Category Archives: Literatur

Eleanor Catton – Der Wald

Die Schnittstelle von Umweltaktivismus, Idealen und wirtschaftlicher Eigeninteresse erkundet die Neuseeländerin Eleanor Catton in ihrem Roman Der Wald, der vom Aufeinandertreffen einer Gruppe Umweltaktivisten und eines undurchsichtigen Tech-Milliardärs im Korowai-Nationalpark in Neuseeland erzählt. Literatur, die sich dicht am Puls der Zeit bewegt – und der man etwas weniger Ideologie und mehr psychologische Ausdeutung ihrer Figuren gewünscht hätte.


Das kann nimmer werden!
Wer wirbt den Wald, heißt Bäume von der Erden
Die Wurzel lösen? Wie der Spruch entzückt!
Aufruhr ist tot, bis Birnams Waldung rückt
Bergan, und Macbeth lebt in seiner Hoheit
Bis an das Ziel der Tage, zahlt Tribut
Nur der Natur und Zeit.

William Shakespeare – Macbeth, 4. Akt, 1. Szene

Die Frage von Umweltschutz treibt auch in der Literatur treibt vermehrt auch die Schriftsteller und Schriftstellerinnen um. T. C. Boyle wagte in Blue Skies eine Vorausschau, wie es sein könnte, das Leben in der Klimakatastrophe (Spoiler: nicht viel recht anders als heute), C. Pam Zhang malte sich in Wo Milch und Honig fließen eine Gesellschaft aus, in der die Eliten nicht nur metaphorisch gesprochen abgehoben lebt. Bei ihr hat sich eine exklusive Gruppe rund um einen exzentrischen Milliardär auf die Spitze eines norditalienischen Berges zurückgezogen, um dort im kulinarischen Luxus zu schwelgen, während sich der Rest der Menschheit mit fadem Soja-Algenmehl begnügen muss und in einer Welt voller Smog und geschlossener Grenzen zurückbleibt.

Und auch bei Eleanor Catton ist es nun die Gestalt eines exzentrischen Milliardärs, der in ihrer Geschichte um Umweltschutz und Ausbeutung zu einem entscheidenden Faktor wird. Denn Robert Lemoine, so der Name des stark an Elon Musk und andere pubertäre Tech-Milliardäre erinnernde Mannes, ist im Begriff, ein großes Grundstück im Korowai-Nationalpark zu erwerben.

Begehrlichkeiten im Korowai-Nationalpark

Aber auch Mira Bunting, eine neunundzwanzigjährige Gärtnerin und Gründerin des Umwelt-Kollektivs Birnam Wood hat ein Auge auf das Grundstück geworfen, das infolge eines Erdrutsches im Nationalpark so gut wie nicht mehr zugänglich ist. Sie möchte zusammen mit ihrem Kollektiv die 153 Hektar des Farmlandes bewirtschaften – und so Birnam Wood endlich von kleinen Guerilla-Gärtneraktionen hin zu einer soliden Gruppe formen, die nach der erfolgreichen Bepflanzung des Landes auf ihr Anliegen des Umweltschutzes und lokaler Produktzyklen hinweisen kann.

Eleanor Catton - Der Wald (Cover)

Denn bislang konzentrierte man sich auf öffentliche Brachen, kleine Grünflächen, die man überall dort bepflanzte und begrünte, wo es sich gerade ergab. Im Selbstverständnis der Gruppe war man mit seiner Arbeit bislang so etwas wie der wandernde Wald, der in Shakespeares Drama Macbeth einst die Truppen um Macduff tarnte, ehe dieser aus dem Schutz des Waldes heraus den schottischen König tötete.

Als Mira nun das abgeschnittene Gelände rund um die Farm untersuchen möchte, stößt sie auf Robert Lemoine, der Miras wahres Anliegen schnell enttarnt. Er schlägt ihr einen außergewöhnlichen Deal vor. Denn der Milliardär, der mit Drohnen sein Vermögen gemacht hat und damit die Farm von seinem Vorbesitzer übernehmen will, der wiederum sein Vermögen mit Schädlingsbekämpfung gemacht hat, hat genau das, was Birnam Wood fehlt – nämlich Geld. Er schlägt vor, in das Vorhaben der Gruppe zu investieren und zu einem Finanzier der Guerilla-Gärtner zu werden. Was für den Milliardär durchaus mit Eigennutz initiiert wird, stürzt die Gruppe in schwere Dilemmata.

Darf man das Geld eines solchen Mannes annehmen, der mit seinem Privatflugzeug um die Welt jettet und weder Skrupel noch Moral zu kennen scheint? Wie weit tragen die Ideale der Gruppe und welche Kompromisse darf und sollte man für Umweltschutz eingehen?

Umweltaktivismus und linke Debatten

Das, worüber die Gesellschaft hierzulande gerade zu Hochzeiten des Protests der Letzten Generation zum Teil erbittert und teilweise völlig entgleist (Stichwort „Klima-RAF“) debattierte, schlägt sich auch in Eleanor Cattons Roman nieder. Ähnliche Bruchlinien und viele theoretische Diskussionen, wie man sie aus gegenwärtigen Diskussionen und vorwiegend linken Diskursen kennt, sind auch hier zu erleben, was von Schlagwörtern wie Identitätspolitik bis hin zur kultureller Aneignung reicht.

Dabei schildert Eleanor Catton diese Zusammenkünfte und ideologischen Grabenkämpfe durchaus auch mit Humor und Sinn für ironische Überzeichnung.

Zusammenkünfte bei Birnam Wood liefen weitgehend basisdemokratisch ab. Die Rolle des Moderators oder der Moderatorin wurde turnusmäßig zugeteilt – diesmal einer gutmütigen Kinderpflegerin namens Katie Vander -, und Diskussionen hatten fünf vorgegebene Stufen zu durchlaufen: Aktionen vorschlagen; Detailfragen stellen; Einwände und Bedenken vorbringen; Abänderungen vornehmen und schließlich eine Probeabstimmung, wobei nach oben wackelnde Finger Zustimmung signalisierten, nach unten wackelnde Ablehnung und seitlich wackelnde Enthaltung. Katie begann wie immer damit, alle an das übliche Prozedere zu erinnern und dann Birnam Woods „Drei Prinzipien der Einheit“ vorzulesen. „Entwickeln und schützen einer klassenlosen, nachhaltigen , basisdemokratischen Wirtschaft, die sowohl regenerativ als auch responsiv auf die menschlichen Bedürfnisse eingeht: Agieren soweit wie möglich jenseits der kapitalistischen Bezugssystems: Praktizieren von Solidarität und gegenseitiger Hilfe.“

Eleanor Catton – Der Wald, S. 138

Wenn die Gruppe dann diese gerne mit sperrigen, theorielastigen Sprachmustern ausgefochten Diskussionen ob des unmoralischen Angebots hinter sich gelassen hat, gewinnt Der Wald merklich an Fahrt und Qualität.

Denn nun ist die Aufstellung des Romans klar. Da ist Birnam Wood mit ihren Mitgliedern Shelley und Mira, die die neuen Chancen des Geldes und des Grundstücks nutzen wollen. Da ist der abtrünnig gewordene Tony, der aufgrund des Deals mit dem Drohnen-Milliardärs die Grundsätze der Gruppe verraten sieht – und eigene Forschungen vorantreibt. Und da ist Robert Lemoine, der dort oben im Korowai-Nationalpark seine ganz eigene Agenda verfolgt und stets ganz genau im Blick hat, was bei den Guerillagärtner*innen so vor sich geht.

Der Crash von Interessen

Der Crash dieser gegensätzlichen Interessen und Figuren dort im Hinterland Neuseelands entwickelt eine Dynamik, die Der Wald voranträgt und die großen Fragen im Spannungsfeld zwischen Integrität und moralischer Flexibilität bearbeitet.

Noch deutlich mehr an Wucht und psychologischer Tiefe hätte das Ganze gewonnen, wenn sich Eleanor Catton nicht nur auf das Erzählen des Plots und der sich entspinnenden Handlungsfäden verlegt hätte, sondern auch ihre Figuren mit etwas mehr Tiefe versehen hätte. Tiefe, die dann die Zweifel und Glaubenskämpfe im Inneren der Figuren besser ausgeleuchtet und damit auch tiefer ins Geschehen gezogen hätte, als es nun der Fall ist.

So verharren die Figuren leider zumeist in ihrer Schablonenhaftigkeit. Der Tech-Milliardär ist eben der hinterlistige Überwachungs- und Manipulationsexperte, die Mitglieder von Birnam Wood bleiben abseits von Mira, Shelley und Tony vollkommen schemenhaft und auch die drei Umweltschützer geraten in ihrer Zeichnung oftmals nahe ans Klischee. Sie dürfen zwar viel diskutieren und streiten – recht viel mehr an Charakter und Eindrücklichkeit gewinnen sie dadurch leider auch nicht.

Alles hier ist erkennbar mehr auf die Story denn auf die Figuren hin geschrieben. Das ist schade, denn eigentlich kann Eleanor Catton ja beides, wie sie auch schon in ihrem 2013 mit dem Booker-Prize ausgezeichneten Roman Die Gestirne bewies, der sich dem Goldenen Schnitt des Erzählens und dem personellen Gefüge von 12 Menschen zur Zeit des Goldrauschs in Neuseeland widmete.

Fazit

Nachdem es Eleanor Catton gelingt, den Zeitgeist rund um die Frage von Umweltschutz und dem notwendigen Preis dafür einzufangen, ist Der Wald durchaus reizvoll und lohnt der Lektüre, obschon der Roman in manchen Passagen hart am Klischee und an der Ideologie-Parodie linker Diskurse vorbeischrammt.

Wäre es ihr gelungen, diese Zweifel und Glaubenskämpfe der Guerillagärtner*innen von Birnam Wood auch im Inneren ihrer zu schematischen Figuren abzubilden, wäre Der Wald noch zu einem stärkeren Roman geworden, als er es nun ist.


  • Eleanor Catton – Der Wald
  • Aus dem Englischen von Meredith Barth und Melanie Walz
  • ISBN 978-3-442-75764-0 (btb)
  • 512 Seiten. Preis: 25,00 €
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Terhi Kokkonen – Arctic Mirage

Alles so seltsam hier. Terhi Kokkonen lässt in ihrem Roman Arctic Mirage ein Pärchen im gleichnamigen Hotel in der finnischen Einöde stranden. Dabei merkt man schnell, das alles ein bisschen verschoben und unnatürlich ist. Aber was hat es damit nur auf sich?


Was für eine eindrückliche Eröffnungsszene, die Terhi Kokkonen an den Anfang ihres Debütromans gesetzt hat, für den sie den Helsingin-Sanomat-Literaturpreis erhalten hat:

Nachdem Karo Risto umgebracht hat, steht sie auf. Der Schnee ist blutbeschmutzt. Ristos Hand ist zur Faust erstarrt, die Augen starren ins Leere. Karos Atem beruhigt sich, Schmerz fühlt sie nicht, nur eine seltsame Losgelöstheit. Der Himmel brennt, drei girlandenartige Nordlichter durchdringen grün das Universum. Dafür sind sie hergekommen. „Ich wollte schon immer Nordlichter sehen“, hatte Risto gesagt. Bis eben zeigten sie sich kein einziges Mal.

Terhi Kokkonen – Arctic Mirage, S. 7

Nordlichter sehen und sterben

Handelt es sich um einen weiteren Thriller der immer noch boomenden skandinavischen Noir-Schule, der hier zu lesen ist? Mitnichten. Denn obwohl Terhi Kokkonen mit diesem grell aufblitzenden Mord in ihren Roman einsteigt, ist es vielmehr das leicht surreal-verschoben-Schwebendes, das Arctic Mirage kennzeichnet. Schon der Beginn ihres Romans setzt hier den Ton.

Terhi Kokkonen - Arctic Mirage (Cover)

Denn eigentlich sind Risto und seine Frau Karo nach Lappland aufgebrochen, um dort Nordlichter zu sehen und ihre Beziehung wieder in ruhigere Bahnen zu lenken. Damit ist es aber nicht weit her, denn statt ruhigere Bahnen lenkt Risto das Auto in einem Ausweichmanöver ins Abseits der Straße. Das Paar erleidet bei dem Umfall ein Schleudertrauma und Karos Nase wird in Mitleidenschaft gezogen.

An einen Heimflug ist nicht zu denken und so beziehen die beiden ein Quartier im luxuriösen Hotel Arctic Mirage, in dem eine Übernachtung 700 Euro kostet. Die Unfallaufnahme mit der Polizei, eine ärztliche Untersuchung, all das will noch erledigt sein, bevor es wieder mit dem Rückflug wieder nach Hause geht.

Doch schon über den Tathergang des Unfalls gibt es Unstimmigkeiten. Während Karo ein entgegenkommendes blaues Auto ausgemacht haben will, dem Risto ausgewichen ist, widerspricht ihr Risto entschieden und will kein Auto gesehen haben. Ähnliche Widersprüchlichkeiten und fast ans Surreale grenzende Erlebnisse setzen sich fort.

Mal wandern die beiden auf der Suche nach dem Empfangsgebäude durch die Hotellandschaft, um erst auf den dritten Versuch die Rezeption an der Stelle auszumachen, wo sie zuvor vergeblich suchten. Dann sind Dinge aus der gemeinsamen Hütte verschwunden. Es mehren sich die Zeichen, das etwas faul ist im Staate Lapplands.

Widerstreitende Perspektiven und Brüche

Gekonnt spielt Terhi Kokkonen mit den Brüchen und den widerstreitenden Perspektiven, erzählt neben dem sich etwas erratisch verhaltenden Paar auch von der Empfangsdame Sinikka oder dem behelfsmäßigen Arzt, der den wohlbetuchten Hotelgästen im Arctic Mirage zur Verfügung steht.

Ähnlich wie in der unendlichen arktischen Landschaft Lapplands droht man auch hier im Text schneeblind zu werden und muss stets auf der Hut sein, um den Blick auf das Erzählte zu hinterfragen. Was spielt sich dort wirklich ab zwischen dem Paar, wessen Blick stimmt und warum gibt es in der Logik der Geschichte wieder sanfte Brüche, Leerstellen und Aussetzer?

Terhi Kokkonen hat einen Text geschrieben, der in viele Richtungen zeigt und den man ganz unterschiedlich lesen kann. Spuren weisen zu einem Domestic Noir, der um die Frage von Gewalt und unzuverlässigem Erzählen kreist. Ebenso gut könnte man Fargo-Anleihen in Kokkonens Text ausmachen oder Arctic Mirage auch in der Tradition von Stephen Kings Shining sehen. Auch die fachliche Beurteilung durch die Presse zeigt in ganz unterschiedliche Richtungen. Von Gaslighting bis hin zu einem eskalierenden Paarpsychogramm legen die Rezensent*innen in ihren Bewertungen den Fokus.

Klare Einordnungen gibt es hier nur wenig, auch verweigert sich der Text eindeutigen Antworten und Auflösungen. Vielmehr sind die Fragilität der Beziehung, des eigenen Verhaltens und die dunklen Stellen im Charakter des Gegenüber Themen, die zumindest in meiner Lesart Arctic Mirage bestimmen. Das macht aus dem Text ein einladend rätselhaftes Vergnügen, in dem man sich verirren kann wie Kokkonens Protagonisten auf dem Weg zur Rezeption oder ins nächste Dorf.

Ein hervorragendes Buch, um in größerer Runde über das Gelesene zu sprechen und die eigene Lesart mit der anderer Menschen abzugleichen. Es wird sich auf alle Fälle lohnen und spannende Aspekte an der Geschichte und der eigenen Wahrnehmung zutage fördern!

Erschienen ist der Roman bei Hanser Berlin und wurde von Elina Kritzokat aus dem Finnischen übertragen.


  • Terhi Kokkonen – Arctic Mirage
  • Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat
  • ISBN 978-3-446-27959-9 (Hanser Berlin)
  • 192 Seiten. Preis: 23,00 €
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Suzie Miller – Prima Facie

Vom Ein-Personen-Theaterstück zum Roman. Suzie Miller legt mit Prima Facie die Umformung ihres erfolgreichen Schauspiels in Prosa vor und erzählt engagiert von sexuellem Missbrauch und den Fehlern im Rechtssystem, die die Beweis- und Prozessführung erschweren. Prosa, die ihre Herkunft als Bühnenstück nicht ganz verleugnen kann – und die aber dennoch eine eigene erzählerische Form findet.


Prima Facie hat eine spannende Entstehungsgeschichte hinter sich. So war die Australierin Suzie Miller lange Zeit als Strafverteidigerin tätig, ehe sie mit Prima Facie ein Bühnenstück schrieb, das gleich fünfmal für den prestigeträchtigen englischen Theaterpreis der Olivier Awards nominiert wurde und schließlich eine Auszeichnung als bestes neues Stück erhielt. Dazu noch ein Olivier Award für die Schauspielerin Jodie Comer, die in dem furiosen Solo Anklägerin, Gericht, Opfer und Verteidigung zugleich spielt und die für die Broadway-Adaption gleich auch noch einen Tony-Award erhielt.

Viel Vorschusslorbeeren also für das Stück, das von Australien über das Londoner Westend bis nach Amerika seinen Siegeszug antrat – und das auch hierzulande auf den Spielplänen der Theater zu finden ist, etwa im Münchner Residenztheater.

Nun also eine Buchversion, für die Autorin Suzie Miller nun ein langer Entstehungsprozess ihres Stoffs zu einem Ende kommt, wie sie im Nachwort ihres Romans schreibt. Denn dem Theaterstück ging ein langer Schreibprozess voraus, ehe Miller die theatrale Version dann in einen Roman zurückverwandelte, den es jetzt dank der Übersetzerin Katharina Martl und des Kjona-Verlags auch auf Deutsch zu lesen gibt.

Vom Theaterstück zum Buch

Statt dem intensiven 90-Minuten Stück arbeitet Suzie Miller in ihrem Stück mit vielen Rückblenden, die die erste Hälfte des Buchs bestimmen. In Damals und Vorher betitelten Rückblenden lernen wir die Strafverteidigerin Tessa Ensler kennen.

Suzie Miller - Prima Facie (Cover)

Selbst aus der englischen Arbeiterklasse stammend, hat sie sich mit viel Willen und Talent emporgearbeitet zu einer der besten jungen Strafverteidigerinnen, die am Old Bailey genannten Strafgerichtshof in London ihren Dienst tun. Ihre Mutter und ihren Bruder hat sie ebenso wie ihre Kindheit in einer tristen Wohnanlage im Norden von London längst hinter sich gelassen.

Nach einem Jura-Studium in Cambridge ist sie nun Teil einer Kanzlei, in der talentierte junge Rechtsanwält*innen ihrem Tagesgeschäft nachgehen und sich gegenseitig pushen. Zum Unverständnis ihrer Mutter ist die Freilassung von Beklagten nun das Tageswerk von Tessa. Genaue Vorbereitungen auf Prozesse mit messerscharfen Zeugenvernehmungen vor Gericht bestimmen Tessas Alltag. Oftmals gelingt es der jungen Anwältin mit ihrer ausgefeilten Vernehmungstechnik, eine Freilassung oder eine Einstellung der Prozesse zugunsten ihrer Mandanten zu erwirken.

Die Frage der Schuld

Ob jemand schuldig ist, das interessiert Tessa nicht, besser gesagt will sie es gar nicht wissen, um ihren Job gut zu machen

Selbst wenn ich zu wissen glaube, was mein Mandant getan oder nicht getan hat, hat er noch immer das Recht, seine Geschichte vor Gericht zu bringen, das Recht, angehört zu werden. Sobald du anfängst, deinen Mandanten zu verurteilen, bist du am Arsch. Du verlierst dein Fundament. Das Rechtssystem ist verloren. Du bist verloren.

Suzie Miller – Prima Facie, S. 75

In Prozessen um sexuellen Missbrauch nimmt sie die Zeuginnen gnadenlos ins Verhör. Mit spitzfindigen Fragen sät sie bei den Jurys höchst erfolgreich Zweifel an deren Glaubwürdigkeit. Wenn es der Sache dient, hat Tessa keine großen Skrupel, ihre Geschlechtsgenossinen in einem schlechten Licht erscheinen zu lassen, wenn es der Sache und ihren Mandaten dient.

Dann kommt das Buch nach seiner sehr langen Exposition in der zweiten Hälfte des Romans aber doch noch zum Wendepunkt einer bitteren Pointe, die zuvor sorgsam vorbereitet wurde. Denn Tessa widerfährt das, was sie bei anderen jungen Frauen stets anzuzweifeln wusste – sie wird von einem Kollegen vergewaltigt, nachdem alles zuvor nach einem aufregenden Flirt ausgesehen hatte. Und plötzlich findet sich Tessa auf der anderen Seite im Gerichtssaal wieder und wird von der Strafverteidigerin zur Zeugin der Anklage, die nun selbst unter juristischen Beschuss genommen wird.

Dass Prima Facie ein Theaterstück war, das vermittelt sich vor allem in der zweiten Hälfte des Buchs. Minutiös beschreibt Suzie Miller die Mechaniken des Prozesses, den sie ähnlich wie ihr schreibender Kollege Ferdinand von Schirach qua beruflichem Vorleben inwendig kennt.

Schuld und Bühne

Die Vorbereitungen des Prozesses gegen Tessas Vergewaltiger, die Vernehmung Tessas als Zeugin, die Anwesenheit von Familie und Beklagtem im Gerichtssaal, all das schildert Suzie Miller nahezu in Echtzeit. Der Gerichtssaal wird hier zur Bühne, auf der noch so viel mehr als alleine Tessas Fall verhandelt wird.

Denn Prima Facie findet im Rechtsmittel des Voire Dire, einer Spezialität des englischen Prozessrechts, zum Höhepunkt. Nachdem sich Tessa nun einmal selbst der erniedrigenden Vernehmung und den unverschämten Suggestionen eines Kronanwalts unterziehen musste, kann sie nicht mehr an sich halten und nutzt das Rechtsmittel, um so über die Vernehmungsfragen hinaus selbst Stellung zu ihrem Fall zu nehmen. Sie hält einen eigentlich zwar spontanen, und doch bühnenreifen, flammenden, höchst emotionalen und zugleich intellektuell durchdrungen Monolog, für den die Jury aus dem Saal geschickt wird, um nicht beeinflusst zu werden.

All die Erfahrungen auf beiden Seiten der Missbrauchsprozesse, das gerade Erlebte, das schreiende Unrecht, dass jede dritte Frau in England sexuellen Missbrauch erlebt hat, aber nur jede zehnte einen solchen Übergriff überhaupt zur Anzeige bringt, all das fließt in diese zentrale Szene ein, die dem Roman schon fast auch etwas Aktivistisches gibt.

Hier meint man selbst im Publikum zu sitzen, wenn Tessa aus dem Zeugenstand heraus das patriarchal geprägte Rechtssystem, die Unmöglichkeit einer klaren Beweisführung und den falschen Umgang mit den Opfern solcher Übergriffe anprangert. Hätte es Suzie Miller geschafft, der ersten Hälfte auch ein wenig der Dringlichkeit dieses Appells zu verleihen, hätte Prima Facie noch ein Stück mehr gewonnen.

Fazit

So tritt in Prima Facie stilistisch und gestalterisch alles hinter den klaren Höhepunkt des Romans im Gerichtssaal zurück. Etwas weniger subtil als beispielsweise Ian McEwan in Kindeswohl wird auch in Prima Facie der Gerichtssaal zur Bühne für die ganz großen gesellschaftlichen Fragen, unseres Miteinanders und der Lücken im Rechtssystem. Trotz der vielen Rückblenden sticht das Buch auf der Ebene der Sprache nicht wirklich hervor, da es Suzie Miller nicht ganz gelingt, einen eigenen Sound zu kreieren, sondern in einer stilistisch recht uniformer Schilderung der Vorgänge und der Figurenzeichnung zu verharren.

Davon abgesehen ist das Buch wirklich engagiert und legt seinen Finger in eine Wunde unseres Rechtssystems. So schärft die schreibende Anwältin Suzie Miller zusammen mit einigen anderen Werken in letzter Zeit das Bewusstsein für das, was sexueller Missbrauch und seine Aufarbeitung für Betroffene bedeuten kann – nicht nur vor dem Hintergrund des skandalösen Freispruch Harry Weinsteins in den USA vor wenigen Tagen.


  • Suzie Miller – Prima Facie
  • Aus dem Englischen von Katharina Martl
  • ISBN 978-3-910372-21-4 (Kjona)
  • 352 Seiten. Preis: 25,00 €
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Adriano Sack – Noto

Sizilien als Sehnsuchts- und Trauerort. Adriano Sack erkundet in seinem Roman Noto die Landschaften der italienischen Insel und zugleich die Seelenlandschaften seines Helden, der einen Todesfall verwinden muss. Es entsteht so ein durchaus stimmiger Roman, dem man die oftmals exaltierten und prätentiösen Figuren am Ende gerne nachsieht.


Italien, altes Sehnsuchtsland. Seit jeher zieht es die Menschen in das Land, in dem die Zitronen blühen und in dem la dolce vita alle anderen Aspekte von organisierter Gewalt bis hin zum politischen Rechtsruck locker in den Schatten stellt. Adriano Sack fügt dieser Facette an Italiensehnsucht einen weiteren Roman hinzu und erzählt zugleich von zwei Figuren, die dieser Italiensehnsucht ebenfalls erlegen sind. Sie haben sich Sizilien als Hort ihrer Träume auserkoren.

Doch mit dem Traum von Italien ist es nicht weit her. Denn Adriano, der sich zusammen mit seinem Mann, dem Ich-Erzähler Konrad, ein Haus dort im Süden des Landes gekauft hat, ist verstorben. Und so bricht der Konrad trauerüberwältigt von seiner Wohnung nahe des Tiber in Rom nach Noto auf, um noch einmal zu jenem Haus zurückzukehren, das für seinen Mann und ihn Fluchtpunkt, Zuhause und Verwirklichung all ihrer Sehnsüchte war. Mit im Gepäck hat er einen Teil der Asche seines verstorbenen Partners, irgendwo auf der italienischen Insel will er diese noch verstreuen, um so Abschied zu nehmen.

Trauer in Sizilien

Während er zurückreist, mit der Autofähre nach Palermo übersetzt und sich auch mit dem Gedanken trägt, das gemeinsame Zuhause zu veräußern, drängen immer wieder die Gedanken an das Leben mit Adriano in seine momentane Trauer. Patenkinder, Bekannte und andere Expats, die dem Traum von Sizilien ebenfalls erlegen sind, besuchen Adriano und langsam entfaltet sich ein Bild des Lebens dort auf jener Insel, die an guten Tagen wie dem berühmten Roman Giuseppe Tomasi di Lampedusas nachempfunden zu sein scheint, wie Konrad einmal bemerkt. Ebenso wird auch die tiefe Liebe zwischen den beiden Männern offenbar, die in ihrer Gegensätzlichkeit zueinander gefunden haben.

So gelingt dem Journalisten und Autor Adriano Sack ein Doppelporträt einer großen, queeren Liebe, und einer Hommage an Sizilien, das bei aller Faszination auch seine Schattenseiten hat. Waldbrände und Müllverbrennung im eigenen Garten, Korruption und Einfluss der Mafia sind nur einige Faktoren, die das Leben dort am Fuße des Ätna trüben.

Zu den Verdiensten von Noto zählt, dass der Roman all das in den Blick nimmt und so ein vielschichtiges Bild der Italiensehnsucht und den Kosten dieser Sehnsucht zeichnet. Auch den Prozess der Trauer und die Verarbeitung des Todes seiner großen Liebe Adriano zeigt Adriano Sack nachvollziehbar und glaubwürdig, indem er auch immer wieder einzelne Erinnerungen oder gegenläufige Stimmen des verstorbenen Partners einflicht und sich Konrad in seinen Erinnerungen verlieren lässt.

Katikatureske Figuren und Gwyneth Paltrow im Bärenkostüm

Diese Stärken wiegen die manchmal schon karikatureske Zeichnung vieler Figuren auf, die von skurrilen Auftritten wie Gwyneth Paltrow im Bärenkostüm am Ätna bis zur queeren CDU-Politikerin Annabelle von Gumppenberg reichen, auf deren reichlich dekadenter Hochzeit nicht nur Pasta mit wildem Fenchel und gehobelter Seeschnecke gereicht werden, sondern sogar ein Double von Mick Jagger auftreten darf.

Der belgische Starkoch hat es sich scheinbar einfach gemacht. Laut dem dem handgeschriebenen Hochzeitsmenü, das an jedem Platz liegt, gibt es Crudo di frutti di mare, als rohe Meeresfrüchte. Diese hier sind allderdings so frisch, dass Donatella dramatisch die Hand vor den Mund hält und ruft: „Oh my god. This is pure sex. I want to eat the chef! Grab him, wash him an bring him in my tent!“

Adriano Sack – Noto, S. 310 f.

Derartig überspannte Ausbrüche, Exaltierheit und prätentiöse Figuren und Gehabe gibt es in Noto reichlich. Sie alle werden aber auch immer wieder gebrochen und treffen auf durchaus amüsante Karikaturen wie etwa den an sich berauschten Großfeuilletonisten, der in seiner Hochzeitsrede während der schon erwähnten sizilianischen Vermählung seine eigene Belesenheit und Weltgewandtheit trefflich ausstellt, dafür aber den Anlass seiner Rede ebenso wie den Namen der Braut völlig aus dem Blick verliert.

Fazit

Komik und Tragik, Präzision und Überschwang, Sehnsucht und Flucht liegen in diesem Roman eng beieinander. Dem Journalisten Adriano Sack gelingt das Bild einer großen queeren Liebe und eine Hommage an das vielschichtige Sizilien. Und diesem Bild verzeiht man da die eine oder andere Karikatur auch gerne, besonders, da der Roman von Lizzo über Beyoncé bis zu den Pure Shores zudem einen exzellenten Soundtrack wachruft.


  • Adriano Sack – Noto
  • ISBN 978-3-312-01314-2 (Nagel & Kimche)
  • 336 Seiten. Preis: 24,00 €
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C Pam Zhang – Wo Milch und Honig fließen

Gar nicht so paradiesisch, dieses Land Wo Milch und Honig fließen. In ihrem neuen Roman erzählt C Pam Zhang von einer Enklave reicher Menschen, die mit den Segnungen von Technologie und unermesslichem Reichtum die grassierende Klimakatastrophe überleben wollen. Die Arche Nova trifft dabei auf Spitzencuisine.


Diese Chuzpe muss man erst einmal haben. Denn obwohl ihr eigentlich die formalen Qualifikationen für einen mehr als exklusiven Job als Köchin fehlen, bewirbt sich die namenlose Ich-Erzählerin in C Pam Zhangs neuem Roman trotzdem auf die Stelle als Spitzenköchen für eine Forschungsgemeinschaft in den italienischen Alpen, wie es in der Anzeige heißt.

Der kreativ frisierte Lebenslauf macht es möglich, dass die Erzählerin auf den Berg dort im französisch-italienischen Grenzland eingeladen wird, wo sie für ihre Auftraggeber Menüs auf Spitzenniveau zubereiten soll.

Das Ganze stellt sich als reichlich paradoxer Job heraus. Denn während auf dem abgeschotteten Areal des Bergs sich eine Elite aus finanzkräftigen Investoren und Risikokapitalgebern zurückgezogen hat, um dort zu dinieren und scheinbar allen irdischen Sorgen enthoben die feine Lebensart zu genießen, ist die Welt am Fuß der Berge längst in Chaos und Monotonie versunken.

Kochen in der Klimakatastrophe

C Pam Zhang - Wo Milch und Honig fließen (Cover)

Ein Smog hat die Ökosystem vollständig zum Erliegen gebracht. Die Flora und Fauna verenden, das einzige Nahrungsmittel, das der Menschheit das Überleben sichert, ist Mungoprotein-Soja-Algenmehl. Die USA haben die Grenzen längst dichtgemacht und so sitzt die Erzählerin fern ihrer Heimat fest, als sie dann auch noch die Nachricht vom Tod ihrer Mutter und der Zerstörung der eigenen Wohnung in Chicago erreicht. Inmitten dieser hoffnungslosen Lage ist es der Mut der Verzweiflung, die die Erzählerin zu einer Köchin dort droben auf dem Berg werden lässt.

So experimentiert sie zusammen mit Aida, der Tochter der Milliardärs und Enklavengründers, in der Küche diverse Genüsse aus, die aus den Zuchthäusern der Kolonie stammen. Zwischen Sinnlichkeit und Ekel bewegen sich dabei die Menüs, die sie ihren Gästen kredenzen. Exklusives Fleisch, sogar von schon ausgestorbenen Wollmammuts, Schildkrötenblut oder Pflanzen, die außer dem Land Wo Milch und Honig fließen schon längst verschwunden sind. An scheinbar nichts mangelt es dort oben auf dem Berg, auf den mithilfe der Menüs die reichen Geldgeber angelockt werden sollen, auf dass die Elite dort hoch droben am Berg noch exklusiver und finanzkräftiger werde.

Doch nicht nur mit Menüs soll die Erzählerin die Elite verwöhnen und unterhalten. Schon bald schlüpft sie in die Rolle der verstorbenen Gattin des Enklavengründers, um auch auf diesem Wege eine enge Bindung der Gäste an das wahnwitzige Projekt zu erzeugen Doch wie lange kann es funktionieren, etwas vorzugeben, das man nicht wirklich ist?

Dystopie und Climate Fiction mit biblischen Bezügen

Es ist eine spannende Mischung aus Dystopie, Climate Fiction und Arche Nova-Neudeutung, die C Pam Zhang in ihrem neuem Roman mischt. Die Abschottung der Reichen, der schon fast unverschämte Luxus, an dem auch die Erzählerin ihren Anteil hat, indem sie verschwenderisch mit Zutaten experimentiert und die exklusiven Kochergebnisse dann teilweise in die Schlucht auf dem Berg entsorgt, all das neben der im Hintergrund dräuenden Klimakatastrophe, das bildet den Spannungsbogen dieser Geschichte, die sich nicht nur durch den Titel auf die biblischen Erzählungen bezieht.

Schlussendlich nimmt Zhangs Erzählung auch Züge der biblischen Episode rund um die Arche Nova an, als sich der Milliardär zum modernen Noah berufen fühlt und für den Fortbestand der menschlichen Spezies eigene Auswahlkriterien anlegt, um diese mit sich in einem Raumschiff in ein neues gelobtes Land zu bringen.

Fazit

Mit Wo Milch und Honig bewegt sich Zhang in Nachbarschaft von T. C. Boyle, der sich jüngst in seinem Roman Blue Skies ebenfalls an einer Vorschau unseres möglichen Lebens und Arrangements mit der Klimakatastrophe versuchte – obschon bei Boyle der Himmel noch deutlich blauer ist als in Zhangs düsterer Dystopie. Auch weißt ihr Roman Anklänge an den Fatalismus und die Problemlösungsstragie aus Adam McKays Filmsatire Don’t look up auf.

Sicherlich keine leichte Lektüre, aber eine erschreckend plausible Vorausschau dessen, was uns schon in wenigen Jahrzehnten drohen könnte, wenn wir so weitermachen wie bisher in Sachen Umweltschutz, Abschottung, Raubbau an der Natur und Entkopplung der reichen Eliten von der Gesamtverantwortung für diese Welt. Paradiesisch wird das sicher nicht, wenn wir C Pam Zhang folgen!


  • C Pam Zhang – Wo Milch und Honig fließen
  • Aus dem amerikanischen Englischen von Eva Regul
  • ISBN 978-3-10-397543-7 (S. Fischer)
  • 272 Seiten. Preis: 24,00 €
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