Monthly Archives: März 2022

Archil Kikodze – Der Südelefant

Ich finde mich auf der Cinamzgvrischwili-Straße wieder. Für meine heutige Route gab es von Anfang an keinen Plan, aber nachdem ich dem Haus einen Besuch abgestattet habe, wird sie noch chaotischer. Jetzt will ich heim, aber bei mir ist ja Tazo, und zum ersten Mal an diesem Tag, zum ersten Mal im Leben bin ich von ihm genervt, so sehr verlangt es mich danach, mich auf mein Sofa fallen zu lassen, das Telefon, den Rechner, das Internet abzuschalten, mich abzuwenden von allem und andertalb Tage lang bloß an die Decke zu starren.

Bis heute Abend wird all dies jedoch nicht möglich sein, und ich bezweifele, ob ich es heute Abend hinkriege, lange vom Rechner fernzubleiben. Und so werde ich herumlaufen, bis es so weit ist, werde frische Luft schnappen.

Archi Kikodze – Der Südelefant, S. 184

Ein Mann wandert durch Tbilisi. Seine Wohnung hat er einem alten Freund für ein Tête-a-tête zur Verfügung gestellt und nun durchmisst er die Straßen und Gassen der georgischen Hauptstadt – und seine eigenen Erinnerungen.


Schon früh morgens verlässt der Erzähler sein Heim, das er seinem alten Freund Tazo zur Verfügung gestellt hat. Von seiner Nachbarschaft aus wandert er in den nahegelegenen Park, trifft alte Bekannte, kehrt in Cafés und McDonalds-Filialen ein, immer in Begleitung seines Handys, seines Androiden, wie er es nennt. Ihn treiben die Erinnerungen an seine Ex-Frau und seine Tochter um, seine eigene Familiengeschichte, sein Werdegang als Regisseur, seine Freundschaften und die Vergangenheit, die sich in Tbilisi an allen Ecken und Enden offenbart.

Ein wacher Verstand ist vonnöten

Archil Kikodze - Der Südelefant (Cover)

Der Südelefant ist ein Buch, das man mit wachem Verstand lesen muss, und das keine Unaufmerksamkeit verzeiht. Archil Kikodze hat ein ungemein dichtes Textgewebe angefertigt, bei dem innere und äußere Handlung beständig ineinanderfließen, sich Erinnerungsschichten überlagern und die Gedanken immer wieder abschweifen. Das macht die Lektüre spannend, aber eben auch wirklich fordernd. Genauso wie bei einem Stadtspaziergang lohnt es sich, mit offenen Augen und offenem Geist durch Kikodzes Tbilisi zu wandern. Und wie bei einer interessanten Stadt würde ich behaupten, dass man auch beim ersten Besuch in diesem literaturgewordenen Straßen- und Erinnerungslabyrinth keinesfalls alles erfasst.

Dieses Buch lädt dazu ein, es ein oder vielleicht sogar noch zweimal hintereinander zu lesen, um die Abschweifungen und Bezüge wirklich zu erkennen. Denn Archil Kikodze mutet den Leser*innen einiges zu. Er geht bis in die Zeit des georgischen Bürgerkriegs zurück, erzählt von den verschiedenen Einflüssen auf die Stadt und ihre Bewohner*innen

Ein Blick auf Tbilisi und Georgien

Denn wenn Der Südelefant etwas zeigt, dann das: Tbilisi und Georgien im Ganzen ein heterogenes Land, das vielen Verwerfungen und Veränderungen unterworfen war und ist. Mingrelien, Abchasien, Swanetiens – alle diese Regionen haben Einfluss und prägen den Charakter von Tbilisi, den des Landes und den des Erzählers, dessen wechselvolle Vergangenheit sich erst langsam aus dem Text herausschält. Die Beziehung zu seinem Kind, sein Schaffen als Regisseur, sein Scheitern, all das enthüllt sich allmählich und braucht jenen schon angesprochenen wachen Geist, um alles zu erfassen. Wer vor solcher Leseearbeit zurückschreckt, der wird mit Archil Kikodzes Buch freilich nicht glücklich werden.

Alle anderen, die Herausforderungen bei der Lektüre zu schätzen wissen und ein Buch auch zur Wiederlektüre zur Hand nehmen, sei dieses Buch ans Herz gelegt, gerade eingedenk der Tatsache, dass georgische Literatur hierzulande ja normalerweise selten erhältlich ist und uns hier ein kluger und gebildeter Erzähler an die Hand nimmt und durch die Stadt strawanzt.

Schön, dass dieses Buch im Rahmen von Georgien als Gastland der Frankfurter Buchmesse 2018 von Nino Haratischwili und ihrem Mann Martin Büttner aus dem Georgischen ins Deutsche übertragen wurde. Da verzeiht man auch kleine Inkonsistenzen in der Übersetzung, etwa wenn einmal vom Fangesang der Anhänger des FC Liverpool die Rede ist, die Liverpool, du bist nicht alleine singen, und in einer anderen Erinnerungspassage dann aber das bekannte „You’ll never walk alone“ anstimmen.

Fazit

In der Tradition großer Flaneurs- und Tagesromane, allen voran natürlich James Joyce‘ Ulysses ist Der Südelefant von Archil Kikodze ein anspruchsvoller Roman, der wie ein literaturgewordenes Schlüsselloch funktioniert, das uns in Form dieses Tbilisi-Spaziergangs einen Blick auf Georgien und dessen wechselvolle Geschichte erlaubt. Außergewöhnliche Literatur, die es ohne Georgien als Gastland der Frankfurter Buchmesse wahrscheinlich nicht ins Deutsche geschafft hätte – gut so, dass das geschehen ist!


  • Archil Kikodze – Der Südelefant
  • Aus dem Georgischen von Nino Haratischwili und Martin Büttner
  • ISBN 978-3-550-08197-2 (Ullstein)
  • 272 Seiten. Presi: 22,00 €
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Claire Keegan – Kleine Dinge wie diese

Manchmal braucht es eine kleine Tat im Leben, die allen Konventionen widerspricht, die man aber trotzdem tun muss, um mit sich im Reinen zu bleiben. Dem Kohlehändler Bill Furlong offenbart sich jener entscheidende Moment kurz vor dem Weihnachtsfest 1985. Inmitten der Kälte des irischen Winters beschließt er in Claire Keegans Geschichte, zum Retter einer jungen Frau zu werden.


Während sie weitergingen und immer mehr Menschen begegneten, die Furlong kannte und doch nicht wirklich kannte, fragte er sich, ob es überhaupt einen Sinn hatte, am Leben zu sein, wenn man einander nicht half. War es möglich, all die Jahre, die Jahrzehnte, eine ganzes Leben lang weiterzumachen, ohne wenigstens einmal den Mut aufzubringen, gegen die Gegebenheiten anzugehen, und sich dennoch Christ zu nennen und sich im Spiegel anzuschauen?

Claire Keegan – Kleine Dinge wie diese, S. 103

Bill Furlong beantwortet diese Frage einfach, indem er handelt. Nicht lange überlegt, Pro und Kontra abwägt, lange Diskussionen und Erörterungen anstößt und abwartet. Nein, er stimmt mit den Füßen ab und wird zum Retter einer jungen Frau und erfüllt die christliche Weihnachtsbotschaft damit mit ganz eigenem Leben.

Hinter den Mauern des Magadalenenheims

Claire Keegan - Kleine Dinge wie diese (Cover)

Im kleinen irischen Städtchen New Ross beliefert Bill viele Haushalte mit Kohle. Die Lage im Land ist prekär, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit greifen um sich in jenem Winter 1985, von dem Claire Keegan erzählt. Daheim hat Furlong vier Töchter und lebt mehr oder minder von der Hand in den Mund. Das Kohlegeschäft wirft wenig ab, viele Abnehmer*innen stunden vor Weihnachten die Rechnung. Gemeinsam mit seiner Frau muss Bill deshalb äußerst gut haushalten, um über die Runden zu kommen.

In dieser einfachen Existenz hat sich Bill aber gut eingerichtet – und doch wirft ihn eine Begegnung hinter den Mauern des Magdalenenheims nachhaltig aus der Bahn. In jenem Magdalenenheim vor den Toren von New Ross betreiben Nonnen eine Wäscherei, die für ihre Qualität weithin gerühmt wird. Doch die Mädchen, die hinter den Klostermauern in der Obhut der Nonnen leben, sie scheinen nicht ganz so makellos zu sein. Man munkelt von gefallenen Mädchen, unehelichen Kindern und großer Schande, die solche Mädchen im erzkatholischen Irland nach allgemeiner Auffassung auf sich geladen hätten.

Eine Kohlelieferung mit Folgen

Als er nun kurz vor Weihnachten die Nonnen beliefert, wird er bei einer zufälligen Begegnung von einem jungen Mädchen angefleht, sie zum Fluss zu bringen, wo sie sich ertränken will. Zwar unterbinden die Nonnen weiteren Kontakt zu den Insassinnen des Heims, aber dennoch entdeckt Bill bei seinen Lieferfahrten ein weiteres Mädchen, das im Kohleschuppen eingesperrt war. Den Beteuerungen der Nonnen schenkt Bill keinen Glauben und so reift in ihm der Entschluss, kurz vor Weihnachten ein Werk der Barmherzigkeit und Nächstenliebe zu verrichten. Er befreit die junge Frau heimlich aus dem Kohleschuppen des Klosters und nimmt sie mit zu sich nach Hause.

Eine Weihnachtserzählung

Es ist ein knappes, aber dafür umso intensiveres Erzählung oder Novelle, die Claire Keegan hier in der Übersetzung von Hans-Christian Oeser vorlegt. Sie erzählt von Mitmenschlichkeit und der kleinen Grenzüberschreitung, die es braucht, um sich selbst noch in bestimmten Momenten in die Augen blicken zu können. So ist Bill Furlong auch kein Held sondern ein einfacher Mann, der einmal im Leben etwas Richtiges tun möchte, das ihm sein Herz befiehlt, auf dass er mit sich weiterhin im Reinen sein kann.

Weihnachten ist ja eh die Zeit, in der man die eigene Mitmenschlichkeit und Gnade erkennt, besonders in der Tradition der angelsächsischen Weihnachtserzählungen. Das reicht von Charles Dickens‘ Weihnachtsgeschichte bis hin zum kleinen Lord Fauntleroy, der das Herz seines strengen Großvaters erweicht und in ihm die Mitmenschlichkeit wieder erweckt. Claire Keegan fügt sich mit Kleine Dinge wie diese in diesen Kanon ein und liefert eine Erzählung, die eine universelle Botschaft besitzt. In dieser Erzählung lodert ein humanistischer Glutkern, der inmitten der Kälte des irischen Winters hell lodert.

Das Grauen der Magdalenenheime

Und nicht zuletzt wirft die Autorin einen sprichwörtlichen Blick hinter die Mauern der Magdalenenheime, die für zahlreiche Frauen inkommensurables Leid bedeuteten. Im Nachwort ihrer Geschichte weist die Autorin darauf hin, dass die Geschichte dieser Heime immer noch nicht richtig aufgearbeitet ist. Das letzte Magdalenenheim auf der irischen Insel schloss erst 1996 und bis heute ist unbekannt, wie viele Frauen und Kinder in den Heimen gehalten wurden oder umgekommen sind. Keegan spricht von ungefähr 30.000 Frauen, die dieses Schicksal ereilt hat.

Im vergangenen Jahr wurde eine Untersuchung vorgestellt, in der 18 Heime unter die Lupe genommen wurden, in denen über 9000 Kinder starben, die wegadoptierten Kinder hier nicht eingeschlossen. Wenn man Claire Keegans Erzählung liest, bekommt man eine Ahnung davon, wie tiefgreifend das System dieser Heime war und wie mächtig das System der Kirche, das solche Einrichtungen stützte und protegierte.

Fazit

Kleine Dinge wie diese erzählt von der Tat eines Einzelnen, der seinem Gewissen folgte und sich diesem System entgegenstellte. Sie zeigt mit Bill Furlong einen Mann, der seinem Herz und seiner Mitmenschlichkeit folgt und der die christliche Botschaft im Gegensatz zu den Nonnen im Magdalenenheim wirklich lebt. Eine Weihnachtserzählung, eine schmerzhafte Auseinandersetzung mit den dunklen Stellen der irischen Vergangenheit und ein Buch, das demonstriert, wie einfach Heldentum aussehen kann.


  • Claire Keegan – Kleine Dinge wie diese
  • Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
  • ISBN 978-3-96999-065-0 (Steidl)
  • 109 Seiten. Preis: 18,00 €

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Jonathan Lee – Der große Fehler

„Andrew Haswell Green war eine Persönlichkeit, ohne die es keinen Central Park, kein Metropolitan Museum of Art, keine New York Public Library und keinen Zusammenschluss von Manhattan und Brooklyn zu einer einzigen Stadt geben würde. Und doch ist er völlig in Vergessenheit geraten, was erstaunlich ist! Sein einziges wirkliches Denkmal ist eine Steinbank im Central Park, die mit Taubenkot bedeckt ist. Ich bin vor zehn Jahren zufällig auf diese Bank gestoßen. Ich las die Inschrift, die ihn als „Vater des Greater New York“ bezeichnete. Und ich wurde neugierig. Wer war diese Person? Warum hatte ich noch nie von ihm gehört? Und wie kam es dazu, dass dieser Verfechter des öffentlichen Raums 1903 am helllichten Tag in der Park Avenue erschossen wurde, was etwas voreilig als „Mord des Jahrhunderts“ bezeichnet wurde?“

Jonathan Lee im Interview mit Stephanie Uhlig über seinen Roman „Der große Fehler“

So Jonathan Lee im Interview zu seinem Roman, mit dem der 1981 in England geborene Autor nun zum ersten Mal auf dem deutschsprachigen Buchmarkt in Erscheinung tritt. Ähnlich wie zuletzt Christian Schulteisz oder Matthias Lohre bringt auch Jonathan Lee in seinem Roman eine von der Weltgeschichte fast vergessene Person zurück auf die ganz große Bühne. Er erzählt in Der große Fehler von einem Mann, ohne den New York nicht das New York wäre, das man heute kennt.


Dabei beginnt alles mit einem Mord. Der betagte Andrew Haswell Green wird vor seinem Haus in New York von einem Schwarzen angesprochen, der ihn vor den Augen der Öffentlichkeit erschießt. Der Täter wird festgenommen – und somit beginnt sich die Geschichte zu entspinnen. Im Folgenden erzählt Lee von den Hintergründen des Verbrechens und den Ermittlungen des Polizisten McClusky, die dann den titelgebenden großen Fehler ans Tageslicht bringen werden, der zum Tode Greens führte.

Genauso interessiert sich Lee aber auch für das Leben seines Helden, das er in chronologischen Etappen zwischen den Ermittlungsstrang setzt. Die Qualität des Buchs – um das gleich vorwegzunehmen – besteht nun auch darin, dass diese beiden Erzählstränge keineswegs lose nebeneinander herlaufen, sondern dass Lee sie immer wieder mal auf subtilere, mal auf augenscheinlichere Art und Weise miteinander verknüpft, sodass er mit Der große Fehler seinem Porträtierten erstaunlich nahekommt.

Von Massachusetts bis nach Trinidad

Jonathan Lee - Der große Fehler (Cover)

So wird Andrew Haswell Green 1820 als siebtes von elf Kindern im ländlichen Massachusetts geboren. Nach einer amourösen Eskapade die so gar nicht den Konventionen entsprach, beschließen Andrews Eltern, ihren Sohn nach New York zu schicken, wo er ins Handelsgewerbe einsteigen soll. Dort in New York lernt er den älteren Samuel Tilden kennen, der zur Liebe und Inspiration seines Lebens werden soll. Tilden führt ihn in das Leben der New Yorker Oberschicht ein, er lernt die Bücherei kennen, die damals mit ihren Jahresgebühren und elitären Zugangsregeln allerdings allein den Privilegierten offenstand. Nachdem die Nähe der beiden Männer unerwünschte Aufmerksamkeit erhält, muss Green aus der Stadt fliehen. Er entweicht nach Trinidad, wo ihn sein Begehren und die Erinnerungen an New York und Samuel doch nicht wirklich loslassen.

Er kehrt nach einer weiteren unrühmlichen Eskapade Hals über Kopf nach New York zurück, wo er zum wichtigen Impulsgeber avanciert, der das New York zu formt, das wir heute kennen. So verschmilzt er Brooklyn mit Manhattan, hebt bisherige Stadtgrenzen auf und gestaltet getrieben von einer unbändigen Kraft das Stadtbild neu. Die Bücherei soll nicht mehr nur Reichen offenstehen, vielmehr strebt er eine Bücherei für alle an, was zur Gründung der New York Public Library führt. Ein Park in der Mitte der Stadt soll für alle Schichten geöffnet sein und Erholung und Entspannung verheißen (so tragen sämtliche Kapitel auch Namen der Eingangstore des Central Park). Doch damit nicht genug.

Ein Mann mit vielen Facetten

In den Nachworten nach dem Mord an Green gibt es viele weitere Facetten des Mannes zu entdecken, die Lee in seinem Buch mal deutlicher anreißt und manchmal auch nur kurz touchiert:

Andrew Haswell Green
Andrew Haswell Green

Zu vielen Würdigungen, die Mrs. Bray sich vorgestellt hatte, kam es tatsächlich. Mächtige Menschen beschrieben ihren Arbeitgeber als Pionier. Alle fanden einen anderen Zugang für ihre Nachrufe, unterschiedliche Perspektiven, aus denen sie seine Errungenschaften betrachteten – seine Parks, Brücken, Museen. Seine Bemühungen, ein faireres, geordneteres öffentliches Schulsystem in New York einzurichten, als er Präsident des Bildungsrates war. Seinen unermüdlichen Kampf gegen die Korruption als oberster New Yorker Rechnungsprüfer. Seine maßgebliche Rolle bei der Gründung der ersten großen öffentlichen Bibliothek der Stadt, nach dem Tod seines von Büchern besessenen Freundes Samuel Tilden 1886. Oder dass er spät noch im Leben gleichsam im Alleingang die bestehende City of New York mit Brooklyn, dem westlichen Queens County und Staten Island zu dem Greater New York verbunden hatte, wie wir es heute kennen.

Jonathan Lee – Der große Fehler, S. 76

Dass dieser Mann heute völlig unbekannt ist und gerade einmal die im Interview zitierte mit Vogelkot übersäte Bank an einem versteckten Ort des Central Park an diesen Mann erinnert, verblüfft. Jonathan Lee gelingt es in seinem Buch auf alle Fälle sehr gut, dass Andenken an Andrew Haswell Green hochzuhalten. Er erzählt von queerem Begehren, schwindelerregenden Bauplänen und einem Mann, der von Ideen und Visionen getrieben war und sein ganzes Leben in den Dienst der Stadt New York setzte. Lee macht dabei allerdings auch nicht den Fehler, seinen Protagonisten zu verklären, sondern schafft ein Porträt mit Ecken und Kanten.

Fazit

Der große Fehler ist ein Denkmal für einen Mann, ohne den New York deutlich anders aussähe und sicherlich nicht so lebenswert wäre, wie es heute ist. Dieses Buch zu lesen ist alles andere als ein großer Fehler, sondern eine lohnenswerte Geschichtsstunde, gut geschrieben und außerordentlich informativ.


  • Jonathan Lee – Der große Fehler
  • Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
  • ISBN 978-3-257-07191-7
  • 380 Seiten. Preis: 24,00 €
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Maddalena Fingerle – Muttersprache

Nein, ein Sympathieträger ist dieser Paolo Prescher nicht, der uns in Maddalena Fingerles Debüt Muttersprache begegnet. Beständig kreist er um sich, arbeitet sich an seiner Familie, seiner Heimatstadt Bozen und deren Zweisprachigkeit ab und kämpft mit Wörtern, die ihm von anderen beständig dreckig gemacht werden. Doch leider vermag die Grundidee den Roman nicht ganz zu tragen.


Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte »Geist«, »Seele« oder »Körper« nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgend welcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgend welches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.

Hugo von Hoffmannsthal – Der Brief des Lord Chandos, S. 12

Da ist er, der Pilz, der auch das Cover von Maddalena Fingerles Debütroman ziert. Aber es ist nicht nur der modrige Pilz, der Hugo von Hoffmannsthals Chandos-Brief mit Muttersprache verbindet, es ist auch das Grundproblem der unzureichenden Sprache, das die Erzähler in beiden Werken umtreibt. Denn während Lord Chandos die Worte im Mund wie modrige Pilze zerfallen, sind es bei Paolo Prescher die Worte, die ihm beständig dreckig gemacht werden.

Vom Aufwachsen in der „Scheißstadt“ Bozen

Paolo wächst zusammen mit seiner älteren Schwester Luisa in Bozen auf. Sein Vater leidet unter Aphasie beziehungsweise Mutismus und redet nicht mehr. Stattdessen klebt er auf alle Gegenstände in der heimischen Wohnung Zettel mit deren Bezeichnung. Seine Mutter hingegen rettet sich in die Kunst, beständig produziert sie neue Werke, was Paolo anwidert. Für ihn ist sie eine blöde Kuh, die er verachtet.

Überhaupt ist es viel, dass den jungen Erzähler anwidert. Seine Heimatstadt Bozen ist ihm in ihrer (vorgetäuschten) Mehrsprachigkeit ein Graus, er arbeitet sich an den zweisprachigen Bezeichnungen von Bolzano/Bozen ab, hat für die Bewohner und das praktizierte Miteinander von Deutsch und Italienisch (plus Ladinisch) nur Verachtung übrig. Für ihn ist Bozen eine „Scheißstadt“ (S. 171), die ihn quält und martert.

Bozner interessieren sich nur für ihre Wurzeln und ihre eigene Region, und für die Streitereien, was Denkmäler und Straßennamen angeht, und sie haben Angst vor Mischkultur und davor, ihre Wurzeln zu verlieren, die Identität, die Kultur, und wenn sie zufällig doch hingehen, um denen, die von außerhalb gekommen sind, zuzuhören, dann verlieren sie keine Zeit und sie fangen an, ihre Geschichte zu erzählen, von den Wurzeln und der eigenen Region und der Streiterei um die Denkmäler und Straßennamen, und sie sagen, dass sie alle zweisprachig sind, dreisprachig, viersprachig, auch wenn es überhaupt nicht stimmt. Eigentlich müssten wir es ja sein, aber wir beherrschen nur ein paar simple, banale Wörter, die wir ausspucken bei der Zweisprachigkeitsprüfung, die belegt, dass wir zweisprachig sind, weil wir ein paar mickrige Wörter beherrschen.

Maddalena Fingerle – Muttersprache, S. 54

Zudem ist er von einem Tick besessen, der ihn nicht zur Ruhe kommen lässt. Denn durch die zweisprachige Benennung von Gegenständen werden ihm diese Worte beständig dreckig gemacht (selbst sein Name Paolo Prescher ist nur ein Anagramm der dreckigen Worte, nämlich parole sproche). Das Italienische, es ist ihm ein Graus, auch der lokale Dialekt bringt den jungen Erzähler zum Verzweifeln.

Sprache wird gewaschen

Maddalena Fingerle - Muttersprache (Cover)

Die deutsche Sprache, sie ist für ihn die einzig Wahre, sie wirkt auf ihn sauber. Und so entflieht er nach dem Suizid seines Vaters der drückenden Enge seiner Familie und Heimatstadt nach: Berlin, was durchaus eine gewisse Ironie besitzt, ist es doch gefühlt die internationalste Stadt Deutschlands (was einen sich einst profilieren wollenden Staatssekretär namens Jens Spahn zu einem Aufschrei veranlasste, da in manchen Cafés der deutschen Hauptstadt nur noch Englisch gesprochen werde).

Für Paolo ist Berlin allerdings das Paradies. Zunächst übernachtet er auf Parkbänken, ehe er in einer Bibliothek eine Anstellung und durch einen Kollegen auch einen Schlafplatz findet. Dort in Berlin macht er die Bekanntschaft mit Mira, die ironischerweise Italienerin ist, was in Paolo die Liebe zu dieser Sprache entflammen lässt, die nun so gar nichts mehr dreckiges an sich hat. Mira (ihr Name ist ein Anagramm von sapone di Marsiglia, also Kernseife) hilft ihm, die einst verdammten Wörter wieder zu waschen und zu säubern. Dies reicht sogar soweit, dass Paolo mit ihr im dritten Teil des Romans dann wieder von Berlin nach Bozen zurückkehrt.

Ein unsympathischer Erzähler

Einen Roman über solch ein abstraktes Thema wie das Polyglotte in Südtirol zu schreiben, das ist wahrlich ein Unterfangen. Maddalena Fingerle hat sich daran versucht – schafft es in meinen Augen aber leider nicht, mit ihrem Roman zu überzeugen.

Das liegt ganz subjektiv gesprochen schon an ihrem Erzähler Paolo. Wie ein junger Thomas Bernhard wirkt er, der in seinem beständigen Kreisen um sich selbst nur Verachtung für seine Umwelt übrighat und so gut wie alles beschimpft. Mit leicht synästhetischen und manischen Anklängen in seinem Charakter stampft er durch die Welt, schimpft über die dreckigen Wörter, möchte seine Schwester und Mutter am liebsten schlagen und ist in meinen Augen ein wirklicher Unsympath, den man überhaupt nicht näher kennenlernen möchte. Dieser wütende und anklagende Sound, das Rotzige in Sprache und Figur ist durchaus gelungen. Persönlich hat es mir den Zugang zu Paolos Lebenswelt und seinen Themen und Sorgen allerdings deutlich erschwert.

Zudem trägt die theoretische Idee den Roman nicht in dem Sinne, dass sie die Erzählung unterfüttert oder viel Material für gut auserzählte Konflikte oder Entwicklungen liefert. Zwar gibt es die drei Kapitel, die Paolo von Bozen nach Berlin und zurück schicken, auch erfährt er eine Wandlung und wird (Achtung, Spoiler!) sogar Vater, aber diese ganze Handlung wird vom beständigen Kreisen um die sauberen und dreckigen Wörtern und den polyglotten Betrachtungen doch sehr an die Wand gedrückt.

Zwar gibt es jede Menge mal offener oder mal versteckterer Theorie und Anklänge (seine Schwester Luisa ist ein Anagramm des Begriffs capire Husserl, also Husserl verstehen, wobei man dann gleich bei dessen berühmter Sprachphilosophie Phänomenologie der Sprache landet, was Husserl mit Paolos Vater und dessen Versuch der Benennung von Dingen vereint. Und ja auch Lord Chandos könnte man hier noch in Verbindung setzen. Überhaupt verstecken sich viele weitere Bezüge und Anspielungen im Text (ganze fünf Seiten Anmerkungen für die Bezüge, Erklärungen Quellen gibt es – bei einem Text von gerade einmal 180 Seiten durchaus bemerkenswert).

Und auch die Arbeit der Übersetzerin Maria Elisabeth Brunner muss man herausgeben, die diesen in seinem Furor und seinen polyglotten Ansätzen sicherlich nicht einfach zu übersetzenden Text ins Deutsche übertragen hat. Sonderlich zugänglich oder mitreißend blieb das alles – zumindest für mich – aber trotzdem nicht.

Fazit

Steht man fester in wissenschaftlichen Diskursen, kennt sich mit Husserls Phänomenologie und den sprachtypischen Befindlichkeiten vor Ort aus, dann könnte einem Muttersprache vielleicht einen ganz neuen Zugang zum Thema und Buch eröffnen. Als Nicht-Südtiroler blieb mir all das verschlossen – wobei ich an einen gelungenen Roman den Anspruch hätte, dass er mir all das auch als Nicht-Kundiger eröffnen und begreifbar machen würde.

Bei Muttersprache hatte ich allerdings dieses Gefühl nicht und blieb von dem Text und der Gefühlswelt seines Helden doch recht ausgeschlossen. Die Auszeichnung als erfolgreichstes Romandebüt des Jahres in Italien und die Zuerkennung des Premio Italo Calvino kann ich aus literarischer Sicht nicht so ganz nachvollziehen. Ein rotziger Erzähler und dessen Suada gegen Bozen und die Mehrsprachigkeit reicht mir da nicht aus. Aber vielleicht gebricht es mir hier einfach an Hintergrundwissen und Einblicken in die italienisch-südtirolerischen Seele, um die Wahl und die Qualität des Romans zu verstehen.

So bleibt Maddalena Fingerles Buch für mich ein interessanter Text, der sich aber an seiner Theorie verhebt und damit das Buch überfrachtet, das zudem mit seinem unsympathischen Erzähler zumindest mich nicht wirklich überzeugen konnte.


  • Maddalena Fingerle – Muttersprache
  • Aus dem Italienischen von Maria Elisabeth Brunner
  • ISBN 978-3-85256-849-2 (Folio Verlag)
  • 180 Seiten. Preis: 22,00 €
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Adania Shibli – Eine Nebensache

Nein, eine Nebensache ist es wirklich nicht, die Adania Shibli schildert, auch wenn sie das für manche Figuren in Shiblis Buch sein mag. Die 1974 in Palästina geborene Autorin erzählt in Eine Nebensache von dem Missbrauch und Mord an einem Mädchen in der Wüste Negev im Jahr 1949 und von einer Frau, die sich 25 Jahre später auf die Spuren des ermordeten Mädchens begibt.


Die einzige Bewegung war das Flirren einer Fata Morgana. Kahle, weite Flächen schichteten sich bis an den Rand des Himmels und zitterten in der Luftspiegelung, während das glühende Licht der der Nachmittagssonne die Silhouette sandiger blassgelber Hügel fast verwischte. Die Erhebungen waren kaum zu unterscheiden und schlängelten ziellos aneinander vorbei, ab und an durchbrochen von den dünnen Schatten trockener Distelstauden und von Steinen, die wie Tüpfel über die Hänge verteilt lagen. Mehr war da nicht. Die Ödnis der Negev-Wüste erstreckte sich endlos unter der Last der Augusthitze.

Adania Shibli – Eine Nebensache, S. 5

So stellt sich die Wüste dar, in der eine Militäreinheit im August 1949 ihr Camp errichtet hat. Sie halten Manöver ab und patrouillieren im israelischen Grenzgebiet. Das Waffenstillstandsabkommen mit den Nachbarstaaten ist gerade einmal ein halbes Jahr alt, und so herrscht unter den Soldaten Wachsamkeit. Am Morgen des 12. Augusts entdecken Truppen in einer Oase eine Gruppe arabischer Männer, die von den Soldaten erschossen werden. Nur ein junges Mädchen und ihren Hund verschonen die Truppen, um beide mit ins Militärcamp zu nehmen.

Das Verbrechen der Soldaten

Adania Shibli - Eine Nebensache (Cover)

Nach einer übergriffigen Reinigung stellt der Kommandant das Mädchen seiner Truppe zur Verfügung. Er selbst versucht Normalität und Autorität vorzuschützen, während er nach einem Tierbiss deliriert und kaum mehr gehen und stehen kann. Und doch vergewaltigt auch er das junge Mädchen in seiner Unterkunft wie viele weitere Männer. Nach diesen Taten erschießen die Soldaten die Frau und verscharren sie anonym in der Wüste.

Es ist diese schwer fassliche Tat, die die namenlose Ich-Erzählerin im zweiten Teil des Buchs nicht mehr loslässt. In einer Zeitung hat sie einen kleinen Artikel über den Vorfall gelesen, der sie seitdem umtreibt. Gerade die Tatsache, dass sich das Martyrium des jungen Mädchens auf den Tag 25 Jahre vor ihrer Geburt abgespielt hat, beschäftigt sie. Und zwar so sehr, dass sie beschließt, den Ort des Verbrechens aufzusuchen und nach Spuren der damaligen Tat zu suchen.

In Zeiten der Anspannung zwischen Israel und Palästina wahrlich kein leichtes Vorhaben, besonders wenn man an Panikattacken und einer Angststörung leidet. Und doch mietet sich die Frau mithilfe von Kollegen ein Auto, begibt sich aus den überwachten Sektoren von Ramallah gen Negev und versucht Spuren des Mädchens und seinen Todesort zu finden.

Ein Buch in zwei Teilen

Diese zwei Hälften ergeben Adania Shiblis Geschichte, die von Leid, Brutalität, dem komplizierten Miteinander in Israel und von einer unfasslichen Tat erzählt. Während der Soldat und das Mädchen im ersten Teil des Buchs wenig Profil erhalten und auch durch die auktoriale Erzählweise wie hingetupft wirken, ist es im zweiten Teil die namenlose Ich-Erzählerin, die umso präsenter und klarer wirkt, wenngleich sie keinen Namen erhält. Ihre vielen Ängste, der permanente Druck, unter dem sie steht, der allgegenwärtige Terror und die nie enden wollende Gewaltspirale, durch die Augen der Ich-Erzählerin bekommen wir all das mit.

Während sie vergeblich versucht, das Schicksal des Mädchens genauer zu lokalisieren und etwas Greifbares in Händen zu halten, lernt sie das Schicksal einer Kibbuz-Gruppe kennen und erlebt die Weite der Negev am eigenen Leib. Mit nur wenigen Szenen gelingt es Adania Shibli, das Leben im Grenzland, die Nachwirkungen von Gewalt und Krieg und die Gefährlichkeit von Männern ohne Kontrolle in Worte zu fassen.

Fazit

Eine Nebensache ist eine knappe, aber intensive Geschichte aus dem israelisch-palästinensischen Grenzland, die auch besonders durch ihr bitteres Ende eine große Eindringlichkeit entfaltet. Die Übersetzung von Günther Orth aus dem Arabischen überzeugt ebenfalls, sodass diesem Buch gerade in diesen Zeiten voller Krieg, Gewalt und Grenzüberschreitungen eine besondere Bedeutung zukommt.


  • Adania Shibli – Eine Nebensache
  • Aus dem Arabischen von Günther Orth
  • ISBN 9783-949203-21-3 (Berenberg)
  • 116 SEiten. Preis: 22,00 €
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