Tag Archives: Überleben

Draußen zuhause

Mick Kitson – Sal

Dieses Buch kann man (zumindest meine Wenigkeit) nicht lesen, ohne an ein weiteres, vor kurzem erschienenes Buch zu denken: Wie ein Zwilling wirkt Gabriel Tallents Mein Ein und Alles im Vergleich zu Mick Kitsons Buch Sal.

In beiden Bücher steht ein junges Mädchen im Mittelpunkt des Romans. Beide erfahren sexuellen Missbrauch und beide reagieren auf ähnliche Art und Weise: Flucht in die Natur, Entgrenzung und Heilung inmitten von Wäldern, Flüssen und Bäumen. Dabei wenden sie sich von der Welt der Erwachsenen ab und entwickeln ganz eigene Kräfte im Kampf ums Überleben.

Fast könnte man schon von einer neuen Welle der Jack-Wolfskin-Literatur sprechen; Romantik 2.0, Draußen zuhause. In einer Zeit von Waldbaden und Wanderboom scheint das nur logisch. Doch was kann Mick Kitsons Sal, gerade wenn man Mein Ein und Alles als Vergleichstitel neben das Debüt des Briten legt?

Hänsel und Gretel in den Wäldern Schottlands

Im Vergleich beider Bücher gewinnt Sal für mich deutlich. Denn da wo Gabriel Tallent durch permanente Überreizung und Voyeurismus negativ auffällt, da ist Mick Kitson deutlich dezenter, ohne weniger eindrücklich zu sein. Die Geschichte der 13-jährigen Sal und ihrer zehnjährigen Schwester Peppa, die ihr Elternhaus hinter sich lassen, um in die schottische Einöde zu fliehen, ist auch krass, zweifelsohne. Doch ergeht sich Kitson nicht in seitenlangen Beschreibungen des Missbrauchs, sondern ihm genügen wenige knappe Szenen dafür. Auch so überträgt sich ein Mitgefühl und eine Bindung auf den Leser. Wie in einer modernen Adaption des Hänsel-und-Gretel-Mythos verfolgt man das Überleben der beiden so jungen Schwestern und drückt den beiden die Daumen, auch oder trotz der Geschichte, die hinter ihnen liegt.

Auch ist Kitsons Buch 100 Seiten kürzer als Tallents Buch und hat doch die perfekte Länge für die Geschichte, die der Brite erzählen will. Die Figuren werden plastisch geschildert, die Geschichte ist nicht rührselig sondern faszinierend und auch die Natur kommt trotz aller menschlichen Dramen, die im Vordergrund stehen, nicht zu kurz. Zwar wirkt die Außengestaltung von Sal wie eine Tatonka-Werbung, aber die Gesamtstimmung des Buchs trifft sie ganz gut. Kitsons Geschichte erreicht eine Tiefe, ohne in Untiefen abzugleiten. Eine britische Hänsel- und Gretel-Adaption, die auf der aktuellen Outdoor-Welle mitschwimmt, aber stets Oberwasser hat.

[Übersetzt wurde das Buch von Maria Hummitzsch und ist bei Kiepenheuer&Witsch erschienen. ISBN 978-3-462-05140-7, Preis: 20,00 €]

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Ein Land im freien Fall

Karina Sainz Borgo – Nacht in Caracas

Wir waren kein Land mehr, wir waren eine Klärgrube.

Sainz Borgo, Karina: Nacht in Caracas, S. 107

Venezuela, Caracas: was weiß man schon über dieses Land und seine Hauptstadt? Am ehesten hat man noch Hugo Chavez oder seinen Nachfolger, Nicolas Maduro, vor Augen, immer im Trainingsanzug. Schimpfen auf Amerika, Aufstände im Land, Kämpfe mit dem Oppositionsführer Nicolas Guaidó. Nahrungsmittelknappheit, Revolten und das trotz oder aufgrund der besonders reichen Erdölvorkommen. Aber abseits von diesen reichlich schwammigen Eindrücken? Karina Sainz Borgos Debüt Nacht in Caracas gibt da Nachhilfe.

In ihrem Buch schildert sie das Leben ihrer Ich-Erzählerin Adelaida Falcon. Zu Beginn des Romans muss sie ihre Mutter zu Grabe tragen, und schon diese normale Aufgabe ist alles andere als einfach. Für ihre Mutter wie für Adelaida galt: zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig. Aufgrund der Hyperinflation ist das Geld entwertet, die Korruption grassiert. So ist ein menschenwürdiges Begräbnis kaum möglich, was auch die junge Frau aus Caracas am eigenen Leib erfahren muss.

In den Straßen von Caracas

Sie lebt in einem Moloch in den Straßen von Caracas. Die Armut greift um sich, Banden kontrollieren sogar die Abgabe von solchen Dingen wie Monatsbinden. Drinnen verschanzt man sich in den Wohnungen, während draußen der Bürgerkrieg tobt. Die Hijos de la Revolucion, eine Art staatlich legitimierter Schlägerbande, machen das Leben unsicher, erpressen, brandschatzen und morden. Wer kann, der verlässt das Land oder versucht, irgendwie zu überleben.

Diese Überlebenskämpfe in einer so menschenfeindlichen Umgebung, diese fängt Sainz Borgo wirklich beeindruckend ein. Die Armut, die omnipräsente Furcht und Gewalt, die Gefahr, in der die Menschen schweben – es liest sich so bedrückend wie eingängig. Immer wieder fallen Sätze, die den Atem stocken lassen aufgrund ihrer Eindrücklichkeit und Bildhaftigkeit:

Darauf reduzierte sich inzwischen das Leben: auf die Jagd gehen und lebendig zurückkehren. Darin bestanden unsere elementarsten Handlungen, sogar das Beerdigen unserer Toten.

Sainz Borgo, Karina: Nacht in Caracas, S. 16

In schnellen Kapiteln, machmal fast impressionistisch hingetupft, schafft Karina Sainz Borgo ein beeindruckendes Porträt eines Landes im freien Fall. Sie setzt in der Figur von Adelaida Falcón dem Überlebenswillen der einfachen Bevölkerung ein Denkmal und zeigt, was die Bolivarische Revolution in diesem so ressourcenreichen Land angerichtet hat. Keine Wohlfühllektüre, aber ungemein eindringlich, gut geschrieben und nachdenkenswert.

Ins Deutsche übertragen wurde dieser Roman von Susanne Lange.

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Jo Baker – Ein Ire in Paris

Samuel Beckett: zerknautschtes Gesicht, Irland, Warten auf Godot. So die Schlagwörter, die mir als erstes in den Sinn kommen, wenn es um den irischen Nationalheiligen geht. Doch die Geschichte hinter dem gezeichneten Gesicht blieb für mich immer abstrakt – bis ich nun Jo Bakers Annäherung an den irischen Poeten las. Ein Ire in Paris erzählt vom Frankreich-Aufenthalt Becketts, ohne dass je dessen Name selbst fällt. Der Roman zeigt einen Künstler im Widerstand, den die Umstände und Erlebnisse formen und schließlich richtungsweisend für sein literarisches Schaffen werden.

Ein Ire in Paris von Jo Baker

Denn der junge Beckett entschließt sich zu einem radikalen Schritt, als die Nachricht von der Kriegserklärung Englands an Deutschland in sein irisches Elternhaus vordringt. Er kehrt zurück nach Frankreich, um dort in den Künstlerkreise um Marcel Duchamp und den großen James Joyce zu leben. Zusammen mit seiner Freundin Suzanne verharrt er in der Paris, auch als die deutschen Truppen auf die französische Hauptstadt vorrücken. Doch die Umstände erfordern es, dass Beckett mit seiner Partnerin aus Paris fliehen muss. Das Vichy-Régime kooperiert unter General Pétain – und Beckett findet für sich einen Weg, um mit der Situation umzugehen. Er schließt sich der Résistance an und leistet so seinen Beitrag zum Widerstand gegen die Nationalsozialisten. Doch sein Leben fordert einen hohen Preis von ihm und seiner Freundin. Der Kampf ums Überleben wird essenziell für Beckett.

Doch bei all dem Leid und den Erfahrungen, die Beckett im Krieg macht, stellt sich eine zentrale Frage: wie kann man als Schriftsteller bestehen, wenn um einen herum die Welt untergeht? Eine interessante Frage, der sich auch schon Hans Pleschinski in Wiesenstein auf großartige Art und Weise genähert hat. Nun gibt auch die Britin Jo Baker auf diese Frage eine ganz eigene Antwort. Nach ihrem ersten Buch Im Hause Longbourn (in dem sie Stolz und Vorurteil aus Sicht des Gesindes erzählt) widmet sie sich also diesem verschrobenen und unzugänglich Samuel Beckett. Ihr gelingt dabei auf der einen Seite eine glaubwürdige Darstellung von Frankreich zur Zeit des Vichy-Regimes und des Widerstandes, und auf der anderen Seite auch eine Annäherung an Beckett. Ihr Buch ist mit düsteren Farben gemalt, Hoffnung und Positives findet sich in ihrer Erzählung kaum. Stattdessen erzählt sie vom kargen Überlebenskampf, bei dem in Paris sogar die Bäume an den  Boulevards gefällt und die Bretter der verbarrikadierten Geschäfte zum Heizen genutzt wurden.

Wer das gut abkann und auch mal ein Buch in Moll verträgt, das wenig Zerstreuung bietet, der bekommt mit Ein Ire in Paris einen faszinierenden Blick hinter die Fassade der literarischen Gallionsfigur Samuel Beckett geboten. Hier wird der Nobelpreisträger greifbar, erhält eine Geschichte und man bekommt davon erzählt, was Widerstand bedeuten kann.

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Deon Meyer – Fever

„Es gab keine Gerechtigkeit im Universum. Als das Fieber kam, stand Dortmund auf dem zweiten Tabellenplatz, sie hätten Meister werden können. Thomas Tuchel war ihr Trainer. Ein verdammtes Genie …“ (Meyer, Deon: Fever, S. 230)

Der BVB und die Frage der Meisterschaft – das kann auch schon einmal in der Apokalypse enden, wie der südafrikanische Starautor Deon Meyer in seinem Buch Fever zeigt. Denn die Welt, wie wir sie kennen existiert im neuen Buch des Krimiautors nicht mehr, Grund dafür ist eine Fieberepidemie, die nahezu die komplette Bevölkerung ausgelöscht hat. Während sich die Flora und Fauna ihre Lebensräume zurückerobert, sind es nur wenige Menschen, die die Katastrophe überlebt haben.

Solche Überlebenden sind Nico und sein Vater Willem Storm, die in einem Truck durch Südafrika reisen, auf der Suche nach anderen Überlebenden und einem Plan in der Hinterhand. So schildert es uns Nico, der als Erzähler fungiert und uns eine Chronik des Untergangs und des Neuanfangs präsentiert. Wer sich hier an Cormac McCarthys Die Straße erinnert fühlt, liegt nicht ganz falsch. Das Thema vom Vater und seinem Sohn und deren Kampf ums Überleben ist identisch, Deon Meyer aber gelingt trotz der ähnlichen Ausgangslage ein ganz eigenständiger, ebenso unterhaltsamer wie nachdenklicher Roman, der Dystopie, Entwicklungsroman und Mad Max gekonnt verquickt.

Für die Erzählung seiner großen Geschichte (der Umfang fällt mit über 700 Seiten weit aus dem üblichen Rahmen, die Übersetzung besorgte Stefanie Schäfer) wählt Meyer einen besonderen Kniff. Der Großteil der Geschichte wird vom 13-jährigen Ich-Erzähler Nico Storm vorgetragen, der durch oftmalige Sprünge in der Chronik und Vorgriffe für Spannung sorgt. Dieser erzählerische Hauptstrang wird durch Berichte und Rückblenden vieler weiterer Charaktere ergänzt, die ebenfalls beständig zu Wort kommen. Denn Nicos Vater begründet im Lauf des Buchs den Ort Amanzi, an dem er einen Neustart der Gesellschaft versucht. Die Bewohner, die nach und nach Amanzi bevölkern, finden durch das sogenannte Amanzi-Projekt Gehör, das Willem Storm unaufhörlich vorantreibt. Er sammelt und konserviert die Eindrücke und Erfahrungen seiner Mitmenschen um ein möglichst umfassendes Bild der Fieberepidemie und dem Überlebenskampf der Menschen zu gewinnen.

Das alles ist wunderbar gemacht und fließt beständig in die Erzählung Meyers ein, was für Abwechslung und einen nie reißenden Spannungsbogen sorgt. Man beobachtet gespannt den Kampf ums Überleben der Amanzi-Gemeinde und die Spannungen, die sich innerhalb der Mikro-Gesellschaft abzeichnen. Dabei kann man Fever als einen spannenden und packenden Roman lesen, der vom Sterben genauso wie vom Überleben erzählt und der sich trotz seines Volumens wunderbar verschlingen lässt.

Man kann in Fever allerdings noch eine weitere, faszinierende Ebene entdecken, wenn man denn möchte. Denn Fever ist von einem großen Humanismus durchwirkt, der sich vor allem in der Figur des Willem Storm ausdrückt. Wie er zusammen mit seinem Sohn um das eigene Überleben und das der Menschheit kämpft, das gestaltet Deon Meyer eindringlich. Storm glaubt unverrückbar an das Gute im Menschen und die Fortschritte, die die Zivilisation bewirkt hat, auch wenn viele Geschehnisse in Amanzi dieser Hoffnung spotten. Seinem Sohn (und damit auch dem Leser) vermittelt Willem Storm eine nachahmenswerte Philosophie und viel Wissen, das sich wunderbar in den Gesamtkontext einfügt. Denker wie Baruch Spinoza, Yuval Noah Harari oder John Bowlby und deren Theorien sind Antriebsfedern, die Willem Storm und damit auch Amanzi am Laufen halten. Hier zeigt sich, wie Denken und Wissen Zivilisationen voranbringen kann, auch wenn häufig der Nutzen von Philosophie und Ethik in utilitaristischen Kreisen in Abrede gestellt wird. Meyer sieht das allerdings nicht so und bietet dabei am Ende einen interessanten Denkansatz: Ist es vielleicht am Ende eher jene die Philosophie und Ethik, die unsere Gesellschaften bewahren kann, als das technische Wissen und Know-How, das so leicht verlorengehen kann?

Man könnte Deon Meyers Fever fast als eine Art Versuchsanordnung betrachten. Da ist ein Dorf, das im Lauf des Buches wächst, es gibt verschiedene Einflussfaktoren, die das Vorankommen der Gesellschaft mal behindern und mal fördern. Geradezu analytisch ist man als Leser dabei, wenn man beobachtet, wie es sein könnte, nach einem Zusammenbruch den Resest einer Gemeinschaft oder im größeren gedacht, den Neuanfang einer Zivilisation zu versuchen. Dabei ergeben sich viele Fragen, deren Beantwortung nicht Ziel des Buchs ist, sondern nur der Denkanstoß. Wer möchte, kann unzählige dieser Fragen und Dilemmata entdecken: Was macht eine Gesellschaft aus? Was lässt Zivilisationen wachsen, welche Faktoren können die Entwicklung ausbremsen oder zurückwerfen?

Auch wenn ich die Mehr-als-Phrase eigentlich verabscheue (Mehr als ein Krimi oder Mehr als eine Dystopie …), da sie so unspezifisch wie (meist) unzutreffend ist. Hier möchte ich sie trotzdem zur Anwendung bringen. Fever ist mehr als ein Endzeitroman, mehr als ein Thriller. Der Verlag hat dies auch dankenswerterweise erkannt, schlicht prangt das Label Roman auf dem Cover. Natürlich bietet Fever viel Action und Spannung, all das ist unzweifelhaft vorhanden und gut gemacht, allerdings eben auch weit mehr als das. Eine wirkliche Empfehlung und ein wunderbarer Buchtipp für das kommende Weihnachtsfest.

P.S.: Gute Nachrichten gibt es an dieser Stelle auch für alle Bennie-Griessel-Fans. Der neue Band der Reihe mit dem Titel Die Amerikanerin erschient schon im März des kommenden Jahres. Ich bin gespannt, wie es mit Bennie nach dessen Absturz in Icarus weitergeht.

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Franzobel – Das Floß der Medusa

Sehenden Auges ins Verderben

Franzobel traut sich mit seinem neuen Roman etwas – er entwirft ein barockes, schon fast überbordendes Gemälde in Schriftform. Dreh- und Angelpunkt ist der Untergang der Medusa, eines großen Schiffes, das von Frankreich aus eigentlich den Senegal ansteuern sollte. Doch Egoismus, Verblendung und Geltungssucht sorgen dafür, dass aus dem Unternehmen schnell ein Desaster wird und sich ein Reigen der Eitelkeiten und Hybris entwickelt.

Vor der Küste Afrikas läuft der Master auf die Arguin-Sandbank auf. Der Kapitän rettet sich mit der Oberschicht auf die zu klein skalierten Rettungsboote – doch für 200 Menschen wird die Medusa zur Falle und sie schaffen es nicht von Bord. Man behilft sich kurzerhand, indem man aus den Schiffsteilen ein Floß für die restlichen Passagiere zimmert und mithilfe dieses Floßes die afrikanische Küste erreichen will. Der Plan ist gut, die Seewelt allerdings noch nicht bereit dafür. So treten schon bald die Schwächen des Plans zu Tage – und auf dem Floß entfesselt sich ein Überlebenskampf.

Franzobel erzählt seine Medusa-Parabel eng am historischen Kontext entlang (so versichert er dies zumindest im Nachwort seines fast 600 Seiten dicken Schmökers – bei allem detailliert geschilderten Kannibalismus an Bord der Medusa möchte ich mir den Begriff Schinken ersparen). Als besonderen Kniff dieses im 19. Jahrhundert spielenden Romans ist die Sprache Franzobels allerdings gar nicht historisch. Immer wieder flicht er postmoderne Manierismen ein. Der Erzähler wendet sich direkt an den Leser, korrigiert sich manchmal selbst und Besetzungsvorschläge für die Charaktere liefert Franzobel auch gleich selbst mit (von Lino Ventura bis Scarlett Johannsen reichen die Ideen des Österreichers). Dies sprengt manchmal wohltuend, manchmal irritierend den Fluss der Geschichte auf und sorgt für die nötige ironische Brechung, die dem Floß der Medusa gut zu Gesicht steht.

Mit großer Lust und Verve betrachtet Franzobel auch die Ausscheidungen und Auswüchse, als der Firnis der Zivilisation immer fadenscheiniger wird (an dieser Stelle sei nur an die Operation des Juden Kimmelblatt oder an das nutritive Treiben auf dem Floß erinnert, bei dem der Österreicher den Lesern nichts erspart).  Doch gelingt ihm auch, den Spagat zwischen Derbheit und möglichen Zumutungen zu halten und das Erträgliche nicht zu überreizen. Auch wenn der Roman nach der Schilderung des Schiffbruchs ebenfalls von einer kleinen Flaute erwischt wird, so trägt sich die Geschichte doch dann auch durch einige Sprünge und Szenenwechsel gut ins Ziel.

Das gelingt auch deshalb so gut, weil Franzobel wunderbare Stützpfeiler für sein Epos gefunden hat – die einzigartigen Figuren. Franzobel verleiht dem wirklich überbordenden Personaltableau eine formidable Gestalt. Alle Charaktere werden gut eingeführt und erhalten unverwechselbare Gesichter, Marotten und Schicksale (Clutterbucket! Schmaltz! Charlieee! Die Lafitte-Schwestern!). Wie sich diese Figuren auf dem Schiff bewegen, welche Welten dort aufeinanderprallen und wie man gemeinsam sehenden Auges ins Verderben steuert, das ist große Kunst und fürwahr eine ganze Zivilisation in nuce.

In meinen Augen ist Das Floß der Medusa ein wirkliches Epos, ein fantastischer Wurf und ein barock-modernes Drama, das weit über seinen historischen Kontext hinausweist. Völlig zu Recht ist das Buch für den Deutschen und nun auch für den Bayerischen Buchpreis nominiert. Ein Sieg wäre dem Buch zu gönnen!

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