Monthly Archives: Mai 2016

Robert Wilson – Die Stunde der Entführer

Welch konzertierte Aktion: In London werden im Handstreich sechs Sprößlinge von Milliardären auf fantasievolle Art und Weise gekidnappt. Mit außergewöhnlichen Forderungen wenden sich die Entführer an die Eltern der Opfer. Diese sind auf ganz unterschiedliche Art und Weise zu ihrem Reichtum gelangt, von einem deutschen Supermarkt-Tycoon reicht die Palette bis zu einem russischen Mafiachef mit Verbindungen zum Kreml.

Die Stunde der Entfuehrer von Robert WilsonKeine ganz einfache Gemengelage, in die sich der Kidnapping-Consultant Charles Boxer in seinem mittlerweile dritten Fall einmischt (zuvor erfolgten seine Einsätze in Stirb für mich und Ihr findet mich nie), da nicht nur jede der einflussreichen Opferfamilien eigene Strategien verfolgt, sondern auch die Kidnapper Pläne haben, die alles andere als durchschaubar sind. Einfacher wird das Spiel auch dadurch nicht, dass Charles Boxer privat durch die Schwangerschaft seiner Freundin belastet ist. Als auch noch der Freund seiner Ex-Frau gekidnappt wird, droht auch Boxer den Überblick zu verlieren.

Über eines muss man sich bei Die Stunde der Entführer im Klaren sein. Die Geschichte ist mehr als nur konstruiert (jeder der schon größere Pläne geschmiedet hat, weiß das der Zufall alles andere als berechenbar ist. Dass hier ausgerechnet eine derart komplexe und feingliedrige Operation wie die Entführung von sechs Kindern innerhalb zweier Tage an verschiedenen Orten klappen soll erfordert schon ein gewisses Quantum an Nachsicht des Lesers), doch Wilson macht seinen Job gut.

Wie stets bei ihm wächst sich aus dieses Anfangsereignis schnell in globale und höchst komplexe Bahnen aus, gleich einem Stein, den man in einen ruhigen Teich wirft. CIA, russische Geheimdienste, Edward Snowden, Folter in amerikanischen Militärgefängnissen – Wilson wirft zahlreiche Elemente in seinen Plot, bei der Leser immer wieder ordnen und rekapitulieren muss, um bei der verwicklungsreichen Geschichte durchzusteigen. Wer sich auf die komplexe Welt Charles Boxers einlässt, bekommt hier einen schnell von Handlungsstrang zu Handlungsstrang hüpfenden Thriller serviert, der nahtlos an seine Vorgänger anknüpft.

 

 

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Ian Rankin – Das Gesetz des Sterbens

Väter und Söhne

Obwohl John Rebus sich schon eigentlich längst in den Ruhestand verabschiedet hat, kommt Ian Rankin nicht ohne seine prägendste Figur aus und gönnt ihr nun in Das Gesetz des Sterbens abermals einen Einsatz. Mit an Bord ist auch wieder Rebus‘ alte Gefährtin Siobhan Clarke und Malcom Fox, der bei den Internen Ermittlern zuhause ist. Das Trio hat sich bereits in Schlafende Hunde warmgespielt und darf nun in der Triobesetzung den neuesten Fall entwirren.

Das Gesetz des Sterbens von Ian Rankin

„Das Gesetz des Sterbens“ von Ian Rankin

Wobei der Satz mit dem Trio eigentlich auch nicht stimmt, vielmehr arbeitet den Ermittlern eine vierte, altbekannte Kraft zu. Die Unterweltgröße „Big Ger“ Cafferty spielt nämlich eine zentrale Rolle. Auf den Gangster wurde nämlich geschossen, nachdem ihm vorher eine schriftliche Drohung zuging. Nun treibt den Kriminellen eine große Furcht um, die nicht kleiner wird, als bekannt wird, dass Dave Minton, ein angesehener Kronanwalt bei einem scheinbaren Raubüberfall erschlagen wurde. Und auch in dessen Haus findet sich die gleiche Nachricht, die Big Ger bei sich vorfand. Was verbindet die Männer und wer will ihnen an den Kragen?

Langsam führt Ian Rankin die Fäden in seinem neuen (inzwischen auch schon 19. Fall für Rebus) zusammen, während draußen in Edinburgh ein Bandenkrieg droht, in den verschiedene Parteien verwickelt sind. Neben all den erzählerischen Fäden zieht sich das Thema der Väter und Söhne klar erkennbar durch Das Gesetz des Sterbens, denn auch so hätte das Buch heißen können. Während Malcom Fox‘ Vater im Sterben liegt, fechten andere Charaktere ihre ganz eigenen Kämpfe mit dem Erbe der Väter. Soll man sich an alten Feinden rächen? Einen Neustart wagen? Das Erbe der Väter um jeden Preis bewahren? Rankins Figuren finden im Lauf des Buchs ganz eigene Wege, um diese Fragen für sich zu beantworten.

Das Gesetz des Sterbens ist zwar nicht der stärkste Titel aus dieser nun schon fast 30 Jahre laufenden Reihe, gehört aber ins obere Mittelfeld. Auflösung und Grundidee des Plots sind etwas konventionell geraten, dennoch gelingt es Ian Rankin auch mit diesem (von Conny Lösch gewohnt solide übersetzten) Streich den Leser bei der Stange zu halten. Da darf Rebus gerne noch einmal aus seinem Ruhestand zurückkommen und durch Edinburgh streifen!

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Sasa Stanisic – Fallensteller

Im Jahr 2014 gelang Saša Stanišić der bisher größte Erfolg in seiner Karriere als Schriftsteller: Mit seinem zweiten Buch Vor dem Fest errang er den Preis der Leipziger Buchmesse und war in der Folge ganz weit oben in den Bestsellerlisten dieses Landes zu finden. Nun gibt es zwei Jahre nach diesem Triumph neues Material vom bosnischen Erzähler, diesmal in Form von Kurzgeschichten.

Fallensteller von Saša Stanišić

Diese tragen Titel wie Billard Kasatschock oder Die große Illusion am Säge-, Holz-, und Hobelwerk Klingenreiter Import und Export. Den Hauptteil des Buches mit über 100 Seiten macht die titelgebende Erzählung vom Fallensteller aus. Darin kehrt er wieder nach Fürstenwalde zurück, jenes fiktives Dörfchen in der Uckermark, das er schon in Vor dem Fest erkundete. Nun lässt er den Fallensteller durchs Dorf streichen und beobachtet aus den Augen der Dorfbewohner das wunderliche Geschehen rund um Wölfe, Fallen und Dorfgemeinschaft. In anderen, kürzeren Erzählungen blickt er auf Georg Horwath, ein Handlungsreisender, irgendwo lost in translation oder einen leicht tumben und greisen Fabrikerben, dessen größtes Hobby die Zauberei ist. Mal kürzer, mal länger, mal versponnen, mal klarer schreibt sich Stanišić durch sein ganz eigenes Universum.

Seine Kurzgeschichten sind höchst heterogen und stellen damit eine krasse Abkehr zum meinem letzten Erzählband mit Kurzgeschichten von Anthony Marra dar. Wo bei Marra noch ein durchgängiges Erzählkonzept herrschte, sind hier die Fäden subtiler verbunden, zwar tauchen manchmal Charaktere oder Motive auch in anderen Erzählungen wieder auf, doch merkt man dem Fallensteller klar den versammelnden Charakter von Erzählungen jeglicher Couleur an. Viele der Erzählungen wurden schon einmal publiziert, so stammt der Billard Kasatschock etwa aus dem Jahr 2005.

Erzählungen, die irgendwo zwischen magischem Realismus, Dada, Alltagsbetrachtungen und Chiffren liegen, eingepackt in eine höchst außergewöhnliche Sprache, die in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ihresgleichen sucht!

 

 

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Marceline Loridan-Ivens – Und du bist nicht zurückgekommen

Dies ist kein Buch für zwischendurch, keine Nebenbei-Lektüre, kein erbaulicher Inhalt – und doch lohnt Und du bist nicht zurückgekommen von Marceline Loridan-Ivens ungemein.

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Das Buch ist ein Brief, den sie an ihren Vater schrieb, nachdem dieser der Vernichtungsmaschine der Nationalsozialisten nicht entkam. Während sie in Birkenau eingesperrt war, wurde ihr Vater in das Lager Auschwitz deportiert, wo Loridan-Ivens ihn aus den Augen verlor. Ihr ganzes Überleben war ein Kampf gegen die Erinnerung, und nun schreibt sie als hochbetagte Dame diesen Brief, der ihre Erlebnisse und das Verarbeiten dieser Erlebnisse auf 110 Seiten ausbreitet.

Betroffen liest man in diesem – wie vom Insel-Verlag nicht anders gewohnt – toll gestalteten Band und fühlt sich in den Schrecken, der nun siebzig Jahre zurückliegt, ein. Ein wertvolles Dokument einer Zeitzeugin, das gelesen werden sollte!

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Thomas Hettche – Pfaueninsel

Die Pfaueninsel inmitten der Havel, 22 Kilometer Luftlinie von Berlin entfernt. Diese Insel hat eine höchst wechselvolle Geschichte hinter sich, die Thomas Hettche in seinem neuen, mit zahlreichen Literaturpreisen gekrönten Roman wieder zum Leben erweckt. Der Mikrokosmos dieser Insel ist zugleich eine Schilderungen der Verwerfungen im 19. Jahrhundert und eine Einführung in die Welt der Gartengestaltung nebst einem Ausflug in die Geschichte des Preußischen Adels.

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Erzählt wird die Geschichte dabei aus der Sucht von Maria Dorothea Strakon, einem Schloßfräulein, die mit ihrem Bruder auf der Pfaueninsel lebt. Das Besondere hierbei: die Geschwister sind kleinwüchsig und wurden vom Preußischen König zur Pflege und als Faszinosum auf die Insel geschickt. Doch nicht nur das kleinwüchsige Geschwisterpaar bewohnt die Insel. Auch verschrobene Hofgärtner, ein echter Hawaiianer und weitere wunderliche Gestalten bevölkern das Eiland in der Havel.

Das Personal, das Thomas Hettche dabei in seiner Erzählung versammelt, ist ebenso außergewöhnlich wie einprägsam. Immer wieder wirft der Leser dabei Blicke auf Marias Leben gleich einem der vielen Beobachter, die auf die Insel kommen, um Pflanzen, Tiere und die außergewöhnlichen Menschen zu beobachten oder vielmehr zu begaffen.

Die Perspektive des kleinwüchsigen Schlossfräuleins ist dabei gut gewählt. Denn außer einem Grabstein mit den Lebensdaten gibt es eigentlich keine Informationen über die reale Maria Dorothea Strakon. Dies lässt Hettche viel Raum zur kreativen Gestaltung, die er zu nutzen weiß. Wie einst Günter Grass mit Oskar Mazerath einen Protagonisten ersann, der einen ganz eigenen Blick auf die Welt hat, so schafft es auch Hettche hier, aus Maries Augen den Blick auf die Welt zu wagen. Obwohl sie eigentlich nur auf Augenhöhe mit den Pflanzen der Insel ist, schafft sie es mit eine eigenen Blickwinkel, die Eigenheiten von Adel, Natur, Sexualität und Zeitenwenden zu beleuchten.

Höchste Sprachkunst von Thomas Hettche

Pfaueninsel zeugt von höchster Sprachkunst. Mit welchen gewandten Formulierungen und Beschreibungen der Autor seine Geschichte auskleidet, das sucht seinesgleichen. Ein Vergnügen allerhöchster Güte, welches man nicht so oft im Bücherregal findet!

Gleich der im Buch beschriebenen Gartenkunst und Weggestaltung ist auch dieses Buch ein Roman, der durch die Zeit zwischen Preußischen Adelsnachwehen und Beginn der Industrialisierung (hier beeindruckt besonders die dichte Beschreibung des Berliner Feuerlands) entlangmäandert und viele Aussichtspunkte und Sichtachsen öffnet. Die vielen Preise, die das Buch bislang einheimste, sind meiner Meinung nach durchaus gerechtfertigt. Falsch macht Thomas Hettche in diesem Buch überhaupt nichts. Sprache, Konstruktion des Plots und inhaltliche Durchdringung sind aufs Wunderbarste geraten und machen das Buch zu einem Genuss!


Bruder dieser Erzählung im Geiste ist für mich Robert Seethalers Ein ganzes Leben. Auch ihm gelingt es hier, ein einfaches Leben mit großer Kunstfertigkeit zu schildern. Die Leben werden dazi zum Spiegel der Geschichte eines ganzen Jahrzehnts. Für beide Titel uneingeschränkte und begeisterte Empfehlung!

  • Thomas Hettche – Pfaueninsel
  • ISBN: 978-3-462-04599-4 (Kiepenhuer & Witsch)
  • 352 Seiten, 19,99 €
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