Monthly Archives: Oktober 2022

Steffen Mensching – Hausers Ausflug

Wenn Geflüchtete vom Himmel fallen. Steffen Mensching dreht in seinem neuen Roman Hausers Ausflug an den Stellschrauben der Realität und zeigt eine beunruhigende Zukunftsvision, die ebenso erschreckend wie durchaus denkbar erscheint.


Wenn es um die Abgrenzung vor Geflüchteten geht, dann hat Europa bereits ein ganzes Arsenal von Abwehrmechanismen installiert. Das reicht von der Grenzschutzeinheit Frontex und deren illegalen Pushbacks bis hin zu Zäunen und Mauern, mit denen sich der Westen vor Geflüchteten abschirmt. Man spricht von Flüchtlingswellen, warnt, dass sich das Jahr 2015 mit seinem Zustrom an Geflüchteten nicht wiederholen dürfe und pflegt Ressentiments gegenüber den Fremden.

Steffen Mensching entwickelt nun die Idee von der Abwehr und Rückführung von Geflüchteten in ihre Heimatländer noch ein ganzes Stück weiter. Diese Idee erschließt sich dem Leser von Hausers Ausflug aber erst stückweise. Denn zum Beginn ist alles genesisgleich dunkel in Menschings Roman.

David Hauser kommt langsam zu sich und muss feststellen, dass er sich im Inneren einer Box befindet – und diese wiederum muss sich an Bord eines Flugzeugs befinden. Ihm fehlen zentrale Erinnerungen an den letzten Abend und daran, wie er in diese Box gekommen ist. Doch um welche Box es sich handeln muss – insbesondere da sie sich in der Luft befindet – das wird ihm schnell klar, und damit auch langsam den Leser*innen.

Abwurf über dem Herkunftsland

Denn Hauser ist der CEO der Firma AIRDROP. Diese hat ein ebenso perfides wie einträgliches Geschäftsmodell ersonnen, das sich in der Zukunft unter europäischen Staaten großer Beliebtheit erfreut. Hausers Firma kümmert sich um die „Rückführung“ von Geflüchteten, die von AIRDROP nicht mehr per aufwändigem Abschiebeflug durchgeführt wird, der oftmals an Bürokratie oder unkooperativen Heimatländern scheiterte. Stattdessen bedient sich die Firma der Logik von Amazon und Co und betrachtet die Geflüchteten nur noch als zu versendende Fracht .

Steffen Mensching - Hausers Ausflug (Cover)

Geflüchtete werden in Boxen gepackt und per Flugzeug über ihrem jeweiligen Herkunftsland abgeworfen. Ausgeklügelt konstruiert mit Fallschirm und Bienenwabentechnik im Inneren der Box sollen sie so in ihre Heimatländer zurückgeführt werden, auf dass sie das paradiesische Europa nicht mehr betreten.

Ein Geschäft, dass in Hausers Augen und denen seiner Auftraggeber bisher nahezu reibungslos funktioniert hat, ein paar bedauerliche Todesfälle einmal ausgenommen. Doch nun steckt eben Hauser selbst in einer Box und findet sich schon bald in einer unwirtlichen Bergregion wieder, ausgestattet mit fremden Klamotten, Zigaretten, Multivitaminriegel und einem Pass auf den Namen Walid Said.

Wer hat Hauser in die Box gesteckt? Wer hat es auf ihn abgesehen? Wo steckt er überhaupt? Und was soll das alles? Viele Fragen plagen den Manager, der nun aber in der kargen Umgebung erst einmal um sein Überleben kämpfen muss, ohne Orientierung und eine Idee, wie ihm geschieht.

Hausers Ausflug zeigt einen Mann in völliger Konfusion, der vom Abschieber zum Abgeschobenen wird. Lief sein Geschäftsmodell gerade durch die Anonymität der Abwürfe prächtig, so sieht er sich nun auf einmal auf der anderen Seite des Tischs beziehungsweise im Inneren der Box sitzend.

Ein Mann im Überlebenskampf

Langsam erschließt er sich seine Welt und trifft in seinem Überlebenskampf auf einen anderen Menschen dort in der steinigen Mondlandschaft. Und ebenso langsam entsteht ein Bild der Welt, in der AIRDROP so großen Erfolg hat, wenngleich die satirische Überzeichnung der Gegenwart mit ihrem Rechtsdrall nicht zu den stärksten Aspekten des Buchs zählt.

Auch ist die Auflösung des Ganzen nicht wirklich befriedigend, verzichtet Steffen Mensching doch auf Erklärungen und lässt auch sein Buch im Handlungsbogen dann am Ende abbrechen. Die äußeren Rahmenbedingungen im Roman werden allenfalls skizziert, sind des Öfteren nicht wirklich plausibel gestaltet und rumpeln etwas vor sich hin.

Ihn interessiert in meinen Augen eher das Geschäftsmodell des Geflüchtetenabwurfs und die Dilemmata, denen sich Hauser nach seinem Absturz in der Wüste gegenübersieht. Plötzlich muss Hauser selbst ums Überleben kämpfen, er der sich früher allenfalls in den Anfangstagen seiner Firma noch für Listen mit abgeworfenen Geflüchteten interessierte und nun eher das süße Leben mit seinen Annehmlichkeiten und gewebten Socken genießen möchte, denn sich mit den Auswirkungen seiner Geschäftspraxis zu beschäftigen. Wie nimmt er sein Schicksal an, wie kreisen seine Gedanken? Das untersucht Steffen Mensching hier einmal mehr, indem er einen Mann in die Extremsituation eines Überlebenskampfs wirft.

Fazit

Sobald sich Hausers Ausflug weg von seiner Figur bewegt, wackelt die Konstruktion. Da aber, wo Steffen Mensching ganz dicht dran bleibt an seinem CEO auf Abwegen, da ist das Buch stark und zeigt einen Menschen im Überlebenskampf und eine perfide Technik, deren Einsatz hoffentlich Fiktion bleiben möge, auf dass Humanismus und Mitmenschlichkeit gewinnen.


  • Steffen Mensching – Hausers Ausflug
  • ISBN 978-3-8353-5305-3 (Wallstein)
  • 249 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen

Sara Mesa – Eine Liebe

Das Landleben, es wirkt nicht nur auf deutsche Autor*innen anziehend, auch in Spanien gibt es das Phänomens des Dorfromans. Das beweist Eine Liebe, der neue Roman von Sara Mesa. Darin schickt sie eine Übersetzerin in eine kleines Dorf im spanischen Nirgendwo und konfrontiert sie mit sehr speziellen Männern und Tieren.


Das Dorf, in das es die Erzählerin Nat verschlägt, trägt den sprechenden Namen La Escapa. Es handelt sich dabei um einen winzigen Weiler, der umgeben von einer kargen Landschaft im Schatten des Glauco, eines massiven Bergs, seine Existenz fristet. Dort in diesen winzigen Weiler zieht sich die Übersetzerin zurück, um an einer Übertragung aus dem Französischen zu arbeiten. Doch auch das Erlebte aus der jüngeren Vergangenheit hat einen entscheidenden Einfluss auf den aktuellen Rückzug.

Das Haus, welches sie bezieht, ist nicht anders als eine Bruchbude zu bezeichnen. Der Wasserhahn leckt, die Bohlen sind von der Feuchtigkeit verzogen, das Dach undicht, der Garten verwildert und kaum fruchtbar. Und dennoch knüpft der unverschämte Vermieter Nat viel Geld für die Baracke ab, das sie ihm eingeschüchtert von seiner Präsenz monatlich aushändigt. Immer wieder taucht er unverhofft auf, bedrängt Nat und fällt mit einem übergriffen Verhalten auf, die sie ihm verängstigt und unterwürfig durchgehen lässt.

Ein unverschämter Vermieter

Unversehens taucht der Vermieter bei ihr auf – sie hatte ihn vollkommen vergessen. Wie gewohnt starrt er ihr ungeniert auf die Brüste, lässt dabei keinen Zweifel an an seiner Überlegenheit und Unverschämtheit. Nat hat das Geld nicht parat. Normalerweise hebt sie an einem Automaten in Petacas so viel ab, wie sie gerade braucht, aber als sie das letzte Mal dort war, hat sie nicht dran gedacht. Sie entschuldigt sich. Sagt, sie habe viel zu tun gehabt. Und ihn nicht schon wieder erwartet. Die Zeit vergehe einfach unglaublich schnell. Er blickt sie von der Seite an, presst die Lippen aufeinander, bis sie fast nicht mehr zu sehen sind. (…)

Wenn sie ihm das Geld überweisen könnte -die normalste Sache der Welt-, würde das alles nicht passieren. Oder wenn er wenigstens Bescheid geben würde, bevor er auftaucht, statt sich wie aus heiterem Himmel mit den Rechnungen in der Hand vor ihr aufzubauen, als hätte sie nichts anderes zu tun, als den ganzen Tag mit dem abgezählten Geld in einem Umschlag auf ihn zu warten. Diese Antworten kommen ihr aber erst im Nachhinein. Jetzt macht er es ihr durch sein Auftreten unmöglich, auch nur einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Seine immer schmaler werdenden Lippen. Der funkelnde Blick. Die großtuerisch vor der Brust verschränkten Arme.

Sara Mesa – Ein Liebe, S. 120

Beistand findet sie im alten Hippie Píter, der Nat seine Hilfe anträgt, aber auch durch eigenwilliges Verhalten und abrupte Stimmungswechsel überrascht. Mal drängt er ihr Hilfe auf, mal äußert er sich verächtlich über Nachbarn oder den Vermieter, dann sucht er wieder Nats Nähe. Ebenso widersprüchlich wie Píter ist auch das Verhalten von Sieso, einem wilden Hund, den Nat gerne zähmen möchte und ihn nachts in ihrem Garten anbindet.

Ein unmoralisches Angebot

Sara Mesa - Eine Liebe (Cover)

Auch mit diesem Tier ist die Interaktion schwierig, fasst der Hund doch kaum Zutrauen, sucht mal das Weite, dann wieder Nats Nähe. Und auch bei Andreas, dem von anderen „Der Deutsche“ geheißenen Mann ist dieses Verhalten beobachtbar. Er wird im Dorf gemieden und argwöhnisch beäugt. Píter verachtet den Mann und bezeichnet ihn aufgrund dessen nicht vorhandenen sozialen Kompetenzen einen Autisten.

Mit ihm beginnt Nat eine Affäre, die unter denkbar eigenwilligen Voraussetzung mit einem unmoralischen Angebot ihren Ausgang nimmt. Denn nachdem sich das Dach von Nats Unterkunft als bei Regen sehr durchlässig erweist, weigert sich der Vermieter in irgendeiner Form den Mangel zu beheben. Andreas bietet ihr seine Hilfe bei der Reparatur an. Seine Forderung: Sex gegen Arbeit. Ein Agreement, auf das sich Nat nach einigem Nachdenken einlässt und aus dem sich eine im Dorf argwöhnisch beäugte Affäre entwickelt. Und dennoch kommt Nat diesem rätselhaften und widersprüchlichen Mann nicht wirklich näher.

Ein Buch voller widersprüchlicher Figuren

Eine Liebe ist eine Buch, das von der Widersprüchlichkeit handelt. Das beginnt bei der Tat, die Nat zu ihrem Zuzug nach La Escapa bewogen hat, setzt sich in ihrem eigenen Verhalten gegenüber dem unverschämten Vermieter oder Andreas fort und ist jeder Figur in diesem Buch eingeschrieben. Sei es Mensch oder auch Tier, viele Figuren in diesem Buch fassen einem Moment Zutrauen, dann aber zeigen sie sich wieder abweisend oder aggressiv beißen – im übetragenen Sinn und wörtlich.

Auch ist der Stil dieses Romans bemerkenswert. Figuren und Prosa sind hier ebenso karg wie die unwirtliche Landschaft, die La Escapa umgibt. Wirkliche Liebe, ein dörfliches Miteinander oder Harmonie sind hier kaum zu entdecken und höchstens in Ansätzen vorhanden. Stattdessen lebt in La Escapa jeder für sich, verachtet die Nachbarn, ist unfreundlich und macht des dem Dorfneuling Nat nicht wirklich einfach, die zudem auch mit ihrer Übersetzung kämpft.

Wenn der Klappentext des Buchs bemerkt, dass Sara Mesa auf den Luxus von Details verzichtet, dann ist das mehr als zutreffend, auch wenn ich persönlich Details nie als erzählerischen als Luxus sehen würde. Aber die Kargheit ist diesem Buch auf jeder Seite eingeschrieben (ins Deutsche übertragen durch Peter Kultzen). Auch das erratische und widersprüchliche Verhalten der Figuren wird letzten Endes auch nicht durch die Psychologie der Figuren erklärt, sondern steht einfach unaufgelöst für sich. Alles in Sara Mesas Buch ist staubig, schmutzig und wenig wohnlich eingerichtet.

Fazit

Mit La Escapa entwirft Sara Mesa ein Dorf, in das man nicht wirklich gerne ziehen möchte. Sie schreibt einen Dorfroman, der durch seine Unbehaustheit und seinen schonungslosen Blick auf das gesellschaftliche Miteinander oder eher Gegeneinander im spanischen Hinterland besticht.

Mit Eine Liebe gelingt es Sara Mesa, die Schroffheit der Umgebung und das karge Leben dort in Prosa zu überführen. Sie zeigt widersprüchliche Figuren und deren schwieriges Miteinander und liefert so einen Dorfroman, der frei von Klischees oder romantischer Verblendung ist. Eine Liebe fällt eher das Genre des Anti-Dorfromans. Denn wer dieses Buch gelesen hat, der überlegt sich den Umzug in ein Dorf vom Schlage La Escapa im spanischen Hinterland sicherlich noch einmal gut.


  • Sara Mesa – Eine Liebe
  • Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
  • ISBN 978-3-8031-3351-9 (Wagenbach)
  • 192 Seiten. Preis: 23,00 €
Diesen Beitrag teilen

Simone Buchholz – Unsterblich sind nur die anderen

Befinden wir uns an Bord des Fliegenden Holländers oder doch eher im Inneren eines Buddelschiffs? Simone Buchholz wagt in Unsterblich sind nur die anderen die Abkehr von ihren Chastity Riley-Krimis und schickt ihre Figuren auf einen ebenso skurrilen wie verwirrende Reise an Bord der MS Rjúkandi, einer Art schwimmendes Hotel California.


Eines vorweg: wer eine Literatur der Eindeutigkeit schätzt, der dürfte an diesem Buch wenig Freude haben. Denn wo sich Chastity Riley bei ihren Ermittlungen, Flirts und Abstürzen noch auf dem festen Boden des Hamburger Hafens und drumherum bewegte, so ist der Untergrund dieser Geschichte mehr als schwankend.

Von Aalborg bis nach Island

Alles beginnt mit zwei Frauen namens Malin und Iva, die an Bord der Fähre MS Rjúkandi einchecken, um eine Überfahrt mit der Nordseefähre von Aalborg bis nach Island anzutreten. Schon die Unterkunft in einem Hotel ganz ohne Bewertungen setzt den Ton für die folgenden Ereignisse.

Die blaue Leuchtreklame des Hotels war exakt genauso hoch wie der zweistöckige Bau, dem sie aus dem Kopf wuchs. Das Teil schüttete kaltes Licht über den Strand und über die erste Reihe der Wellen. Der Nebel hatte sich verzogen, die Luft war klar und knisterte auf den Lippen.

Desperate Rooms„. Iva zog an ihrer Zigarette und tippte mit dem Mittelfinger an Malins Stirn. „Ernsthaft?“

Simone Buchholz – Unsterblich sind nur die anderen, S. 14 f.

Das Motiv der Einsamkeit und der leichten Verrückung der Realität ist ein Markenzeichen des ganzen Buchs, dessen Geschehen sich dann an Bord der MS Rjúkandi verlagert. Dort wollen die beiden Frauen den Spuren ihrer Freunde Tarik, Mo und Flavio nachgehen, die mit ebenjener Fähre vor einigen Wochen reisten, deren Spur sich aber im Nichts verliert.

Irgendetwas an Bord stimmt nicht

Simone Buchholz - Unsterblich sind nur die anderen (Cover)

Und so begeben sich die Frauen an Bord und lernen neben dem Schiffsmusiker Ola die Besatzung des Schiffs kennen, bei der sich das Gefühl der Entrücktheit von der Realität fortsetzt. Die Crew an Bord besticht durch unfassbar gutes Aussehen, besonders der Kapitän namens Richard William Jones hat es Iva mit seiner Attraktivität und Aura angetan.

Je länger sich der Aufenthalt an Bord der Rjúkandi hinzieht, umso deutlicher werden die Zeichen, dass hier an Bord etwas nicht stimmen kann. Nicht nur, dass nach dem Ablegen der Fähre das Hotels mitsamt seiner Desperate Rooms verschwunden zu sein scheint, auch mit der Besatzung des Schiffs stimmt etwas nicht. Und als Iva dann den Versuch eines Abgangs von Bord unternehmen möchte, muss sie feststellen, dass die Weisheit des alten Eagles-Klassikers Hotel California einmal mehr zutrifft: „You can check out any time you like, but you can never leave“.

Meeresgöttinnen, der Fliegende Holländer und knackige Dialoge

Unsterblich sind nur die anderen ist ein Buch, das mit vielen ganz unterschiedlichen Motiven und Stilen spielt. Denn neben den gewohnt knackigen Buchholz-Dialogen und pointierten Beschreibungen sind es auch Tagebucheinträge und lyrische Zwischenpassagen, die das Geschehen ergänzen. Hier sprechen Meeresgöttinnen wie die Nereiden oder werden Legenden wie die der keltischen Meerjungfrau Lí Ban neu interpretiert.

Das Ganze verschränkt Buchholz mit einer teils kafkaesken, teils fantasy-haften Erzählung von Bord der MS Rjúkandi, in der die 1972 geborene Autoren alle möglichen Seemythen zitiert. Das reicht vom Fliegenden Holländer über die Titanic bis hin zu traurigen Legenden wie der des Schiffes St. Louis oder einer Neuinterpretation des Bermudadreiecks, das sich bei Buchholz zwischen Aalborg, Torshavn auf den Färöern und Seydisfjördur auf Island erstreckt.

Insgesamt ist Unsterblich sind nur die anderen ebenso anspielungsreich wie auch rätselhaft. Die Schilderungen der (Irr)Fahrten der MS Rjúkandi ergeben gerade in Zusammenhang mit dem vorgeschalteten Buddelschiff-Prolog viele Interpretationsmöglichkeiten, bei denen sich für mich keine eindeutige Lesart angeboten hat. Vielmehr glich mein Leseerlebnis dem Lauschen von Sprechen oder Singen unter Wasser. Vieles von der Sprache bis hin zu den Motiven wirkt vertraut – und dennoch ist dieses modern interpretierte Seemannsgarn letzten Endes zumindest für mich nicht ganz aufzulösen.

Frappant auch, wie sich das Meermotiv in diesem literarischen Herbst durch die Neuerscheinungen vieler weiterer Autor*innen zieht. So interpretiert etwa Monique Roffey in Die Meerjungfrau von Black Conch den Meerjungfrauen-Mythos neu, Theresia Enzensberger schickt eine junge Frau auf eine rätselhafte schwimmende Seestatt in der Ostsee oder Mariette Navarro beschert ihrer Kapitänin eines Frachters bei ihrer Fahrt Über die See einige mysteriöse Erlebnisse. Gerade mit letzterem Werk weist Unsterblich sind nur die anderen in meinen Augen durchaus einige Berührungspunkte auf, ist es doch ebenso rätselhaft und eindringlich wie Buchholz‘ Prosa.

Fazit

Unsterbliche Kapitäne, eine segelnde Schiffsbesatzung, ungewöhnliche Meerjungfrauen und ein Schiff, das kein Entkommen bietet. Das sind nur einige der Einfälle, die Simone Buchholz in Unsterblich sind nur die anderen aufbietet und so mit ihrem modernen Seemannsgarn ein ebenso rätselhaftes wie luzides Leseerlebnis schafft.

Weitere Meinungen zum Buch gibt es auch beim WDR und im NDR.


  • Simone Buchholz – Unsterblich sind nur die anderen
  • ISBN 978-3-518-47276-7 (Suhrkamp)
  • 265 Seiten. Preis: 18,00 €
Diesen Beitrag teilen

Katie Kitamura – Intimitäten

Jedes Jahr am 30. September feiert die Übersetzungswelt den Hieronymustag als Internationalen Übersetzertag, der die Kunst der Übertragung von Texten und Reden in andere Sprachen in den Mittelpunkt stellt. Katie Kitamura liefert mit Intimitäten den passenden Roman zu diesem Tag ab. Darin preist sie die Kunst des Übersetzens und schafft ein Bewusstsein für die schwierige Arbeit, die die Übersetzer*innen in Institutionen wie dem Internationalen Strafgerichtshof im Verborgenen erbringen.


Kitamuras Heldin und namenlose Ich-Erzählerin kommt nach dem Tod ihres Vaters nach Den Haag. Dort hat sie sich für eine Stelle als Dolmetscherin am Internationalen Strafgerichtshof beworben – verfügt allerdings über kein soziales Netz vor Ort, weshalb sie anfangs mit ihrem neuen Wohnort fremdelt.

Ich kam mit nicht viel mehr als einem Ein-Jahres-Vertrag vom Gerichtshof nach Den Haag. In jener ersten Zeit, als die Stadt mir noch fremd war, fuhr ich oft ziellos mit der Straßenbahn herum und lief stundenlang durch die Straßen, sodass ich gelegentlich nicht mehr wusste, wo ich war, und den Stadtplan auf meinem Handy zu Rate ziehen musste. Den Haag wies eine Familienähnlichkeit mit jenen anderen europäischen Städten auf, in denen ich lange Abschnitte meines Lebens verbracht hatte, vielleicht überraschte es mich deshalb, dass ich so oft die Orientierung verlor. In diesen Momenten, wenn Verwirrung an die Stelle meines Gefühls von Vertrautheit trat, fragte ich mich, ob ich hier je mehr als eine Besucherin sein könnte.

Katie Kitamura – Intimitäten, S. 8

Doch ihr Gefühl der Fremdheit an ihrem neuen Wohnort sich rasch durch die Arbeit, die sie umfänglich in Beschlag nimmt. Sie macht Bekanntschaft mit Jana, einer extrovertierten Frau, die in einem schlecht beleumundeten Viertel von Den Haag lebt. Aus der Bekanntschaft wird eine Freundschaft – und auch einen Mann namens Adriaan lernt Katie im Zuge ihres Neuanfangs in Den Haag kennen.

Dieser befindet sich gerade in einem Trennungsprozess von seiner Frau und stürzt sich mit der Erzählerin in eine Affäre. Während er nach Lissabon fliegt, um ein Komment mit seiner Ex-Frau auszuhandeln, soll die Erzählerin derweil in seiner Wohnung bleiben. Doch mit fortschreitender Dauer des Agreements wachsen in ihr die Zweifel. Und dann ist da auch noch ihre fordernde Arbeit am Strafgerichtshof, bei der sie im Prozess um einen angeklagten afrikanischen Präsidenten dolmetschen muss.

Die Kunst des Übersetzens

Die Suche nach dem richtigen Wort, der angemessenen Haltung beim Übersetzen und die Frage, inwieweit das eigene Dolmetschen Auswirkungen auf Prozesse wie die hat, die am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verhandelt werden, das sind Themen, die Katie Kitamura eindrucksvoll beschreibt und verhandelt.

Katie Kitamura - Intimitäten (Cover)

Sie nimmt die Leser*innen mit in die Dolmetscherkabinenen, in denen die meist gesichtslosen Übersetzer*innen ihr Werk verrichten, den Angeklagten die Vorwürfe ins Ohr flüstern und versuchen, bei aller notwendigen Geschwindigkeit auch noch Empathie Ton, Haltung und Subtilitäten der gesprochenen Fragen und Antworten zu vermitteln und in eine ganz andere Sprache hinüberzuretten.

Kitamura schafft ein Bewusstsein für die Notwendigkeit dieses Tuns und die Kunst, die Dolmetschen stets bedeutet. Doch ist Intimitäten darüber hinaus auch das Porträt einer Frau, deren Profillosigkeit eigentlich zur Jobbeschreibung gehört und der von der Autorin nicht einmal ein eigener Name zugestanden wird.

Kann jemand, der sich stets hinter den Worten anderer verbirgt und für eine gute Ausübung seines Jobs die eigene Persönlichkeit verschwinden lassen muss, um als möglichst neutrale Stimme im Ohr zwischen Menschen über alle Sprachbarrieren hinweg zu fungieren, im Privaten ein klares Profil entwickeln? Zumindest in meinen Augen mag das im Falle von Kitamuras Erzählerin nicht wirklich klappen. Sie bleibt unscheinbar, auch wenn man ihr durch die gewählte Ich-Erzählperspektive ja eigentlich besonders nahe kommen sollte. Aber auch hier herrscht dieselbe Distanz, die die Erzählerin in ihrer abgeschlossenen Übersetzerkabine am Strafgerichtshof zum eigentlichen Geschehen hat.

Fazit

Intimititäten ist vielleicht keine große Literatur im Sinne von Handlungsopulenz oder einem tiefenscharfen Figurenensemble. Hier ist es vielmehr ein recht unsichtbares berufliches Leben und ein ebenso wenig spektakuläreres privates Leben, das in den Mittelpunkt der Erzählung gerückt wird. Aber das, was Katie Kitamura da macht, macht sie sehr gut.

Ihr Buch wäre als Kunstgemälde eher die kleine Form mit wenig Strichen und gedeckten Farben – in sich ist das absolut stimmig und schafft ein Problembewusstsein für die Kunst des Übersetzens und die Wahl der richtigen Sprache (übersetzt von Kathrin Razum). In diesem Sinne ist Intimitäten auch ein passender Beitrag zum Hieronymustag!


  • Katie Kitamura – Intimitäten
  • Aus dem Englischen von Kathrin Razum
  • ISBN 978-3-446-27404-4 (Hanser)
  • 219 Seiten. Preis: 24,00 €
Diesen Beitrag teilen

Maggie Shipstead – Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit

Solch ein grandioser Titel – und der Inhalt stimmt auch. Maggie Shipstead in Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit über drei Tage Ausnahmezustand im Vorfeld einer Hochzeit – und den unbedingten Wunsch, in den feinen Kreisen dazugehören zu wollen. Eine feine Sezierung der amerikanischen Oberschichtswelt – und das Porträt eines Mannes mit Fehl und Tadel.


Alles ist bereit auf Waskeke Island, einer Insel vor der Küste Maines. In drei Tagen soll die Hochzeit von Daphne Van Meter stattfinden, der Tochter von Winn Van Meter. Deshalb setzt der Familienpatriach auf die Insel über, um seinen Frauen das benötigte Brautkleid und Unterstützung zu liefern.

Vor Ort gleicht das Treiben im Anwesen der Familie auf der Insel einem Bienenstock. Die Brautjungfern müssen zu Kostüm- und Figurproben, die Hochzeitsplanerin will letzte Details durchgehen, die Familie des Bräutigams hat sich angekündigt und dann sind dann da auch noch die Erinnerungen an eine Begegnung mit einer der Brautjungfern, die so gar nicht schicklich und gesittet ablief, wie es sonst die Art von Winn ist.

Ein Leben wie aus dem Upperclass-Bilderbuch

Maggie Shipstead - Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (Cover)

Denn eigentlich lebt Winn ja ein Upperclass-Leben wie im Bilderbuch. Der Nachlass seiner Väter hat ihm finanzielle Unabhängigkeit beschert, mit seiner Frau hat er zwei Töchter (wenngleich ihm Jungen erheblich mehr bedeutet hätten) und Mitglied in den richtigen Clubs und Verbindungen ist er auch noch. Wenn da nur nicht die erstrebte Mitgliedschaft im Golfclub Pequod wäre, die ihm bislang verwehrt blieb und für ihn die Erfüllung seiner Träume bedeuten würde.

Ob diese ausbleibende Einladung in den Golfclub mit alten Rivalitäten zu tun haben könnte, darüber wird er das ganze Buch über nachgrübeln, besonders da seine jüngere Tochter eine Liasion an die Familie eines alten Intimus und Intimfeind band.

Das alles dröselt Maggie Shipstead Stück für Stück auf und verquickt die turbulente Gegenwart der drei Hochzeitstage gekonnt mit der Vergangenheit Winns und dessen Lebensweg, der ihn bis nach Waskeke führte.

Ein Familienpatriach mit Fehl und Tadel

Dabei zeichnet sie das Bild eines Mannes, der sich in der Rolle des Familienpatriarchen gefällt, dessen Leben aber doch mehr Fehl und Tadel bereithält, als die Fassade den Anschein macht. Denn neben seinem Traumhaus, der materiellen Sorglosigkeit und seinem Dasein als Hobbykoch, der für ein Dinner mit der Schwiegerfamilie schon einmal zwanzig respektive 19 Hummer in den Topf wirft, gibt es noch andere, deutlich weniger hell glänzende Punkte in seiner Vergangenheit.

Das seziert Magie Shipstead gekonnt und zeichnet leichtfüßig und mit viel Humor das Treiben auf Waskeke, das mich persönlich an zwei filmische Referenzen erinnerte. Da wäre das chaotische und familiäre Treiben rund um die Hochzeit auf einer Insel, das an das Abba-Musical Mamma Mia erinnert. Ebenso trägt das Geschehen von Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit aber auch Züge des Weihnachtsfilm-Klassikers National Lampoon’s Christmas Vacation beziehungsweise Schöne Bescherung, wie der Film mit Chevy Chase in der deutschen Fassung hieß.

Auch hier gerät die Welt eines Familienvaters gehörig ins Wanken, als in dessen Haus neben der eigenen Familie auch noch die Schwiegerfamilie einfällt uns sich die Ereignisse überstürzen. Alles kommt anders als geplant und am Ende entpuppen sich im Strudel der Ereignisse grundfeste Gewissheiten als durchaus trügerisch, eben Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit.

Fazit

Die komischen Züge dieses filmischen Geschehens trägt auch die Geschichte von Maggie Shipstead ein Stück weit und schafft damit ein leichtes, aber keineswegs belangloses Buch, das gekonnt vom Treiben der Oberschicht an der amerikanischen Ostküste erzählt. Es ist auch das Bild eines Mannes, dessen Leben leicht in Turbulenzen gerät, als sich Gewissheiten verschieben und der Strömungsgeschwindkeit, die ihn bislang durchs Leben trug, nun doch mit Abriss droht. Das ist verngüglich, nah an den Figuren und von daher mehr als ein gelungener Sommerschmöker. Jetzt in der Neuauflage auch nicht zuletzt endlich mit einem annehmbareren Bild als jenem, das die Erstausgabe aus dem Jahr 2012 zierte.


  • Maggie Shipstead – Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit
  • Aus dem Englischen von Karen Nölle
  • ISBN 978-3-423-14837-5 (dtv)
  • 440 Seiten. Preis: 13,00 €
Diesen Beitrag teilen