Rachel Cockerell – Melting Point

Weit mehr als nur die Erforschung ihrer eigenen Familie: Rachel Cockerell liefert mit Melting Point eine Textcollage, die von der jüdischen Sehnsucht nach einem eigenen Land ebenso wie von Theaterrevolutionären und nicht zuletzt von ihrer bemerkenswerten Familie über die Jahrzehnte hinweg erzählt.


Die eigene Familiengeschichte aufzuarbeiten, sie beschert nicht nur Archiven hunderte Anfragen im Jahr zu genealogischen Themen, auch der Buchmarkt ist gesättigt von solchen belletristischen Aufarbeitungen. Den Ansatz, den Rachel Cockerell in ihrem Buch wählt, ist allerdings lobenswerterweise ein anderer als das schon recht abgenutzte Prinzip eines Generationenromans.

Cockerell verzichtet völlig auf eine ordnende Erzählinstanz und präsentiert stattdessen hunderte Originalstimmen aus Zeitungen, von Zeitzeugen und ihrer eigenen Familie, aus deren Miteinander langsam eine vielfältige Geschichte wird, die ebenso vom Zionismus wie den wilden Volten des 20. Jahrhunderts erzählt. Das ist sehr spannend, nicht zuletzt, da diese Zeitläufe aus ihrer Familie die gemacht haben, deren Lebenswege wir in Melting Point nachverfolgen dürfen.

Bis es allerdings so weit ist, vergeht fast die Hälft dieses Buchs. Denn Cockerell greift sehr weit aus, um die historischen Läufe zu verdeutlichen, aus denen sich auch ihre Familiengeschichte speist. Alles beginnt bei ihr Ende des 19. Jahrhunderts, als Theodor Herzl seine ersten Zionistenkongresse einberuft.

Die Sehnsucht nach einem Land für das so verstreut lebende und seit biblischen Zeiten nicht mehr wirklich sesshafte Volk bewegt ihn dazu, mit der Suche nach einem Lebensumfeld für Jüdinnen und Juden zu beginnen. Auf den ersten Zionistenkongressen in Basel beschäftigt man sich intensiv mit der Frage nach einem solchen Ort, an dem das Volk Heimat finden könnte. Mit von der Partie ist auch ein heute völlig vergessener Intellektueller, der Herzls Suche nach einem jüdischen Land über dessen Tod hinaus unermüdlich fortführen wird. Sein Name: Israel Zangwill.

Auf der Suche nach einem Land

Rachel Cockerell - Melting Point (Cover)

Schon zu Lebzeiten Herzls wurde auf dem sechsten Zionistenkongress in Basel das Angebot Großbritanniens diskutiert, die den Jüdinnen und Juden ein Territorium in ihrer Kolonie Britisch-Ostafrika im heutigen Uganda zur Verfügung stellen wollten.
Nachdem diese Idee verworfen worden war, betrieb Zangwill zusammen mit dem ITO, der Jewish Territorial Organization, die Suche nach einem geeigneten Land, das nach den Plänen des zionistischen Schriftstellers mal in Mesopotamien, mal in Australien liegen sollte.

Dringlichkeit bekam die Suche durch Pogrome in Russland, etwa in Kischinau, wo die Gewalt der russischen Bevölkerung gegen ihre jüdischen Mitbewohner*innen immer häufiger brutal eskalierte.

Mithilfe vieler Quellen und Originalstimmen erzählt sie von der verzweifelten Suche Zangwills nach einem Land – und der rapiden Zunahme von Feindlichkeiten gegenüber der jüdischen Bevölkerung nicht nur in Russland. Auch ist die Bemühung der amerikanischen ITO-Sektion Thema in Melting Point, das den verfolgten Jüdinnen und Juden speziell aus Russland in den USA eine neue Heimstatt geben wollte. Ausgehend vom völlig überlaufenen kulturellen Schmelztiegel New York begab man sich auf die Suche nach neuen Lebensorten für die russischstämmigen Juden.

Im sogenannten Galveston-Projekt wollte man diese Geflüchteten in ebenjenem Küstenort in Texas ansiedeln und ihnen somit einen neuen Lebensraum verschaffen. Prägende Figur bei jenem Bestreben war der Vizepräsident der ITO in Amerika, Dr. David Jochelmann.

Hier findet Melting Point nun endlich den Anschluss an die im Unteritel versprochene biografische Geschichte Rachel Cockerells. Denn bei David Jochelmann handelt es sich um Cockerells Großvater.

Dieser hatte mit seiner ersten Frau einen Sohn, der unter dem Pseudonym Emjo Basshe (zusammengesetzt aus Emmanuel und Jochelmann, dazu der Name seiner Großmutter) zu einem aufsehenerregenden Theatergründer wurde, der zusammen mit Größen wie John Dos Passos im New Playwright-Theater für Aufsehen sorgen sollte. Seine nur kurze Lebensgeschichte von gerade einaml 40 Jahren handelt der kürzere Mittelteil des Buchs ab, ehe sich Cockerell dann im letzten Teil auf ihre eigene Familiengeschichte besinnt, die in der zweiten Ehe David Jochelmanns begründet liegt.

Das kuriose Miteinander der Familien Jochelmann

Vom Überleben im zweiten Weltkrieg in London, vom kuriosen Miteinander der zwei Familien, die Fanny Jochelmann gründeteder auch die Autorin selbst entstammt) sowie der von Sonja Jochelmann erzählt sie – und gibt einen Eindruck vom Schmelztiegel dieser ungewöhnlichen Familien, die allesamt mit ihren insgesamt sieben Kindern nebst Großmutter in einem Haus in London zusammenlebten. Hier zeigt sich eine Polyphonie und ein Chaos, wie es dem Buch auch in seinem Ganzen in seiner collagierten Weise zu eigen ist – und doch zu einer überzeugenden Form findet. Denn spätestens mit der Auswanderung von Sonja und ihrer Familie in das aus britischer Herrschaft übernommene Palästina schließt sich dann der Bogen zu den zionistischen Bemühungen Herzls und Zangwills.

Fazit

Melting Point ist eine hochinteressante Familiengeschichte, die die eigenen biographischen Volten der Familie neben die Volten der Zeit und dem zionistischen Bestreben legt. Daraus erwächst ein Buch, das (in seiner Vielstimmigkeit und registerreichen Sprache hervorragend von Cornelius Reiber und Nina Frey übersetzt) einen Eindruck gibt von der Sehnsucht der Jüdinnen und Juden nach einem eigenen Land und den Gewalterfahrungen, die sie immer wieder ausgesetzt waren.

Ebenso erzählt Rachel Cockerells Buch nach der Frage von Identität und wie sich diese konstituiert. Durch die außergewöhnliche Erzählweise gewinnt ihr Buch und ist ein einsichtsreiches und zeithistorisches Dokument, das belegt, wie sich die Zeit in der eigenen Familie widerspiegelt und umgekehrt. Den Schmelzpunkt, der Weltgeschichte und persönliche Biografien miteinander verbindet und amalgamiert, hier lässt er sich genau besehen.

Nicht nur angesichts des Israel-Palästina-Konflikts eine einsichtsreiche Lektüre, die viel Hintergrund zum Zionismus bietet und mit der persönlichen Perspektive auf einem Komplex blickt, dem man wohl nur durch eine so polyphone Erzählweise gerecht werden kann, die zugleich abwechslungsreich und differenziert ist. Damit leistet Rachel Cockerell wertvolle Arbeit, die unbedingt der Lektüre lohnt.


  • Rachel Cockerell – Melting Point
  • Aus dem Englischen von Nina Frey und Cornelius Reiber
  • ISBN 978-3-8477-2066-9 (Die andere Bibliothek)
  • 456 Seiten. Preis: 28,00 €

Nelio Biedermann – Lázár

Generationenroman, Dokumentation des Verfalls einer aristokratischen Familie und Beschreibung des Schreckens des Kommunismus – Nelio Biedermanns Roman Lázár weckt Assoziationen mit großen Vorbildern, tappert dann aber etwas hilflos in den Fußspuren der großen Meister.


Wieder einmal bedient sich ein junger Autor der beliebten Erzählweise des Generationenromans, um mithilfe der voranschreitenden Erzählzeit vom Vergehen des Alten und des Entstehends von Neuem zu erzählen. Bei ihm ist es das adelige Geschlecht der Lázárs, das im Mittelpunkt seines Romans steht. Die Mitglieder der Familie wohnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ihrem Waldschloss in Ungarn.

Noch sind die Aristokraten als Teil der k. u. k.-Monarchie angesehen und leben mit Angestellten und Pferden im ungarischen Niemandsland. Doch schon bald wird nicht nur die Monarchie zu einem Ende kommen, auch die alte Generation findet umnachtet zu ihrem Ende und so ist es an Lajos von Lázár, die nächste Generation in das neue Zeitalter zu führen. Nach dem Ersten und dann dem Zweiten Weltkrieg ist es der Kommunismus, der nun erblüht und der für das Geschlecht der Lázárs tiefgreifende Veränderungen bereithalten wird.

Der ungarische Leopard

Nelio Biedermann - Lázár (Cover)

Eine Aristokratenfamilie, ein Jahrhundert, das seinem Ende kommt und die neue Generation, mit der alles anders werden soll – vieles in Nelio Biedermanns Roman erinnert an einen der großen Literaturklassiker, nämlich Giuseppe Tomasi di Lampedusas Der Leopard (mit dessen Verfasser Nelio Biedermann auch zumindest väterlicherseits die adelige Herkunft teilt). Legt man di Lampedusas Roman neben Lazár, zeigt sich aber, dass die Fußstapfen solcher Vorbilder doch etwas arg groß sind.

Denn auch wenn das Erzählgerüst funktioniert, der Wandel von der Monarchie hin zum Kommunismus mit all seinen Verheerungen recht sauber über die Familiengeschichte gelegt ist, hat das Ganze doch etwas leicht Schulbuchhaftes. So hakt der 2003 geborene Biedermann alle bekannten geschichtlichen Aspekte der Zeit ab (Vergewaltigungen durch die Rote Armee nach und Hinrichtung eines Nazi-kritischen Priesters während des Kriegs, sogar eine seltsam unmotiviert im Roman stehende Schilderung des Todes Stalins gibt es, die im Gesamtkontext des Romans nicht so recht Sinn ergeben mag).

Sprachlich nicht ganz stimmig

Auch sprachlich ist das Ganze nicht immer ganz stimmig.

Kaum war die Sonne hinter die Hügel gesunken, hatten Mária und Jonathan das Schloss verlassen, wobei sie links und er rechts um das Städtchen spaziert war. Hinter dem Friedhof hatten sich ihre Wege gekreuzt. Sie hatten sich schon von Weitem gesehen, denn der Sommerhimmel trug noch das Licht des Tages.

Zuerst hatten sie umdrehen wollen, sie waren sich noch nie außerhalb des Schlosses begegnet. Aber natürlich war das unmöglich, nun, da sie sich gegenseitig gesehen hatten.
Während sie weiter aufeinander zugegangen waren, ohne zu wissen, ob sie sich anschauen sollten oder nicht, hatten sie beide nach Worten und dem richtigen Ton gesucht, hatten leise vor sich hin murmelnd verschiedene Begrüßungen geübt und Gesprächsthemen probiert – um dann mit leeren Mündern voreinander zu stehen. Nicht einmal ein „Guten Abend“ kriegten sie hin, sie sahen sich nur panisch an, suchten vergeblich nach all den Worten, die sie vorhin noch vor sich hergesagt hatten, und begannen schließlich laut zu lachen.

Nelio Biedermann – Lázár, S, 69 f.

Da der Himmel, der noch das Licht des Tages trägt, dort das verdruckste Stammeln, bei dem die beiden nichts „hinkriegen“. Umgangssprache steht neben poetischen Ausflügen und findet an einigen Stellen zu keinem rechten Miteinander. So auch folgende Passage, in der das „Bissen runterbringen“ dem Rest der gehobenen Schilderungen entgegensteht.

Mittlerweile war sogar Frau Telke besorgt und wies Dora an, nur noch Matildas Lieblingsspeisen zu kochen, da sie glaubte, ihr Hungern sei eine Form des Streiks, mit dem sie sie erpressen wolle. Dabei brachte Matilda wirklich keinen Bissen runter.

Nelio Biedermann – Lázár, S. 162

Überstrapazierte Metaphern, vergessene Figuren und ein irrlichternder Stalin

Registerschwankungen wie auch schiefe Bilder und überstrapazierte Metaphern gibt es haufenweise in dem Text. Auch an anderen Stellen verfestigt sich der Eindruck von einer etwas argen Unbehauenheit des Texts, nämlich im Umgang Biedermanns mit seinen Motiven und Figuren.

Zu Beginn hebt der Roman mit Lajos von Lázárs gläsernem Körperbau an, ohne dass daraus irgendetwas Interessantes entstünde. Auch das Verschwinden der jungen Baronesse Ilona, die im Wald verlorengeht und später wiedergefunden wird und die in der Zwischenzeit einen immensen Appetit auf Fleischliches entwickelt hat, es bleibt ohne Folgen. Der Wald als Motiv oder als Erzählansatz wird nicht wirklich ausgedeutet. Auch andere Gestalten schiebt Biedermann aus dem Bild, wenn sie ihn nicht mehr interessieren. Allen voran der für verrückt erklärten Imre, der in einem Zimmer im Schloss vor sich hinvegetieren muss fällt komplett aus der Handlung und wird erst wenige Seiten vor Ende des Romans wieder von Biedermann hervorgezaubert.

Fazit

Feuilletons, die den jungen Biedermann als „Zauberer“ beschwören, kann ich so nicht ganz folgen. Seine Tricks sind doch recht durchschaubar und wollen für mein Empfinden nicht wirklich klappen, auch wenn man mit jungen Talenten auf der Variétebühne wie auf der literarischen Bühne natürlich auch etwas nachsichtig umgehen sollte. Dennoch ist dieses Buch mehr Illusionsbudenzauber als echte literarische Magie.

So kann ich mich auch dem Lob Daniel Kehlmanns, der das Buch auf der rückwärtigen Klappentext als Donnerschlag lobpreist, nicht so recht anschließen. Lázár ist gewiss nicht ganz schlecht und hat seine zahlreichen Fans in Feuilleton wie auch im Buchhandel (nicht umsonst ist das Buch als eines von fünf für den Preis des Lieblingsbuchs des unabhängigen Buchhandels nominiert und steht auf den Bestsellerlisten).

Dennoch weist das Buch handwerkliche Mängel auf, die trotz des jugendlichen Alters des Autors benannt werden müssen. So neige ich eher der Meinung der Rezensentin Eva-Sophie Lohmeier auf 54 Books zu, die in dem Buch einen Roman „voller schiefer Bilder, prätentiöser Sprache und halbverdauter Lektüre“ sieht, der zudem mit seiner überstrapazierten sexuellen Note und den schiefen Frauenfiguren verärgert.


  • Nelio Biedermann – Lázár
  • ISBN 978-3-7371-0226-1 (Rowohlt)
  • 336 Seiten. Preis: 24,00 €

Thomas Melle – Haus zur Sonne

Wie wäre es, andere Leben anprobieren zu dürfen und einmal einen Blick in mögliche Versionen des eigenen Leben zu werfen? Der Erzähler in Thomas Melles Roman darf genau das im Haus zur Sonne erleben – doch können alternative Leben helfen, Manien und Depression zu überwinden – oder führt das in Konsequenz doch zum Tod? Vor dieser Frage sieht sich der Erzähler und wir als Lesende mit ihm.


In Die Welt im Rücken, seinem ebenfalls für die Endrunde des Deutschen Buchpreises nominierten Roman erzählte Thomas Melle von seiner bipolaren Erkrankungen, die ihn immer wieder peinigt und in peinliche Situationen zwang. Auch in seinem neuen Buch Haus zur Sonne spielt diese Erkrankung eine entscheidende Rolle. Denn der Erzähler möchte nicht mehr. Ein neuer Schub seiner Krankheit hat alle Fortschritte zunichte gemacht, in seiner Wohnung zwischen beschmierten Wänden und ausgepackten Kartons vegetiert er mehr vor sich, als wirklich zu leben.

Ich hatte meinen Tod schon oft durchgespielt, ihn mir vorgestellt, und dazu auch, leider, die kleinen Reaktionen darauf: die Trauer von manchen, das Abwinken von anderen, das kurz von einem nostalgischen Impuls durchzuckte Desinteresse wohl auch ehemaliger Freunde. Dann weiter im Text des Lebens, es ist halt so, verloren, vergessen, nichts zu machen.

Thomas Melle – Haus zur Sonne, S. 19 f.

Ein Aufenthalt im Haus zur Sonne

Thomas Melle - Haus zur Sonne (Cover)

Da kommt die Einladung zu einem Aufenthalt im neuartigen Haus zur Sonne gerade zur rechten Zeit. Denn für den selbstbezeichneten dead man walking bietet sich so die Möglichkeit, mittels Halluzination letzte Wünsche vor seinem Abschied von der Welt zu durchleben um dann nach dem Ausprobieren dieser Wünsche aus dem Leben zu scheiden.

Unter Anleitung eines Ärzteteams findet er sich im Sanatorium ein, das sich seltsam abgeschieden von der Welt präsentiert. Kontakte zur Außenwelt existieren eh kaum und so kann der Erzähler noch einmal frei von allem Ballast neu beginnen. Die Therapie öffnet ihm die Möglichkeit, in alternative Lebensentwürfe seiner selbst zu blicken und seine größten Wünsche zu erleben.
Von einem Dasein als Rockstar auf der Bühne bis zu einer Orgie, vom perfekten Hühnerfrikassee aus Kindheitstagen bis hin zu Erfolgen als Forscher im Kampf gegen den Krebs bietet das Haus zur Sonne alle nur denkbaren Varianten und Entwicklungen, die das Leben bereithalten kann. Doch den größten Wunsch mag man dem Erzähler dort zumindest vorerst noch nicht erfüllen – den seines eigenen Todes.

Ein Möglichkeitenroman

Thomas Melle hat mit Haus der Sonne einen Möglichkeitenroman geschrieben, der die Vielzahl von eventuellen Verläufen einfängt, die ein Leben bedeuten kann. Immer wieder wird der Erzähler in eine neue Simulation geschubst – und kann doch die schwarzen Hunde nicht vergessen, die ihn unbarmherzig quälen.

So liest man den Roman unter dem Paradox, das auf der inhaltlichen Ebene wahnsinnig viel passiert, wenn Melles Protagonist immer wieder neue Varianten von Leben und Eindrücken anprobiert, er aber doch auf der Stelle tritt, was das Vorankommen mit der Krankheit und die äußere Handlung anbelangt. Denn obschon er neue Menschen im Haus zur Sonne trifft -so wirklich kommt er dort nicht los und sitzt damit fest im Sanatorium wie Hans Castorp einst im Berghof oder Jack Torrance in Stephen Kings Shining im Overlook-Hotel.

Das Buch schwankt zwischen der Traum-Therapie und der eigenen Trauma-Therapie, der sich der Erzähler hier literarisch unterzieht. Es geht weniger vorwärts und vielmehr hinein in die Verarbeitung der eigenen Depression und die darin erlebten Exzesse und Peinlichkeiten als zentrales Thema des Buchs.

Zwischen Trauma-Therapie und Traum-Therapie

So beschreibt Melle den Bann der erdrückenden unsichtbaren Krankheit, unter der der Erzähler steht. Zumindest in Ansätzen macht der Roman nachvollziehbar, wie sich die Manie anfühlt und wie der Erzähler immer wieder zwischen Euphorie und Glücksgefühlen und tiefster Niedergeschlagenheit oszilliert. Ähnlich wie zuletzt Svealena Kutschke versucht auch er durch das Erzählen die Wahrnehmung der Welt infolge einer psychischen Krankheit nachzuzeichnen – und überzeugte zumindest mich damit etwas weniger als Kutschke in ihrem maximal dichten und zwingenden Gespensterfische.

Ohne Zweifel ist das Buch in der Fülle an Psychiatrieromanen in diesem Literaturjahr aber nicht nur aufgrund des dystopisch-rätselhaften Schauplatzes herausstechend. Im Spiel mit Fiktion und Fakt, Wahn und Aberwitz ist das Buch bemerkenswert – verlangt den aber Lesenden doch nicht nur angesichts der Suizid-Thematik sondern auch aufgrund des hochnervösen Tretens auf der Stelle einiges an Resilienz und Kraft ab.

Fazit

Ich selbst stehe etwas ratlos vor diesem Buch, dessen ganzes Erzählen für mich etwas von einer dunklen Zeitschleife hat, in der immer wieder der Wunsch des eigenen Suizids variiert wird und in der sich die kurz aufblitzenden Momente des Glücks angesichts der zirkulären Rückfalls in die Todessehnsucht irgendwann abgenutzt haben. In Verbindung mit der Statik des Plots wurde aus dem Buch für mich eine zu zähe Angelegenheit, als dass ich mich als Entscheider (im Gegensatz zum hier fast unisono begeisterten Hochfeuilleton) schwertäte, für Melles Buch den sicheren Gewinn des Deutschen Buchpreises auszurufen.

Anders sieht das beispielsweise auch Blogger Stefan Härtel alias Bookster HRO, der das Buch auf seinem Blog als grandios lobt.
Empfehlen möchte ich auch die Analyse von Alexander Carmele, der sich auf seinem Blog Kommunikatives Lesen ebenfalls Thomas Melles Text widmet.

Ein Hinweis sei auch auf heute Abend gegeben. Denn dann wird bei der alljährlichen Preisverleihung im Frankfurter Römer entschieden, wer der sechs nominierten Autor*innen den Preis für den besten deutschsprachigen Roman des Jahres mit nach Hause nehmen darf und sich auf der im Anschluss beginnenden Frankfurter Buchmesse der größten Öffentlichkeit sicher sein darf (außer es kommt wie im letzten Jahr zu einem Eklat).
Besprechungen zu den nominierten Werken von Jehona Kicaj, Christine Wunnicke, Dorothee Elmiger und Thomas Melle sind zumindest schon auf dem Blog vertreten.


  • Thomas Melle – Haus zur Sonne
  • ISBN 978-3-462-00465-6 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 320 Seiten. Preis: 24,00 €

Paul Gallico – Der Krönungstag

Wir schreiben den 2. Juni 1953 und ganz Großbritannien steht Kopf. Denn heute ist er gekommen, Der Krönungstag, an dem Elizabeth II. zur Königin ausgerufen wird. Das möchte sich auch die Familie Clagg aus Sheffield nicht entgehen lassen – und stolpert in Paul Gallicos nostalgischer Geschichte in ein Abenteuer in der britischen Hauptstadt.


25 Guineen, so viel hat jedes der Tickets gekostet, das Familienvater Will Clagg für seine zwei Kinder Johnny und Gwendoline, seine Frau Violet und die griesgrämige Schwiegermutter erworben hat. Es ist ein halbes Vermögen für die Familie aus der Arbeiterschicht, das der Vater in Tickets investiert hat, um mit dabei zu sein, wenn Geschichte geschrieben wird und die frisch gekrönte Elizabeth II. am Krönungstag auf dem Weg vom Buckingham Palast hin zur Westminster Abbey mit einer großen Parade gefeiert wird.

Er sagte bloß an einem Sonntagnachmittag Anfang April, als sie in dem bescheidenen Haus in der Imperial Road Nr. 52 in Little Pudney am Esstisch saßen: „Hört mal, was würdet ihr sagen, wenn wir alle zur Krönung nach London fahren?“
Die Frage hatte seine Familie erschüttert, verblüfft, aufgewühlt, hypnotisiert, erschreckt und verzaubert. Er hatte sie wie eine glimmende Zündschnur auf den Tisch geworfen, wo sie brannte und sprühte und den Rauch und die Flammen des Abenteuers entfachte.

Paul Gallico – Der Krönungstag, S. 20

Für die Familie bedeuten die Tickets eine echte Entscheidung, denn um sich die Kosten leisten zu können, hat der Familienrat getagt und entschieden, anstelle des jährlichen Urlaubs am Meer diesmal das Geld in die Krönungstickets zu investieren.

Eine Familie im Krönungsfieber

Paul Gallico - Der Krönungstag (Cover)

Doch dann das: als sich die Familie übermüdet nach einer nächtlichen Bahnfahrt von einem Vorort in Sheffield im vibrierenden London wiederfindet, folgt auf die Euphorie schnell die Ernüchterung. Denn die über einen Verwandten besorgten Karten sind eine dreiste Fälschung. Das Haus, von dem aus sie in der ersten Reihe einen Blick auf die Parade werfen wollten, erweist sich als Brandruine. Die Familie ist Betrügern aufgesessen.

Und so gibt es statt der erhofften Blicke auf Kutsche und Königin, Champagner und Parlando mit Menschen von Welt nur lange Gesichter im Nieselregen der britischen Hauptstadt. Doch davon lassen sich die Claggs nicht unterkriegen und verbringen den Krönungstag trotzdem in London, das vor Erregung über die kurz bevorstehende Krönung zu vibrieren scheint.

Gelungen erzählt der 1897 geborene US-amerikanische Sportreporter und Schriftsteller Paul Gallico in dem ursprünglich 1962 erschienenen Roman Der Krönungstag von der einzigartigen Atmosphäre in der britischen Hauptstadt. Es ist das Nebeneinander von großen Enttäuschungen und kleinen Dingen, die den Tag dann doch unvergesslich machen, das anrührt.

Ein ganz besonderer Tag

Denn trotz der großen Enttäuschungen des aufgesessenen Ticketbetrugs erlebt die Familie immer wieder kleine besondere Momente, die für sie den Tag besonders machen und die zumindest kurzzeitig die im Alltag stets manifesten Klassenschranken an diesem Tag als überwindbar erscheinen lassen:

Denn der Korken stand in gewissem Sinne für das Durchbrechen des Musters der Enttäuschungen in ihrem Leben

Paul Gallico – Der Krönungstag, S. 177

Ein Fläschchen Champagner im Bordbistro, ein Regimentsabzeichen, ein Schluck Gin für die miesepetrige Großmutter – es sind die kleinen Dinge, die für die Claggs doch so viel bedeuten, wovon Paul Gallico anschaulich zu erzählen vermag. Ähnlich wie in R. C. Sherriffs Roman Zwei Wochen am Meer ist es auch hier eine durchschnittliche Arbeiterfamilie, die trotz materieller Beengtheit einem Tag etwas ganz Besonderes abzuringen vermag.

Fazit

Das Besondere in einfachen Leben und der Moment, wenn Momente in Leben unvergesslich werden, Paul Gallico vermag in diesem nostalgischen Roman rührendend davon zu erzählen und erinnert damit auch an andere Erzähler wie den schon erwähnten R. C. Sherriff, Reginald Arkell oder J. L. Carr.


  • Paul Gallico – Der Krönungstag
  • Aus dem Englischen von Robert Lucas
  • ISBN 978-3-311-70422-5 (Oktopus)
  • 192 Seiten. Preis: 16,99 €

Dorothee Elmiger – Die Holländerinnen

Ein Theatermacher auch den Spuren Werner Herzogs oder Christopher Schlingensiefs, verschwundene Holländerinnen im Dschungel Panamas, eine Autorin im Erzählrausch, dazu schwangere Ziegen, dressierte Pferde, fiktive Autorinnen und die große Frage, um was es hier eigentlich geht: willkommen im Textdschungel namens Die Holländerinnen, die die Schweizer Autorin Dorothee Elmiger ersonnen hat.


Es läuft bei Dorothee Elmiger. Auch wenn sie es mit ihrem neuen Roman Die Holländerinnen „nur“ auf die Shortlist für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis geschafft hat und final ihrem Schweizer Landsmann Jonas Lüscher den Vortritt lassen musste, befindet sie sich in der Auswahl für den Bayerischen Buchpreis, den Schweizer Buchpreis und steht zudem auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Ein Umstand, der schon vor fünf Jahren zu beobachten war, als Dorothee Elmiger mit ihrem Werk Aus der Zuckerfabrik ebenfalls das Triple gelang und sie es in die Endauswahl für den Deutschen, Schweizer wie auch den Bayerischen Buchpreis schaffte.

Verschwundene Holländerinnen in der Wildnis Panamas

Nun also Die Holländerinnen, die – um es gleich vorwegzunehmen – eine literarische Herausforderung darstellen. Das beginnt schon bei der Geschichte, die sich verkapselt im Zentrum des Romans befindet. Um diese erzählerische Kapsel herum ist die Geschichte einer namenlosen, gefeierten Schriftstellerin gebaut, die eigentlich eine Vorlesung zu ihrer Poetik und Schreiben vor einem Auditorium halten wollte. Doch die Worte zerfielen ihr wie weiland Lord Chandos als modrige Pilze im Mund. Es wollte sich nichts Vorzeigbares mehr ergeben und so wähnt sie sich die Autorin in der Tradition von Penelope, die immer wieder den gewebten Stoff auftrennen musste, wie es der Autorin mit ihrem Textgewebe nun ergeht.

Doch dann findet sich doch etwas, worüber es sich zu reden lohnt. Angesiedelt ist das Thema der Autorin in der Vergangenheit vor drei Jahren. Damals machte sie die Bekanntschaft mit einem experimentierfreudigen Theaterregisseur, der den Fall zweier im Dschungel verschwundener Holländerinnen theatral bearbeiten wollte. Mitsamt seinem Kreativteam und der Autorin ging es ebendort hin in den Dschungel Panamas, wo man den Fall erkunden, inszenieren oder vielleicht sogar aufklären wollte. Doch mit der Wahrheit und der Aufklärung ist das so ein Ding. Statt eine Lösung für das Verschwinden zu finden, produziert die Autorin in ihren geschilderten Erinnerungen immer wieder Abschweifungen und Arabesken.

Willkommen im Textdschungel

Dorothee Elmiger - Die Holländerinnen (Cover)

So geht es mal um Ziegen, die eine dem Team angehörige Schweizerin einst im St. Galler Rheintal hüten sollte. Aufgrund der Abwesenheit des Ziegenbauers musste diese selbst die unerwartete Niederkunft von Ziegen betreuen. Ein andermal kommt die Rede auf die fiktive Autorin Marilyn Trappenard und deren Werke; dann wiederum schiebt sich ein Ehepaar in den erzählerischen Vordergrund, das die Kostümbildner Liese einst kennenlernte und mit dem es ein mysteriöses Ende nahm. Immer wieder begibt sich der Text zu Nebenschauplätzen, während man sich an der Rekonstruktion des Falls der verschwundenen Holländerinnen versucht und die Erzählerin zu einem neuen Ansatz angebt.

In durchgehend indirekter Rede erzählt die Autorin von ihren Erlebnissen, Eindrücken und Erinnerungen, die mit dem Team und dem unerschrockenen Regisseur verknüpft sind.

Ein Bezug ist dabei nicht immer leicht auszumachen – und auch interpretatorische Schneisen muss man sich in diesem Textdschungel selbst schlagen. Die Holländerinnen wartet auf mit einer Fülle an Motiven und Anspielungen – von Joseph Conrads Herz der Finsternis bis hin zu Werner Herzogs Filmen, der als Zitat auch den Roman eröffnet. Mal luzide, mal verwirrend, dann wieder theatral und erzählerisch verschachtelt bietet sich das Elmiger’sche Lesewucherwerk dar.

Eine erzählerische Herausforderung

Das ist durchaus eine Herausforderung, etwas weniger gnädig gestimmt könnte man auch von einer Zumutung sprechen. Leicht macht es einem dieses Buch nicht, sodass sich folgendes Zitat aus dem Buch über das Leseerlebnis des Buchs selbst übertragen lässt.

Am frühen Nachmittag hätten sie zum ersten Mal eine kurze Rast eingelegt, aber es sei ungemütlich gewesen, sie alle hätten es vorgezogen, weiterzugehen, vorwärtszukommen, vor allem die Mädchen seien unruhig gewesen, zappelig, und also seien sie schon kurze Zeit später wieder aufgebrochen. Der Pfad, dem sie noch immer gefolgt seien, habe sich auch jetzt fortlaufend verzweigt, der Theatermacher habe sich auf gut Glück, aber ohne triftige Gründe jeweils für die eine oder andere Richtung entschieden, und es sei ihr spätestens in diesem Moment, als sie so ziellos durch den Wald geirrt seien, bewusst geworden, dass es hier keine Pointe geben, dass die ganze Geschichte auf keine Auflösung, kein Ende zulaufen würde.

Dorothee Elmiger – Die Holländerinnen

Ein konsistenter Text ist dieser zerklüftete Text- und Motivdschungel nicht. Eher sind es die Worte des Zappeligen und Verwirrenden, die den Charakter des Buchs treffen. Elmigers Text verweigert sich einer klaren Lesart und eindeutigen Zuordnung – vielmehr ist die Stärke dieses Buchs tatsächlich das Offene, das Numinose und das Ausbleiben einer klaren Einordnung – wer Eindeutigkeit von einem Text erwartet, der wird hier freilich enttäuscht werden.

Fazit

Die Holländerinnen, das ist Literatur, die neue Formen ausprobiert und tastet, die andere Wege zu gehen versucht, was nicht immer zu einem leicht konsumierbaren Ergebnis führt – aber durchaus auch das eigene ästhetische Empfinden weiten kann, wenn man sich auf diese Art des sprunghaften und verrätselten Erzählens einlässt. Besonders Freunde der indirekten Rede dürften ihren Spaß mit diesem Buch haben, bei dem der Erzählerin trotz aller Zweifel an den eigenen Sätzen und dem eigenen Erzählen dann doch etwas Außergewöhnliches gelungen ist – ein ganz eigenständiges Kunstwerk.


  • Dorothee Elmiger – Die Holländerinnen
  • ISBN 978-3-446-28298-8 (Hanser)
  • 160 Seiten. Preis: 23,00 €