne zu viel verraten zu wollen: die im Buch beschriebene Welt ist mit unserer heutigen moralischen Welt und unseren gesellschaftlichen Regeln nicht wirklich deckungsgleich. Aber das ist es ja auch, was Literatur sollte. Uns andere Welten mit anderen Regeln präsentieren – und die Wertung derselben dem mündigen Leser überlassen. Beziehungsweise der mündigen Leserin. Und das gelingt Michael Crummey in seinem Buch ausnehmend gut.

Fazit

Crummeys Buch avancierte in Kanada zum Bestseller, erhielt einige Preise – und das zurecht. Die Unschuldigen ist ein besonderes Buch, das plastisch und präzise das Schicksal der Waisenkinder in einer unwirtlichen und erbarmungslosen Umgebung schildert. Vergleiche etwa mit Ian McGuires Nordwasser sind nicht falsch. Eine raue, archaische Welt nahe des ewigen Eises, der Kampf ums Überleben, der hohe Opfer erfordert und Taten, die gegen unseren ethischen Kodex verstoßen. Das alles findet man in Michael Crummeys Buch. Lektüre mit Wucht.

  • Michael Crummey – Die Unschuldigen
  • Aus dem kanadischen Englisch von Ute Leibmann
  • ISBN: 978-3-8479-0052-8 (Eichborn-Verlag)
  • 351 Seiten. Preis: 22,00 €
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Rye Curtis – Cloris

Es gibt hilfreichere Dinge als ein paar Karamellbonbons, einen Stiefel und eine Bibel, um damit einen Flugzeugabsturz zu überleben. Doch genau damit muss die Seniorin Cloris Waldrip im gleichnamigen Roman von Rye Curtis überleben. Dieser erzählt in seinem Debüt von zwei ganz unterschiedlichen Frauen, dem Überleben in der Wildnis und dem, was uns durchhalten lässt, wenn alles auswegslos scheint (übersetzt von Cornelius Hartz).


Eigentlich eine schöne Idee, die der Ehemann von Cloris Waldrip da hatte. Das texanische Paar wollte einen Rundflug über die Bitterroot Mountains im Nordwesten der USA unternehmen. Doch dann stürzt das Kleinflugzeug ab. Ihr Mann und der Pilot sterben noch an der Unfallstelle. Wie durch ein Wunder überlebt allerdings Cloris und muss sich nun in der Wildnis der größten Aufgabe ihres Lebens stellen – der zu überleben. Die alte Dame nimmt den Kampf an und macht sich auf den Weg zurück in die Zivilisation, bewaffnet mit einer Bibel, Karamellbonbons und einem Stiefel ihres verstorbenen Mannes.

Derweil verbeißt sich die alkoholkranke Rangerin Debra Lewis in die Suche nach Cloris. Während die Öffentlichkeit und auch Lewis‘ Kollegen davon ausgehen, dass auch Cloris den Absturz nicht überlebt hat und in der Wildnis verstorben ist, folgt Debra ihren eigenen Instinkten. Zusammen mit einem Suchtrupp, einem Flugzeugpiloten und einer stets mit Merlot gefüllten Trinkflasche organisiert sie die Suche nach Cloris.

In der Wildnis der Bitterroot Mountains

Es sind zwei ungewöhnliche Heldinnen, die sich Rye Curtis für sein Debüt ausgesucht hat. Während Cloris uns ihr Schicksal per Nacherzählung schildert, unterbricht immer wieder die Gegenperspektive in Form von Debras Suchaktion die Erzählung. Die beiden Figuren nähern sich in der Wildnis der Bitterroot Mountains immer näher an. Doch da ist auch noch eine dritte, prominente Figur, die in der unzugänglichen Bergregion umherstreift. Es handelt sich um einen maskierten Mann, der Cloris immer wieder beisteht und ihr Überleben dort droben am Berg sichert. Wer ist dieser Mensch? Eine Erscheinung oder eine ganz weltliche Figur?

Rye Curtis - Cloris (Cover)

Lange Zeit ist nicht sicher, worum es sich bei dem Fremden handelt (wenngleich die meisten Leser*innen recht früh eine Ahnung haben dürften). Nicht nur diese Figur wird sich am Ende als sperrig und nicht so leicht einordenbar erweisen. Auch Cloris und Debra sind zwei Figuren, die durchaus Ecken und Kanten besitzen. So erinnerte mich persönlich die Merlot trinkende Rangerin stark an einge von Frances McDormand verkörperte Frauenfiguren, etwa Mildred Hayes in Three Billboards outside Ebbing, Missouri.

Wie es Rye Curtis gelingt, sich die Perspektiven der beiden Frauen anzunehmen, das ist für einen derart jungen Schriftsteller wirklich beeindruckend. Er verleiht den beiden Frauen unterschiedliche und überzeugende Stimme. Auch gelingt es ihm, die Wildnis der Bitterroot Mountains mitsamt der Berglöwen und Unbill der Natur eindrucksvoll einzufangen. Wie die alte Dame Cloris dort kämpft, sich (unterstützt durch den maskierten Mann) durchschlägt, und wie auch Debra Lewis unbeirrt ihr Ziel der Rettung von Cloris unbeirrt verfolgt, das macht dieses Buch so beeindruckend.

Fazit

Gewiss: bequem und glattgezogen ist das alles nicht. Rye Curtis Buch ist gefährlich. So manches Mal ist ein starker Magen vonnöten und gefällig ist Cloris auch nicht immer. Eben ganz genauso, wie es die Natur dort in der Einöde Nordamerikas auch ist. Hier schreibt ein junger Autor mit einer Stimme, die aufhorchen lässt. Ein Buch voller souveräner Frauen im Mittelpunkt, die sich nicht beirren lassen. Literatur der Marke „Originell, kantig, und bleibt im Kopf“.


  • Rye Curtis – Cloris
  • Aus dem Englischen von Cornelius Hartz
  • ISBN 978-3-406-75535-4 (C.H. Beck)
  • 352 Seiten, 24,00 €
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Draußen zuhause

Mick Kitson – Sal

Dieses Buch kann man (zumindest meine Wenigkeit) nicht lesen, ohne an ein weiteres, vor kurzem erschienenes Buch zu denken: Wie ein Zwilling wirkt Gabriel Tallents Mein Ein und Alles im Vergleich zu Mick Kitsons Buch Sal.

In beiden Bücher steht ein junges Mädchen im Mittelpunkt des Romans. Beide erfahren sexuellen Missbrauch und beide reagieren auf ähnliche Art und Weise: Flucht in die Natur, Entgrenzung und Heilung inmitten von Wäldern, Flüssen und Bäumen. Dabei wenden sie sich von der Welt der Erwachsenen ab und entwickeln ganz eigene Kräfte im Kampf ums Überleben.

Fast könnte man schon von einer neuen Welle der Jack-Wolfskin-Literatur sprechen; Romantik 2.0, Draußen zuhause. In einer Zeit von Waldbaden und Wanderboom scheint das nur logisch. Doch was kann Mick Kitsons Sal, gerade wenn man Mein Ein und Alles als Vergleichstitel neben das Debüt des Briten legt?

Hänsel und Gretel in den Wäldern Schottlands

Im Vergleich beider Bücher gewinnt Sal für mich deutlich. Denn da wo Gabriel Tallent durch permanente Überreizung und Voyeurismus negativ auffällt, da ist Mick Kitson deutlich dezenter, ohne weniger eindrücklich zu sein. Die Geschichte der 13-jährigen Sal und ihrer zehnjährigen Schwester Peppa, die ihr Elternhaus hinter sich lassen, um in die schottische Einöde zu fliehen, ist auch krass, zweifelsohne. Doch ergeht sich Kitson nicht in seitenlangen Beschreibungen des Missbrauchs, sondern ihm genügen wenige knappe Szenen dafür. Auch so überträgt sich ein Mitgefühl und eine Bindung auf den Leser. Wie in einer modernen Adaption des Hänsel-und-Gretel-Mythos verfolgt man das Überleben der beiden so jungen Schwestern und drückt den beiden die Daumen, auch oder trotz der Geschichte, die hinter ihnen liegt.

Auch ist Kitsons Buch 100 Seiten kürzer als Tallents Buch und hat doch die perfekte Länge für die Geschichte, die der Brite erzählen will. Die Figuren werden plastisch geschildert, die Geschichte ist nicht rührselig sondern faszinierend und auch die Natur kommt trotz aller menschlichen Dramen, die im Vordergrund stehen, nicht zu kurz. Zwar wirkt die Außengestaltung von Sal wie eine Tatonka-Werbung, aber die Gesamtstimmung des Buchs trifft sie ganz gut. Kitsons Geschichte erreicht eine Tiefe, ohne in Untiefen abzugleiten. Eine britische Hänsel- und Gretel-Adaption, die auf der aktuellen Outdoor-Welle mitschwimmt, aber stets Oberwasser hat.

[Übersetzt wurde das Buch von Maria Hummitzsch und ist bei Kiepenheuer&Witsch erschienen. ISBN 978-3-462-05140-7, Preis: 20,00 €]

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Ein Land im freien Fall

Karina Sainz Borgo – Nacht in Caracas

Wir waren kein Land mehr, wir waren eine Klärgrube.

Sainz Borgo, Karina: Nacht in Caracas, S. 107

Venezuela, Caracas: was weiß man schon über dieses Land und seine Hauptstadt? Am ehesten hat man noch Hugo Chavez oder seinen Nachfolger, Nicolas Maduro, vor Augen, immer im Trainingsanzug. Schimpfen auf Amerika, Aufstände im Land, Kämpfe mit dem Oppositionsführer Nicolas Guaidó. Nahrungsmittelknappheit, Revolten und das trotz oder aufgrund der besonders reichen Erdölvorkommen. Aber abseits von diesen reichlich schwammigen Eindrücken? Karina Sainz Borgos Debüt Nacht in Caracas gibt da Nachhilfe.

In ihrem Buch schildert sie das Leben ihrer Ich-Erzählerin Adelaida Falcon. Zu Beginn des Romans muss sie ihre Mutter zu Grabe tragen, und schon diese normale Aufgabe ist alles andere als einfach. Für ihre Mutter wie für Adelaida galt: zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig. Aufgrund der Hyperinflation ist das Geld entwertet, die Korruption grassiert. So ist ein menschenwürdiges Begräbnis kaum möglich, was auch die junge Frau aus Caracas am eigenen Leib erfahren muss.

In den Straßen von Caracas

Sie lebt in einem Moloch in den Straßen von Caracas. Die Armut greift um sich, Banden kontrollieren sogar die Abgabe von solchen Dingen wie Monatsbinden. Drinnen verschanzt man sich in den Wohnungen, während draußen der Bürgerkrieg tobt. Die Hijos de la Revolucion, eine Art staatlich legitimierter Schlägerbande, machen das Leben unsicher, erpressen, brandschatzen und morden. Wer kann, der verlässt das Land oder versucht, irgendwie zu überleben.

Diese Überlebenskämpfe in einer so menschenfeindlichen Umgebung, diese fängt Sainz Borgo wirklich beeindruckend ein. Die Armut, die omnipräsente Furcht und Gewalt, die Gefahr, in der die Menschen schweben – es liest sich so bedrückend wie eingängig. Immer wieder fallen Sätze, die den Atem stocken lassen aufgrund ihrer Eindrücklichkeit und Bildhaftigkeit:

Darauf reduzierte sich inzwischen das Leben: auf die Jagd gehen und lebendig zurückkehren. Darin bestanden unsere elementarsten Handlungen, sogar das Beerdigen unserer Toten.

Sainz Borgo, Karina: Nacht in Caracas, S. 16

In schnellen Kapiteln, machmal fast impressionistisch hingetupft, schafft Karina Sainz Borgo ein beeindruckendes Porträt eines Landes im freien Fall. Sie setzt in der Figur von Adelaida Falcón dem Überlebenswillen der einfachen Bevölkerung ein Denkmal und zeigt, was die Bolivarische Revolution in diesem so ressourcenreichen Land angerichtet hat. Keine Wohlfühllektüre, aber ungemein eindringlich, gut geschrieben und nachdenkenswert.

Ins Deutsche übertragen wurde dieser Roman von Susanne Lange.

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