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Richard Russo – Mohawk

Der Vermesser der amerikanischen Kleinstadt ist zurück. Wer aber glaubt, dass Mohawk ein neuer Roman aus der Feder Richard Russos ist, der sieht sich schnell getäuscht. Denn der Dumont-Verlag kümmert sich weiter um die Backlist des Amerikaners und veröffentlicht nach Mittelalte Männer aus dem Jahr 1997 nun erstmals den Debütroman Russos in der deutschen Übersetzung von Monika Köpfer. Ein Werk, dass seinen Charakter eines Debüts nicht ganz verhehlen kann.


So erschien Mohawk ursprünglich 1986, bevor es nun knappe 40 Jahre später erstmals auf Deutsch übersetzt vorliegt. Das evoziert natürlich vor allem eine Frage – hat es eine Berechtigung, dass das Buch nun nachgeschoben veröffentlicht wird oder hätte man lieber auf einen neuen Titel Russos gewartet?

Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten, schlagen hier zwei Herzen in meiner Brust. So zählt Russo zu einem meiner persönlich favorisierten Autoren, was die Kunst des Kleinstadtromans und der warmherzigen Schilderung ganz durchschnittlicher und fehlbarer Charaktere betrifft. Großartig sein Blick etwa auf den (Anti)Helden Donald „Sully“ Sullivan, der in den Romanen Ein grundzufriedener Mann und Ein Mann der Tat auftreten lässt. Kaputtgearbeitet, mit einem großen Talent für Fettnäpfchen und Bauernschläue ist er eine Figur, die man in Abwandlung im Kosmos Richard Russos immer wieder antrifft.

Es sind Menschen, die wissen, dass Glanz und Glamour für sie nicht vorgesehen ist, die gerade in ihrer Alltäglichkeit so besonders sind. Darin besteht in meinen Augen die Kunst des Menschenzeichners Russo, der solche Figuren unnachahmlich nachvollziehbar und plastisch zeichnet.

Die erzählerische Entwicklung Richard Russos

Wie hat sich dieses Talent entwickelt – und wie hat Russo zu seiner Erzählform gefunden? Das lässt sich nun dank des nachgereichten Debüt ganz genau betrachten. Denn der erzählerische Fortschritt, den der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Autor innerhalb von fast vier Dekaden gemacht hat, wird dank dieser Erstübersetzung nun transparent.

Richard Russo - Mohawk (Cover)

Was dabei als Erstes auffällt, ist die Tatsache, dass Russo schon bei seinem Debüt – das laut John Irving zu gut für ein Debüt sei, so der Blurb auf dem Klappentext – eine Erzählform wählt, auf die er auch in den späteren Romanen immer wieder zurückgreifen wird. Es ist die Form des amerikanischen Kleinstadtromans. Ähnlich wie Kent Haruf oder später auch Joel Dicker erschafft Richard Russo in seinen Romanen immer wieder ein kleines, durchschnittliches Städtchen, das man als jeweiliges Amerika en miniature lesen könnte.

Mögen die Kleinstädte auch mal den Namen North Bath oder Empire Falls tragen – im Kern sind sie alle gleich. Es sind stets nordamerikanische Kleinstädte, in denen die Bewohner*innen vor sich hinleben und mal größere und mal kleinere Einsichten erfahren. Im Großen und Ganzen sind es aber Städte, die für eine beständige Ordnung stehen, obgleich diese Städte auch meist im Niedergang inbegriffen sind.

Bei Mohawk ist das nicht anders, das sich hier als Prototyp all jener Erzählkulissen entpuppt, die in den kommenden Büchern folgen sollten.

Eine Russo-typische Kleinstadt namens Mohawk

Das an der Ostküste in der Nähe von New York angesiedelte Städtchen hat schon einmal bessere Zeiten gesehen. Die ansässige Lederindustrie befindet sich im Niedergang. Das Einzige, für das die Industrie noch zuverlässig sorgt, sind die chemischen Rückstände der Gerbereien, die den Fluss verunreinigen. Das Einzige, das noch zuverlässig funktioniert, ist die schaukelnde Ampel, die auch in der Nacht auf den menschenleeren Straßen zuverlässig den Takt vorgibt.

Zentrum des Kaffs ist das Diner Mohawk Grill, das von Harry betrieben wird und in dem Glücksspieler und hungrige Stadtbewohner zusammenkommen. Darum herum gruppiert Russo die Familien Grouse und Wood, die durch die Verwandtschaft der beiden Großmütter und das Schicksal der pflegenden Cousinen miteinander verbunden sind. Ein Officer, ein stadtbekannter Sonderling, im zweiten Teil des Buchs dann auch die jüngere Generation, die ihren Auftritt hat. Viel mehr an Personal benötigt Richard Russo nicht, um die kleineren und größeren Dramen des Lebens zu schildern.

Nicht verwirklichte Liebe, Fehden zwischen Jugendlichen und unterschiedlichen Familien, Antriebslosigkeit, dazu auch Themen wie der Tod und die Chancenlosigkeit, der eigenen Herkunft zu entkommen. Das sind Themen, die Russo in Mohawk anschneidet, aber nicht wirklich tiefergehend behandelt. Das Leben ist hier ein langer, ruhiger Fluss, der von ein paar unvorhergesehenen Schnellen doch eben recht unberührt vor sich hinfließt. Zeithistorische Wegmarken wie der Vietnamkrieg und die damit verbundenen Einberufungen spielen hier zwar im zweiten Teil eine Nebenrolle, insgesamt ist es aber doch eher das private Drama denn die Weltgeschichte, die Richard Russo schon in seinem Debüt vorrangig interessieren.

Seine Kleinstadtdramen und das Erzählen des Durchschnittlichen über eine hohe Lauflänge ist schon in Mohawk auffallend und zeigt, dass Russo dieses narrative Konzept verbunden mit dem Handlungskosmos der Kleinstadt schon ab Buch eins verfolgt und im Folgenden dann verfeinert und verbessert hat. Wobei die Verbesserung in den weiteren Titeln mit einer deutlichen Ausdehnung des Umfangs seiner Bücher einherging. Mit knapp 500 Seiten ist dieses Buch an der unteren Grenze in Sachen Seitenzahl angesiedelt. Spätere Werke sollten diese Marke locker mit bis zu fast 300 Seiten mehr überschreiten.

Noch nicht die Klasse späterer Werke

Warum aber konnten mich spätere Werke Russos eher überzeugen? Hier kommt nun das zweite Herz ins Spiel, das diesbezüglich in meiner Brust schlägt.

In meinen Augen ist die Figurenführung hier noch nicht so stark, wie man es eigentlich von Russo gewohnt ist. Und auch sein erzählerischer Kosmos ist hier noch nicht so ausbalanciert, wie es Russo in Büchern wie Ein Mann der Tat oder Diese gottverdammten Träume gelungen ist. So fehlt den meisten Figuren hier noch etwas an Tiefe und Profil, das sie zu starken Figuren machen würde, die die Geschichte über die Länge tragen. Alles ist hier noch nicht so scharfgestellt, wie man es eigentlich von Russo kennt. Auch die Komik ist noch zaghafter eingesetzt, als man es eigentlich von ihm gewohnt ist.

Zwischen alten Familienfehden, einem haltlosen Officer, dem Geheimnis hinter dem Sonderling, den Motivationen seiner Figuren, plötzlichen Todesfällen und den Sprüngen zwischen erzählter Gegenwart und Rückblenden verliert Richard Russo bisweilen etwas die Orientierung, sodass das Buch nicht immer wirklich stringent wirkt.

Der Eindruck, der sich bei mir nach nun sechs gelesenen Romanen einstellte, war der Eindruck der Übersättigung, da Themen und Setting doch über die Bücher hinweg wenig Entwicklung erkennen lassen. Natürlich ist diese Kritik ein Stück weit unstatthaft, trifft dieser Vorwurf hier eigentlich das falsche Buch, das es ja eigentlich am Anfang von Russos Erzählkarriere steht und nur hierzulande aufgrund der deutschen Publikationspolitik erst nach all den anderen Werken erschien.

Fazit

Und doch ist Mohawk auch in chronologisch sortierten Überblick eines der schwächeren Werke, das zeigt, dass Russo über die Jahre erst zu der bestechenden Form in Sachen Figurenführung und Erzählansatz finden musste, die seine letzten Werken auszeichneten.

Will man die Entwicklung Russos nachvollziehen, ist das Buch natürlich großartig, lassen sich Motive, Themen und narrative Strategien von Beginn dieses Erzähldebüts aus wunderbar analysieren und miteinander in Vergleich setzen. Für alle, die aber einfach Unterhaltung suchen und sich (wieder einmal) in den Kleinstadtkosmos von Richard Russo versenken möchte, wären die schon erwähnten Romane Ein grundzufriedener Mann, Ein Mann der Tat oder auch das ebenfalls nachgereichte Werk Mittelalte Männer über einen Universitätsprofessor in meinen Augen nach wie vor die erste Wahl.

Beileibe kein schlechtes Buch – und im Vergleich mit Versuchen aus deutscher Feder immer noch eine Klasse für sich. Aber Russos Formkurve zeigte mit der fortschrittlichen Schriftstellerkarriere nach oben – das beweist das Debüt Mohawk dann leider doch.


  • Richard Russo – Mohawk
  • Aus dem Englischen von Monika Köpfer
  • ISBN 978-3-8321-8228-1 (Dumont)
  • 496 Seiten. Preis: 26,00 €
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Anthony McCarten – Going Zero

Ist das überhaupt noch möglich, in Zeiten der öffentlichen Videoüberwachung, Vorratsdatenspeicherung und massenhafter digitaler Spuren im Netz unentdeckt zu bleiben und dreißig Tage vom Radar der öffentlichen Überwachung zu verschwinden? Anthony McCarten macht aus dieser Überlegungen einen hochspannenden Thriller, der Orwells 1984 um einige Dimensionen weiterdenkt und der von den allumfassenden technologischen Möglichkeiten der Überwachung genauso erzählt wie vom Widerstand gegen das System. Going Zero ist ein hochspannenden Thriller, der zum Mitreißendsten zählt, das ich seit langem lesen durfte.


Nach Ankündigungen ging im Herbst des Jahres 2021 auf Amazon Prime Video ein Format auf Sendung, dessen zugrundeliegende Idee bestechend klang. Zehn Prominente, die sich als Paare oder solo unerkannt durch Deutschland schlagen müssen, wobei sie von einem Team von professionellen Verfolgern anhand von Kameras und digitalen Spuren gejagt werden. Wer es schaffte, sich der Überwachung zu entziehen, die Verfolger abzuschütteln und rechtzeitig zu einem später bekanntgegebenen Finalort zu gelangen, ohne festgesetzt zu werden, der hatte Celebrity Hunted, so der Titel des Formats, gewonnen.

Das Umsetzung des verheißungsvollen Experiment scheiterte aber durchweg an seiner offensichtlichen Inszenierung mitsamt dem durchscheinenden Script, angefangen von einem skurrilen Verfolgercast mit Ex-Merkelberater und General a.D. Erich Vad, bei dem es peinliche Verhöre der „Verdächtigen“ zu sehen gab, die wohl nicht einmal bei einem Vorabendformat eines Privatsenders den Schneideraum verlassen hätten. Immer wieder stolperten die Kandidat*innen, fanden sich in dilettantisch inszenierte Situationen wieder, bei denen sie sich plötzlich auf wundersame Weise der Verfolgerteams entziehen konnten, übernachteten unerkannt bei Prominenten und schlugen sich mal besser und schlechter durch ihre Mission.

Real fühlte sich hier nichts an, dabei gäbe solch eine Serie ja spannende Anküpfungspunkte für Reflektionen in Sachen öffentlicher Überwachung, der Speicherung und Preisgabe privater Daten und die Bedeutung von Datenschutz her.

Ein Überwachungsthriller von Anthony McCarten

Dafür gibt es jetzt dankenswerterweise den neuen Roman von Anthony McCarten, der all das einlöst, was Amazons Eigenproduktion nicht schaffte. McCarten, der zuletzt kaum noch Bücher schrieb und sich stattdessen auf Drehbücher für Hollywoodblockbuster wie die Queen-Biografie Bohemian Rhapsody konzentrierte, kehrt hier nun wieder zu seinen schriftstellerischen Wurzeln zurück und liefert nun nach tollen Werken wie Superhero oder Licht einen Überwachungsthriller reinsten Wassers ab.

Anthony McCarten - Going Zero (Cover)

Die Grundprämisse bei McCarten ist zunächst die gleiche, wie sie auch Amazon für seine Serie verwendete. Über das ganze Land hinweg werden zehn Freiwillige ausgewählt, die am Going Zero-Programm teilnehmen und die für dreißig Tage untertauchen müssen. Gelingt es ihnen, locken sagenhafte 3 Millionen Dollar als Preisgeld.

Mit diesem Programm möchte der Musk/Bezos/Zuckerberg-Wiedergänger Cy Baxter die Leistungsfähigkeit seines digitalen Werkzeugkastens unter Beweis stellen, den er gerne der CIA zu lukrativen Konditionen verkaufen möchte. Als Betreiber der Plattform WorldShare verfügt er über unzählbare digitale Spuren und private Daten seiner Nutzer, die man zur Aufklärung von Verbrechen nutzen könnte, indem man all diese Daten miteinander verknüpft und so über ein potentes Überwachungsinstrumen verfügt, wie der der Silicon Valley-Millionär erklärt. Das so entwickelte Programm, das auf den Namen Fusion hört, soll nun in einem Betatest auf Herz und Nieren geprüft werden, um vor den wachsamen Augen der CIA die Marktreife des Produkts unter Beweis zu stellen.

Eine Bibliothekarin gegen einen Großkonzern

Augewählt für diesen Betatest namens Going Zero sind zehn Freiwillige. Fünf der Teilnehmenden sind professionelle Datenschützer, Überwachungsexperten und Ex-Militärs, für die das Aufspüren und Untertauchen zum Kerngeschäft gehört. Die anderen fünf ausgewählten Teilnehmenden hingegen sind Laien, die mit Überwachungstechologien eigentlich nichts am Hut haben, darunter auch die Bibliothekarin Kaitlyn Day.

Die Frau, die eben eingetreten ist, betrachtet nachdenklich ihr Bild darin: Mitte dreißig, schwarzes Haar, Pagenschnitt, eine dieser riesigen Brillen, die seit letztem Jahr wieder in Mode sind, eine lange, weit geschnittene Hose, Turnschuhe und unter dem Mantel – einem leichten Übergangsmodell vom Vorjahr -, eine akkurat gebügelte schwarze Bluse mit Blumenmuster. Die Frau sieht sehr danach aus, was sie auch ist, nach Bibliothekarin – oder zumindest so, wie die meisten sich eine Bibliothekarin vorstellen.

Anthony McCarten – Going Zero, S. 9f.

Wie alle anderen Teilnehmenden durfte auch Kaitlyn sich vorbereiten und bekommt nach Start des Programms ein Zeitfenster von zwei Stunden, in dem sie sich unsichtbar machen darf. Ab dann stehen den Verfolger*innen in der Fusion-Firmenzentrale in Washington sämtliche Überwachungsmöglichkeiten zur Verfügung, die das Programm bietet.

Wie sich im Laufe von Going Zero zeigen wird, sind diese Werkzeuge mitsamt aller ihrer Möglichkeiten mehr als erschreckend. Während sich das Netz aus Kameras, Drohnen, Algorithmen und hochmoderner VR-Technik immer dichter um die Teilnehmer*innen zusammenzieht, gelingt es Kaitlyn, auf kreative Art und Weise, sich ihren Überwachenden immer wieder zu entziehen. Damit fordert sie den impulsgesteuerten Cy Baxter heraus, der natürlich alles bieten will, um alle Going-Zero-Programmteilnehmer auch vor Ablauf der dreißig Tage festzusetzen.

Ein atemberaubender Thriller

Going Zero ist ein atemberaubender Thriller von einer Intensität und einem Tempo, wie ich ihn lange nicht mehr lesen durfte. So lässt sich McCarten nicht viel Zeit mit einer Exposition seiner Figuren, sondern stürzt Kaytlyn gleich mitten hinein in das Programm, das schon auf den ersten Seiten rasant beschleunigt, wenn Überwachungsteams und Drohnen Jagd auf die Bibliothekarin machen.

Ab Programmstart ist das Tempo hoch, das zumindest mich auch in eine moralische Zwickmühle brachte. Denn während natürlich ist diese Jagd unglaublich spannend und intensiv, wenn die Häscher den Probanden mit der ganzen Fülle an Überwachungstechnologie zu Leibe rücken und diese Person um Person zur Strecke bringen. Zugleich entsetzt die Wahl der Mittel, nicht nur wenn Cy Baxter als Befehlshaber die Verhältnismäßigkeit der Mittel völlig aus dem Blick verliert und schon einmal Kampfdrohnen in Stellung bringen lässt oder in kanadisches Hoheitsgebiet vordringt.

Die potentielle Allmacht der Technologie gerade in ihrem Zusammenwirken führt McCarten erschreckend vor Augen und zeigt, wie gefährlich uns die Annehmlichkeit der digitalen Welt werden können, in der schon ein einziger Spruch auf einem T-Shirt zur Ergreifung eines Going-Zero-Teilnehmers führen kann.

Dass sich McCarten dabei nicht zu plumper Technologiekritik á la Dave EggersDer Circle hinreißen lässt, macht in meinen Augen die Qualität des Buchs bei. Denn in der Mitte des Buchs, gerade als die Frage entsteht, ob dieses Tempo zu halten ist und der Spannungsbogen über die restliche Laufzeit trägt, kommt es zu einem allesentscheidenden Twist, der Going Zero dann noch einmal auf eine neue Ebene hebt.

Denn ohne zu viel verraten zu wollen, hat auch Kaitlyn Day eine Mission, die aus Going Zero eine Angelegenheit bei der längst nicht ganz so klar ist, wer Verfolger und wer Verfolgter ist, wie es zunächst den Anschein hat. Nuanciert beschreibt der Neuseeländer die Risiken, zeigt aber auch, wozu die Technik im Guten imstande ist, obgleich natürlich die alte Frage bestehen bleibt : Wer überwacht die Überwacher?

Fazit

Die raffinierte Komposition, der Spannungsbogen, die eindrückliche Weiterführung der Schönen, neuen Welt und die Innensicht auf ein Silicon Valley, in dem Geheimdienste und Soziale Medien schon längst gemeinsame Sache machen, ergeben in Going Zero ein Buch, das die Gefahren und Risiken digitaler Technik und die darin innewohnenden Überwachungspotentiale gekonnt und mitreißend auslotet. Eindrücklicher war eine Hymne auf den Datenschutz wohl noch nie. Ein Buch, das wie ein Update für Huxley, Orwell und Co wirkt – das hoffentlich nicht unter dem Radar bleibt, sondern für viel Aufsehen sorgt!


  • Anthony McCarten – Going Zero
  • Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
  • ISBN 978-3-257-07192-4 (Diogenes)
  • 464 Seiten. Preis: 25,00 €
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Lee Cole – Kentucky

Kentucky, kurz vor den Wahlen 2016. Lee Cole zeigt in seinem Debüt einen jungen Mann, der an seiner eigenen Herkunft und Klasse zu verzweifeln droht und der sich zwischen Baumschnitt, Verliebtheit und familiären Schwierigkeiten zurechtfinden muss. Ein großartiges Debüt!


Dass die Durchschnittlichkeit eines amerikanischen Mittelschicht-Lebens trotzdem eine spannende Angelegenheit sein kann, das beweist nicht nur Richard Russo in seinen Romanen. Sollte sich der Autor der Great American Novels eines Tages zur Ruhe setzen – mit Lee Cole stünde ein würdiger Nachfolger bereit.

Der im ländlichen Westen Kentuckys aufgewachsene Autor legt mit Kentucky sein Debüt vor, das von Jan Schönherr ins Deutsche übertragen wurde. Darin erzählt er zumindest partikular einen Campusroman, der sich von „normalen“ amerikanischen Campusromanen doch deutlich unterscheidet. Denn hier steht kein privilegierter junger Mensch im Mittelpunkt, der auf dem Campus zwischen akademischen Partys und Verbindungshäusern hin- und herhuscht.

Vielmehr spielt der Roman tatsächlich zu großen Teilen auf dem Campus, der für Owen Callahan, den Helden von Lee Coles Buch zwar Studien- aber vor allem auch Arbeitsort ist. Denn da der junge Mann alles andere als begütert ist und nach einigen Drogenexzessen in früheren Tagen so gut wie kein Erspartes besitzt, gelingt ihm der Zutritt zur akademischen Welt nur über die Arbeit der Baumpflege.

Baumpflege und Studium

Die Universität von Louisville bietet ihren Baumpflegekräften auf dem Campus eine Art Work & Study an. Tagsüber stutzen Owen, Rando und James zusammen die Bäume auf dem Campus und dem angeschlossenen Arboretum, danach darf Owen Vorlesungen zum Thema Kreatives Schreiben besuchen, was sich hier als ein bisweilen recht skurriles Seminars zum Thema „Dschungelnarrative“ entpuppt.

Lee Cole - Kentucky (Cover)

Derweil hängt Owen in Studentenkneipen wie der „Schadenfreude“ herum und sucht nach seinem Platz im Leben. Nach Hause zieht es ihn nicht wirklich, vor allem weil man seine Bleibe kaum als Zuhause bezeichnen kann. Abgebrannt lebt er im Keller bei seinem Großvater, der ihm neben dem kostenlosen Zimmer auch seinen Truck zur Verfügung gestellt hat. Mit im Haus wohnt zudem sein Onkel Cort, der als eine Art Frührentner seine Tage mit Zocken oder dem stundenlangen gemeinschaftlichen Konsum von Cowboystreifen und Western verbringt.

Man hat sich irgendwie arrangiert, aber immer wieder fliegen die Fetzen und spätestens als Cort in seinem Zimmer ein von der Straßenseite aus gut einsehbares Plakat mit dem Slogan Make America Great Again anbringt, wird klar, dass hier Welten aufeinanderprallen.

Das Leben in den Südstaaten

Besonders deutlich wird dies Owen selbst, als er sich in die aus Bosnien stammende und an seiner Uni lehrende Alma verliebt, die mit ihrer Lyrik und Prosa schon aufhorchen ließ. Ihre sich entwickelnde Liebesgeschichte lässt Owen noch einmal neu auf seine Heimat dort in den Südstaaten und die trostlose Existenz seiner getrennt lebenden Mittelschichtseltern blicken.

Kentucky ist ein Roman, der vordergründig kaum Handlung bereithält. So mäandert Owens Leben zwischen der sich entwickelenden Romanze mit Alma, seiner trostlosen und von Armut geprägten Wohnsituation, seinem Job auf dem Campus und den Gehversuchen als Literat hin und her. Dabei beherzigt Lee Cole aber auch, was er in seinem Roman Alma über Literatur sagen lässt:

Viele große Romane mäandern vor sich hin, und der Plot entsteht nur durch die Abfolge von Ereignisse. Ich meine, ein Plot kann ja manchmal auch bloß darin bestehen, dass Zeit vergeht. Weißt du was ich meine?

Lee Cole – Kentucky, S. 238 f.

Möchte man diesen Roman zusammenfassen, dann ist es nicht die besondere Handlung oder besondere Figuren. Alles mäandert hier in seiner Durchschnittlichkeit dahin. Die Kunst von Lee Cole ist es aber nun, ähnlich wie Richard Russo dieses Mittelmaß als etwas Besonderes zu inszenieren.

Das Besondere im Durchschnittlichen

Sein Romanpersonal ist an Durchschnittlichkeit nicht zu überbieten. Die leicht rassistischen Eltern, Trump-Unterstützer, Republikaner dort im Süden, auf der anderen Seite die Einwandererfamilie Almas, die sich nach der Flucht aus Jugoslawien rasch den neuen Verhältnissen in ihrer Heimat angepasst hat.

Die deprimierende Kulinarik der faden Restaurants und Kneipen, in denen die Dates von Owen und Alma stattfinden, die Flohmärkte auf Parkplätzen, evangelikale Gottesdienste mitsamt der Verfechtung der These des Kreationismus, die Hoffnungslosigkeit und der Stolz der Einwohner dort im Süden der USA, für die auch die Südstaatenflagge irgendwie zur Identität und zum Nationalstolz zählt, von all dem erzählt Lee Cole in seinem Debüt eindringlich und anschaulich.

Aber es ist nicht allein der Blick auf die amerikanische Mittelschicht, kurz vor der spektakulären Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA. Lee Cole beweist in Kentucky neben seinem Auge für die soziologischen Aggregatszustände im Herzland der USA, dass er auch den Aufstiegsmythos der USA zu dekonstuieren in der Lage ist. Wie er das Strampeln Owens für ein vernünftiges Auskommen und wenigstens etwas finanziellen Spielraum zeigt, das ist wirklich gut gemacht.

Irgendwie genoss ich es, ihr meine Schrottjobs aufzulisten. Ich hatte Häuser gestrichen, Burger gebraten und Kinderbücher in einer Bibliothek einsortiert. Vor dem Gastspiel als Baumpfleger in Denver hatte ich in einem Thai-Restaurant in Boulder das Geschirr gespült. Besonders in Colorado war ein Großteil meines Gehalts für Bier, Pillen und das dort eben erst legalisierte Gras draufgegangen. Meine Familie nannte das gern euphemistisch „Party machen“, im Sinne von „Wann hörst du endlich auf, immer nur Party zu machen, und kriegst mal dein Leben auf die Reihe?“. Diese Frage kann ich in den verschiedensten Versionen.

Aber wie eine Party war mir dieses Leben eigentlich nie erschienen. Vor allem hatte ich mich einsam und erbärmlich gefühlt, und diese Einsamkeit hatte irgendwann einen Siedepunkt erreicht, ab dem sie nicht mehr auszuhalten war.

Lee Cole – Kentucky, S. 67 f.

So sehr sich Owen auch für Stipendien bemühen mag und einen Job als Leitung des Baumpflegeteams anstrebt – so wirklich gelingt ihm das Vorankommen nicht. Seinem Milieu und seiner sozialen Prägung kann er nicht wirklich entkommen, wenngleich er sich bei Familientreffen auch streitet und seine liberale Weltsicht mit der der Hinterwäldler-Eltern kollidiert. Letzten Endes ist der amerikanische Traum und das Aufstiegsversprechen aber doch nur ein fernes Glimmen am Horizont. Das zeigt Lee Cole in Kentucky sehr deutlich.

Fazit

Das macht aus Kentucky ein wirklich lesenswertes Buch, das die amerikanische Mittelschicht mit Scharfsinn und Beobachtungsgabe in den Blick nimmt. Lee Cole gelingt ein Roman, der weniger durch seine Handlung als vielmehr durch sein Talent für die Schilderung der Lebenswelt von ganz durchschnittlichen Amerikanern in der Tradition von Richard Russo besticht. Großartige Literatur aus dem Bible Belt im Jahr 2016, das durch den großen Realitätsgehalt und die Schilderung des Großen im Kleinen überzeugt. Ein großartiges Debüt, das noch viel erhoffen lässt.


  • Lee Cole – Kentucky
  • Aus dem Englischen von Jan Schönherr
  • ISBN 978-3-498-00270-1 (Rowohlt)
  • 416 Seiten. Preis: 25,00 €
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Honorée Fanonne Jeffers – Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois

Was für ein Ziegelstein von einem Buch. Honorée Fanonne Jeffers spannt in ihrem Debütroman Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois einen ganz weiten Bogen, um von Schwarzem Leben in Amerika zu erzählen. Von der Zeit der indigenen Bevölkerung bis hinein in die Gegenwart reicht ihr Erzählkosmos, der eine junge schwarze Studentin in den Mittelpunkt stellt, in deren familiären Wurzeln sich die ganze Geschichte des Schwarzen Amerika abbildet. Es ist ein Erzählbogen, der bei aller Ambition auch ein wenig überspannt ist.


Chicasetta, das liegt im tiefsten Georgia. Georgia, das wohl so stark wie kaum ein anderer amerikanischer Bundestaat für die blutige Geschichte der Sklaverei steht, kamen doch hier zumeist aus Afrika stammende Sklaven tausendfach durch die grausame Ausbeutung auf Baumwollplantagen und an anderen Stellen ums Leben.

Eben dort in den Südstaaten lebt die Verwandtschaft von Ailey Pearl Garfield, die ihre Mutter zusammen mit den drei Kindern jeden Sommer besucht. Im Juni oder Juli packen die Garfields das Auto, um aus Connecticut die Mason-Dixon-Linie zu überqueren und in den Süden zu fahren. Dort, bei ihrem Onkel Root, verleben die Kinder und Erwachsenen sorglose Tage.

Die Geschichte Chicasettas und die der Sklaverei

Honorée Fanonne Jeffers - Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois (Cover)

Doch je älter Ailey wird, umso differenzierter wird das Bild, das sie von Chicasetta und der wechselvollen Geschichte des Süden der USA erhält. Von der Highschool bis zum Studium verfolgt Honorée Fanonne Jeffers in diesem Bildungsroman den Weg von Ailey, der schlussendlich bis zum Promotion als Geschichtsstudierende führt – ein Weg, der für eine Schwarze alles andere als leicht ist.

Im Zuge dieser Bildungskarriere taucht Ailey immer tiefer in die Geschichte Chicasettas und ihrer eigenen schwarzen Familie ein. Stärkste Inspirationsquelle ist dabei ihr Onkel Root, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts geboren wurde und der die wechselvolle amerikanische Geschichte und die Nachwirkungen des Systems der Sklaverei am eigenen Leib miterlebt hat. Er hat einst am Routledge College die Bekanntschaft mit dem Denker W.E.B. Du Bois gemacht – eine Begegnung, die ihn sein ganzes Leben beeinflusst hat und seine Weltsicht entscheidend prägte.

Das Denken W.E.B. Du Bois

Jener schwarze Denker und Theoretiker, der bei uns so gut wie unbekannt ist (wenngleich seine Studie Along the color line über seinen Besuch des nationalsozialistischen Deutschlands 1936 im vergangenen Jahr bei C. H. Beck wieder zugänglich gemacht wurde), ist mit seinem intellektuellen Ansatz für ein anderes Miteinander von Schwarz und Weiß eine der entscheidenden Figuren, deren Denkschule und Theoriewerk die Generationen prägt, vom Zeitzeugen Onkel Root bis hin zu der 1973 geborenen Ailey.

Während sie sich verliebt, Mitglied in einer Verbindung auf dem Campus werden möchte, sich in Affären stürzt und am eigenen Leib den immer noch grassierenden Rassismus sowohl im Süden als auch im Norden erfährt, bleibt sie doch auch unbeirrt auf ihrem Weg, das Schwarze Erbe und die Verstrickungen von Sklaverei und Rassismus auf lokaler und familiärer Ebene aufzuarbeiten. Während sie sich in diese Geschichte einarbeitet, sind es von Beginn des Romans an immer wieder als Song betitelte Zwischenspiele, die die elf Kapitel der Familiengeschichte Ailey Pearl Garfields unterbrechen.

Songs mit Schwarzer Geschichte

In diesen Songs geht Honorée Fanonne Jeffers ganz weit zurück in der Geschichte der USA, um die Geschichte von Schwarzem Leben in den USA zu erzählen. So setzt das Buch zur Zeit der indigenen Ureinwohner ein, als Stämme wie die Cherokee oder die Creek noch unbehelligt auf ihrem Land leben konnten. Sie zeichnet in den bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhundert zurückreichenden Episoden nach, wie Siedler und mit ihnen auch das System der Sklaverei langsam die indigene Bevölkerung verdrängten und wie sich die aus Afrika verschleppten Menschen im grausamen Sklavensystem der Südstaaten wiederfanden.

Die lose miteinander verknüpften Songs bilden Stück für Stück Stammbäume und Ahnenlinien ab, wobei der Erzählton von Honorée Fanonne Jeffers an manchen Stellen schon einen fast biblischen Klang bekommt, wenn sie über die Abstammung der Familien und Geschlechter erzählt.

Die Hauptrolle in diesen Episoden mit den erzählten Stammbäumen spielt dabei Samuel Pinchard, dessen Tun als Sklavenhalter und vor allem Sklavenschänder vom herrschenden System der Herrschaft der Weißen gedeckt war. Gewalt, Missbrauch und anderes Unrecht schildert Jeffers in diesen Songs anschaulich – und verknüpft diese Geschichten mit der erzählten Gegenwart rund um Aileys Familie.

Viel Ambitionen und viel Leid

Doch damit begnügt sie sich nicht – denn Honorée Fanonne Jeffers will in ihrem Debüt gleich alles (was leider auch etwas zu viel ist, um dieses Urteil vorwegzunehmen). So porträtiert sie die Familie Aileys, deren Weg als schwarze Familie im weißen Norden, erzählt ausführlich vom Abrutschen der ältesten Schwester Lydia in die Sucht, entwickelt im Hauptteil einen echten Campusroman, der von Kämpfen und Niedertracht vor und hinter der Kulissen der honorigen Universitäten erzählt. Zudem spielt das geschichtsträchtige Leben ihres Onkel Roots eine große Rolle – und auch von innerfamiliären Missbrauch, den Ailey und ihre Schwestern erfahren mussten, erzählt Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois.

So gut sich die Aufsteiger-Geschichte von Ailey inklusive diverser Niederschläge und Verlusterfahrungen auch liest – in Verbindung mit dem knappen Dutzend an historischen Episoden mit einem schon fast ausufernden Personaltableau entsteht im letzten Drittel dieses fast tausendseitigen Romans auch zunehmend ein Gefühl der Überforderung und der verlorenen Übersicht, wenn von Honorée Fanonne Jeffers der nächste historische Strang eingeführt wird.

Blickt man in den umfassenden Anmerkungsapparat zum Buch, so sind es vier Hauptfamilien, die die Stammbäume aufführen. Diese weisen insgesamt über 36 Nachfahren nebst der Elternpaare auf, die allesamt mal in den Songs und mal in der Haupterzählung eine Rolle spielen. Das war für mich, der die Lektüre ein paar Mal für wenige Tage unterbrechen musste, in seiner Komplexität und Fakten- und Personenfülle leider so manches Mal zu viel, auch wenn der Anmerkungsapparat natürlich bei der Lektüre hilft.

Hochinteressante Anmerkungen zur Übersetzungsproblematik

Ein Glossar zu schwarzen Begriffen ergänzt Die Liebeslieder von W. E. B. Du Bois genauso wie ein erklärendes Nachwort der Übersetzerinnen Maria Hummitzsch und Gesine Schröder, die ihre Übersetzungsüberlegungen zu Slang und der Übertragung des African American Vernacular English, einer mündlichen Abart des Schriftenglisch, das von Schwarzen gesprochen wurde und wird, darlegen.

So haben sie sich bemüht, die zwei Sprachebenen des englischen Originals zumindest in Ansätzen sichtbar zu machen, ohne dass es dazu führt, dass die Schwarzen im Roman wie Einfaltspinsel und tumbe Gestalten klingen (was bei anderen Büchern leider immer wieder passiert).

Dieses Nachwort und die darin dargestellten Probleme bei der Übersetzung zählen für mich zu den interessantesten Aspekten des Buchs, berühren diese Anmerkungen doch einige Probleme, auf die ich bei der Lektüre Schwarzer Autor*innen im Deutschen immer wieder stoße. Wie stellt man das weite Begriffsfeld von Race im Deutschen dar, wie bildet man das variantenreiche Vokabular von Negro bis Black wenigstens einigermaßen angemessen im Deutschen ab und warum schreibt man im Kontext von afroamerikanischer Literatur Schwarz auch groß?

All diese Anmerkungen und Erklärungen von übersetzerischer Theorie und Praxis und den Grenzen unserer Sprache zählen für mich zu dem Interessantesten, was ich auf diesem Feld in letzter Zeit gelesen habe (und stellen unter Beweis, welch fordernde Aufgabe die Übersetzerinnen hier mit Bravour gemeistert haben).

Fazit

Man muss Zeit und Muse mitbringen, will man sich in diese fast tausend Seiten Schwarzer Geschichte in den USA verbunden mit viel Familiengeschichte und einem Bildungsroman stürzen. Mit Die Liebeslieder des W.E.B. Du Bois legt Honorée Fanonne Jeffers, ihres Zeichens Professorin für Kreatives Schreiben an der Universität von Oklahoma, eine ambitionierte Erzählung über die gesamte Spanne Schwarzen Lebens in der USA vor. Aufgrund der episodalen Fülle an geschichtlichen Rückblenden mit einem schon fast ausufernden Personalensemble empfiehlt sich das Buch nicht für längere Unterbrechungen und braucht viel Aufmerksamkeit und Übersicht, bei der auch der umfangreiche Anmerkungsapparat nur ein Stück weit helfen kann.

Für mich persönlich will Honorée Fanonne Jeffers in ihrem Debüt ein bisschen zu viel, aber nichtsdestotrotz ist das Buch doch ein wirklich großer Wurf, der den Schwarzen Wurzeln in Amerika nicht nur im Privaten umfassend nachspürt.


  • Honorée Fanonne Jeffers – Die Liebeslieder des W.E.B. Du Bois
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Maria Hummitzsch und Gesine Schröder
  • ISBN 978-3-492-07012-6 (Piper)
  • 992 Seiten. Preis: 28,00 €
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Percival Everett – Die Bäume

Was, wenn es plötzlich Rache gäbe für die vielen Lynchmorde, die speziell in den Südstaaten der USA tausendfach stattfanden? Percival Everett spielt es in seinem Roman Die Bäume durch – erreicht damit aber leider nicht die Klasse, die mich in Erschütterung so für ihn einnahm.


Money, Mississippi, sieht genauso aus, wie es sich anhört. Hervorgegangen aus jener hartnäckigen Südstaatentradition von Ironie im Verein mit der dazugehörigen Tradition von Unwissenheit, bekommt der Name etwas Trauriges, wird zum Kennzeichen befangener Ignoranz, die man sich ebenso gut zu eigen machen kann, denn, mal ganz ehrlich, sie wird nicht weggehen.

Percival Everett – Die Bäume, S. 11

Tief in den Süden der USA führt der neue Roman von Percival Everett, der mit einem brutalen Mord beginnt. So wird der lokale Sheriff zum Haus von Junior Junior Milam gerufen, wo er dessen aufgelöste Witwe vorfindet. Beim Betreten des Tatorts findet er zwei Leichen vor. Der mit Stracheldraht erdrosselte, geschlagen und misshandelte Leichnam Junior Juniors inklusive einem ausgestochenen Auge und abgeschnittenen Hoden – und daneben die Leiche eines Schwarzen im Anzug, der ebenfalls viele Spuren grober Gewaltanwendung trägt.

Percival Everett - Die Bäume (Cover)

Doch als die Leichen der beiden Toten ins lokale Leichenhaus verbracht werden sollen, kommt es zu einer ersten Unregelmäßigkeit. Denn obschon in beiden Leichen nicht weniger Leben sein könnte, als es ganz offensichtlich der Fall ist, verschwindet die Leiche des jungen Schwarzen nach ein paar Stunden spurlos aus dem eigentlich zur Aufbewahrung vorgesehenen Kühlfach. Ein Rätsel, weisen doch keine Spuren auf einen Einbruch oder ein mutwilliges Entfernen des anonymen Mannes aus dem Leichenhaus hin.

Zusehends kompliziert wird die Lage, als es wenig später dort in Money zu einem zweiten Mord kommt, wieder mit dem gleichen Modus Operandi. Auch der zweite Tote wurde brutal misshandelt, auch er trägt Spuren einer Stacheldrahtschlinge am Hals, auch ihm fehlen die Hoden, die ihm ausgerissen wurden.

Doch neben der Synchronizität der Ereignisse verblüfft vor allem die Tatsache, dass auch neben ihm wieder ein junger Schwarzer im Anzug liegt. Ebenjener Schwarze, der wenige Stunden zuvor noch tot in die Leichenhalle eingeliefert wurde. Spätestens als dieser wieder aus einem diesmal abgeschlossenen Transportwagen bei voller Fahrt verschwindet, schwant nicht nur dem lokalen Sheriff, dass das etwas gewaltig schiefläuft. Was geht dort in Money vor sich?

Die Bäume im Süden tragen seltsame Früchte

Schnell wird klar, dass diese Vorkommnisse die Kompetenz der Hinterwäldlermannschaft rund um Sheriff Jetty haushoch übersteigt. Und so machen sich die beiden Ermittler Ed und Jim in den Süden auf, um im Auftrag des MBI die Morde rund um den scheinbar wieder auferstandenen toten Mörder zu lösen.

Sie stoßen auf ein Nest völlig skurriler bis gefährlicher Figuren, wie es sich die Coen-Brüder nicht besser hätten ausgedacht haben können. Schnell stellen die schwarzen Ermittler Ed und Jim fest, dass der Rassismus dort im Landstrich nicht nur ein Phänomen vergangener Tage ist. Denn die Bäume dort tragen auch heute noch Früchte, die nicht unbedingt pflanzlicher Natur sind, wie es an einer Stelle im Roman heißt, in der eine Frau einen hypnotischen Song über die Sklaverei vorträgt.

Southern trees bear strange fruit
Blood on the leaves and blood on the root
Black bodies swinging in the Southern breeze
Strange fruit hanging from the poplar trees

Percival Everett – Die Bäume, S. 266

Dass müssen auch die beiden Ermittler erkennen, spätestens als sie dort in Mississippi die Bekanntschaft mit Mama Z machen, einer hochbetagten Dame, die sich der Dokumentation von Lynchverbrechen gewidmet und alle Spuren von Lynchjustiz in einem privaten Archiv zusammengetragen hat und die das Andenken an die Taten bis heute bewahrt. Möglicherweise liegen auch hier die Gründe, warum es auch in der Folge des Buchs immer wieder zu brutalen Morden mit der gleichen Tatortanordnung kommt, wie sie sich im Lauf des Buchs immer häufiger und schneller ereignen.

„Würde einer von Ihnen mir sagen, was Sie gesehen haben?“, fragte sie.

„Fakt ist, dass wir gar nicht so viel gesehen haben. Aber wenn man den Leuten hier glaubt, dann läuft in dieser Gegend ein übel zugerichteter und wahrscheinlich toter Schwarzer frei herum, der weiße Jungs mit zweifelhafter Vorgeschichte umbringt.“

„Oh.“

„Sehen Sie, was passiert, wenn man Fragen stellt?“, sagte Jim

Percival Everett – Die Bäume, S. 122

Eine Mischung, die nicht aufgeht

Dabei lässt mich die Geschichte von Percival Everett zugegebenermaßen etwas ratlos zurück. Denn was zunächst wie ein handelsüblicher Krimi im rassistischen Hinterland Mississippis beginnt, wandelt sich bald zu einer etwas unentschlossenen Melange aus Ermittlerkrimi, skurriler Figurenparade, Rachefantasie und Rassismus-Beschau voller rasssistischer Sprache, auch auf Seiten der Ermittlungsbehörden.

Ku-Klux-Klan-Zusammenkünfte, brennende Kreuze, Weiße, die den Namen Wesley Snipes tragen, Erinnerungen an den Lynchmord an Emmett Till, mittendrin das aktivistische Gedenken an die tausenden Opfer der Lynchmorde (die mit einer seitenweisen Aufzählung prominent auf die Bühne geholt werden, dann wieder das schwarze MBI-Duo Ed und Jim mit ihrer Anlage zur Buddy-Cop-Comedy, die sich ausweitenden Morde an Weißen nach immergleichen Muster, die bald schon in andere Landesteile überschwappt und andere Ermittler*innen und Forschende inkludiert – und dann auch noch eine etwas müde Donald-Trump-Parodie, der nach der Ermordung eines seiner Minister seinen Rassismus prominent auf großer Bühne ausleben darf.

Wo wollte Percival Everett mit Die Bäume hin? Ich kann es nach der Lektüre nicht wirklich sagen und stehe untentschieden und etwas ratlos vor dem (durch die hohe Kapiteltaktung sehr schnell und gut lesbaren) Roman.

Zwischen Splatter und Rassismusrevanche

Gerade das, was mich an Erschütterung so für seine Prosa eingenommen hat, nämlich das nuancierte Bild eines Professors im freien Fall, das mir sehr naheging, all das vermisse ich an dieser für meine Begriffe recht plumpen Splatterfantasie und Rassismusrevanche im großen Stil. Wo sein Held Zach Wells im vorhergehenden Buch im Gespräch mit Studenten differenziert seine eigenen Erfahrungen mit Rassismus ergründete und sich selbst hinterfragt, da bleibt für solche Feinheiten in Die Bäume kein Platz.

Hier haut Everett mit großer Wucht auf die Zwölf, mordet, meuchelt und hetzt sein dauerfluchendes Personal durch den völlig unkonturierten, dafür umso brutaleren Plot inklusive Horroranleihen. Warum kommt es zu den Morden, was hat sie ausgelöst, was will die Mordserie mit ihrer Brutalität außer Revanche für das vor Generationen erlittene Leid sagen? Was hat es mit einem verschwundenen Transporter mit Leichen auf sich, der zwar eine Rolle spielt, dann aber auch wieder schnell ad acta gelegt wird? Wer steckt wirklich hinter den Morden?

Percival Everett deutet hier verschiedene Möglichkeiten an, entzieht sich dann aber einer wirklichen Deutung oder Ausgestaltung der möglichen Ideen, da das Buch auch nach der inkrementalen Gewalt plötzlich abreißt und mich nach dem schnellen und sehr wilden Ritt einfach stehen lässt.

Fazit

Ich konnte für mich keine wirklich stringente und schlüssige Ausdeutung des Ganzen ausmachen und bleibe – wie schon erwähnt – ratlos ob dieser Tarantino/Faulkner/Stephen King-Mischung irgendwo zwischen Horror, Rassismuskritik, Satire und brutaler Schlachtplatte zurück, der ein bisschen mehr von der gestalterischen Genauigkeit gutgetan hätte, die Percival Everett in Erschütterung bewies.

Auch angesichts der Nominierung für den Booker-Prize für mich eine sehnlich erwartete Lektüre, die dann doch eher Ernüchterung denn Begeisterung zurückließ.


  • Percival Everett – Die Bäume
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-446-27625-3 (Hanser)
  • 368 Seiten. Preis: 26,00 €
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