Category Archives: Historischer Roman

Christine Wunnicke – Wachs

In ihrem neuen Roman Wachs begibt sich Christine Wunnicke in die Zeit kurz nach der französischen Revolution, als Köpfe rollten, aber auch mit neuem Wissen gefüllt wurden. Wieder einmal gelingt der Autorin ein eigenwilliger historischer Roman, der von zwei außergewöhnlichem Frauen und ihrem Forschungsdrang erzählt.


Zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält, es war im Jahr 1808 nicht nur der Drang von Goethes Faust, der nach mehr Wissen strebte. Generell kennzeichnet die Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert ein neu erwachender Wissensdurst, der unter anderem auch in der berühmten Encyclopedie von Denis Diderot als Urform des Lexikons einen Ausdruck fand. Das in Zusammenarbeit mit Jean Baptiste le Rond D’Alembert 1780 vollendete Werk sollte, beeinflusst von der im 18. Jahrhundert einsetzenden Aufklärung, das gesamte verfügbare Weltwissen zusammenführen und verfügbar machen.

Insgesamt 142 Enzyklopädisten wirkten an diesem 35 Bände umfassenden Mammutwerk mit – und auch Christine Wunnickes Protagonistin Marie Biheron hätte sich als Autorin der Enzyklopädie gut gemacht, hätte man die Weitsicht besessen, die Erkenntnisse von Frauen allerhöchstens anonym in diesem Werk zu zitieren. Bekannt war sie schließlich mit dem höchst unsteten und wissensdurstigen Denis Diderot, den sie immer wieder mit Gedanken fütterte, wie es Christine Wunnicke in ihrem Roman beschreibt.

Weiblicher Forscherdrang und männliche Vorherrschaft

„Corticalis, medullaris, falciformis, pinealis, corticis“, zählte Monsieur Diderot ordentlich her. Man schrieb das Jahr 1754. Er hatte die Haken und Bänder am Kopf der großen Puppe geöffnet und ihren Schädel aufgeklappt. Das wollte er immer selbst tun, am Anfang jeder Lektion. „Arachnoidea!“ Er steckte den Finger zwischen Dura und Pia und versuchte herauszuzupfen, was sich dazwischen befand.

„Hier ist ausnahmsweise alles verklebt.“ Marie lächelte. „Und was Sie mir hersagen, befindet sich alles ganz richtig darin, doch ist es, wenn es so plätschert, nichts als ein Wortbrei und führt zu keinem System. Wie zeigen wir die Archnoidea an der Leiche?“

„Wir blasen drauf, und sie bläht sich! Warum ist Ihr Wachs so hart? Wie härten Sie es? Was ist darin? Wie färben Sie es? Ich muss das wissen!“

„Das müssen Sie nicht. Nehmen Sie das Kleinhirn heraus und erklären die Schenkel.“

Christine Wunnicke – Wachs, S. 128

Dass sich weiblicher Forschungsdrang mit den damaligen Zeitumständen schwer vertrug, aber essenziell für die Forschung und das wissenschaftliche Vorankommen war, davon erzählt Christine Wunnicke in Wachs. Damit steht sie selbst in der aufklärerischen Tradition jener Zeit, holt ihr Roman doch mit Marie Biheron eine heute fast unbekannte Figur der Geschichte zurück ans Tageslicht und erzählt von ihrem erkenntnisreichen Wissensdrang. Vor dem Hintergrund der französischen Revolution war sie es, die auch das Verständnis von Anatomie revolutionierte.

Eine Revolutionärin der Anatomie

Christine Wunnicke - Wachs (Cover)

Der Forschungsdrang von Marie Biheron nahm schon in der Kindheit seinen Anfang, wie Wunnicke zeigt. Auf den ersten Seiten des Romans huscht da ein kleines Mädchen unerschrocken durch das nachtdunkle Paris und fordert in einer Kaserne vor Offizieren eine Leiche, die sie gerne kaufen möchte. Am besten gleich mehrere im Subskriptionsmodell den ganzen Herbst und Winter hindurch, der Forschung in Sachen Anatomie wegen, so die Tochter des Apothekers Biheron.

Hier zeigen sich schon jener Drang nach Wissen und weiblicher Selbstbestimmung, die das Leben von Marie Biheron im Folgenden prägen werden. Denn die unangepasste Frau wird später nicht nur mit der älteren Planzenmalerin Madeleine Basseporte eine Beziehung führen (auch sie eine dieser Figuren, die Wunnicke dem Vergessen entreißt), mit der älteren Frau zusammenleben und sogar einen Affen pflegen: vor allem wird sie mit ihren Wachsabdrücken von Organen des menschlichen Körpers die Kunde von der Anatomie revolutionieren und das Wissen darüber weiter voranbringen, während die Jakobiner nach der Revolution die Guillotine vor Notre Dame in Akkordarbeit bemühen und damit für jenen Leichen sorgen, deren Innenleben Marie so interessiert.

Das Ziel der jungen Frau ist klar, wie sie ihrer Partnerin Madeleine Basseport selbstbewusst offenbart. Sie will der beste Anatom von Paris werden. Gendern nicht nötig, da Frauen – siehe Enzyklopädistin – ja sowieso vom wissenschaftlichen Forschen und Diskurs ausgeschlossen waren. Da kann man dann gleich Anatom werden anstelle einer Anatomin.

Die unerschrockene Marie Biheron

Sowieso lässt sich Marie von den Standesregeln des 18. Jahrhunderts nicht schrecken. Beharrlich blickt sie ins Innerste, das den Menschen zusammenhält. Immer weiter perfektioniert sie die Kunst der Wachsabdrücke, forscht an Leichen und vervollkommnet ihre Fertigkeiten, bis hin zur Illusion, mit ihrer Kunst ganz neue Menschen zu schaffen oder Krankheiten bei der Anfertigung der Wachsabdrücke zu beseitigen. Kurzzeitig muss sie nach England ausweichen, da sie in Frankreich als Frau keine Anatomie lehren darf, ein Salär als Forscherin gibt es sowieso nicht. So muss sie sich mit dem Verkauf ihrer Modelle über Wasser halten und findet im dänischen König und der russischen Kaiserin prominente Abnehmer ihrer Kunst.

„Meine Frau macht neuerdings Menschen“, wird Maries Frau Madeleine Basseport an den Naturforscher Linné schreiben – womit sich Marie als eine Seelenverwandte einer anderen Mary erweist, nämlich Mary Shelley. Die ersann ebenfalls an jener Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert die Erzählung vom revolutionären Leichenformer und modernen Prometheus Viktor Frankenstein, der neues Leben schuf.

Wachs erzählt von weiblichem Forscherdrang gegen alle Widerstände, ohne dem der Wissenschaft entscheidende Pulse gefehlt hätten. Neben dem Erinnern an die unerschrockene Marie Biheron ist Wachs das große Panorama jenes unbändigen Forscherdrang, der die Welt zu jener Zeit erfasst hatte. Madeleine und Marie korrespondieren mit Forschern wie Buffon oder Linné, Diderot sucht nach Erkenntnis, ganz Paris ist gleichermaßen von Blutdurst und Wissensdurst erfüllt.

So abgehackt wie die Köpfe auf den öffentlichen Plätzen ist dabei auch so manches Mal das Erzählen von Christine Wunnicke. Sie arbeitet mit Sprüngen im Erzählen, rückt Figuren aus dem Umfeld Maries in den Blick und schildert ihre kurze, aber thematisch vielfältige Erzählung in eine sprachmächtige, historisierende Sprache, die bei der Lektüre Genuss bereitet.

Fazit

Christine Wunnicke ist ein Solitär im deutschen Buchbetrieb, die sich kurzfristigen Moden und Erzähltrends verweigert und stattdessen ihre ganz eigene Nische in Sachen historischem Erzählen gefunden hat. Mit Wachs baut sie nach ihrem letzten Werk Die Dame mit der bemalten Hand diese Nische weiter aus. Sie sensibilisiert für die entscheidenden Impulse, die die Aufklärung und Wissenschaft auch durch Frauen erhielt, und zeigt gleichwohl die Widerstände gegen dieses Forschern und welches Opfer die Frauen für ihre Forschungen bringen mussten. Mit Marie Biheron stellt Wunnicke eine faszinierende Frau ins literarische Scheinwerferlicht ihrer Erzählung, die alles andere als wachsweich ist.


  • Christine Wunnicke – Wachs
  • ISBN 978-3-911327-03-9 (Berenberg)
  • 187 Seiten. Preis: 24,00 €
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Steffen Kopetzky – Atom

Mit seinem neuen Roman wandelt Steffen Kopetzky nicht nur literarisch auf den Spuren Ian Flemings. In Atom schickt er den Physiker Simon Batley im Dienste des britischen Geheimdiensts auf die Jagd nach einem SS-Offizier durch halb Europa, während der Kontinent in den Wirren des Zweiten Weltkriegs versenkt. Dabei beleuchtet er auch die schmutzigen Deals, die den Grundstein für das Atomzeitalter legten.


Hans Kammler ist ein Name, der heute selbst Geschichtsinteressierten kaum mehr etwas sagen dürfte. Dabei hat sein Leben und Treiben durchaus das Zeug zu einem Thriller, wie Steffen Kopetzky in seinem neuen Roman Atom beweist. Denn der SS Obergruppenführer und General der Waffen verantwortete er nicht nur die Errichtung von Konzentrationslagern, sondern war als Bevollmächtigter für den Bau der unterirdischen Bauten zur Fertigung von Flugzeugen und Raketen zuständig.

In Kopetzkys Roman wird jener Hans Kammler zu einem gefürchteten Phantom, dem der junge Simon Batley durch halb Europa hinterherjagt, um ihn zur Strecke zu bringen.

Auf der Jagd nach dem Phantom Kammler

Steffen Kopetzky - Atom (Cover)

Angeworben für den britischen Geheimdienst MI6 führte ihn schon vor dem Zweiten Weltkrieg eine Mission nach Deutschland, wo er als Physikstudent in Berlin für den Geheimdienst spionieren sollte. Nun, inmitten des tobenden Zweiten Weltkrieges wird Batley 1941 wieder von seinem Vorgesetzten Scully aktiviert. Er soll herausfinden, an was die Nazis in verschiedenen Fertigungswerken wie den Škoda-Fabriken in Pilsen oder anderen Produktionsstandorten in Europa so fieberhaft arbeiten.

Sind es Atomwaffen, an denen die Nationalsozialisten unter Hans Kammler forschen, die Hitler den erhofften Wendepunkt im immer hoffnungsloser werdenden Kriegsgeschehen bringen sollen?

Während die Deutschen England mit Angriffen ihrer neuartigen „Vergeltungswaffe“ V2 überziehen, die unter Wernher von Braun entwickelt wurde, macht sich Simon auf, um die Spuren Hans Kammlers in Europa aufzunehmen und herauszufinden, an was seine Ingenieure und Zwangsarbeiter arbeiten. Für Simon ein Einsatz mit besonderer Bedeutung, da er auch seine große Liebe aus der Berliner Studentenzeit Hedi im Dunstkreis um Hans Kammler vermutet…

Simon Batley als Wiedergänger James Bonds

Atom ist ein historischer Agententhriller, der Simon Batley als Wiedergänger James Bonds mit seiner Zündapp quer durch Europa schickt. Im Dienste seines Shakespeare zitierenden Vorgesetzten und dem Secret Service Chef C begibt sich Simon ausgestattet mit James Joyces Finnegans Wake, das als Codierungsschlüssel zum Funken dient, sowie einer Zündapp-Maschine auf die Jagd nach dem Phantom Kammler.

Von Lissabon über die belgische Nordseeküste und Oberammgerau bis nach Tschechien führt diese Jagd, die in einem Showdown mündet, der jedem Agententhriller aus Feder Ian Flemings würdig wäre. Jener Ian Fleming ist bei Kopetzky nicht nur literarischer Ideengeber, sondern taucht auch als Figur auf, schließlich stand auch er zur damaligen Zeit im Dienste des MI6, was ihn zu seinen späteren Romanen um den Geheimagenten im Dienste ihrer Majestät inspiriert.

Natürlich dürfen dabei auch keine genretypischen Dialog-Versatzstücke fehlen:

„Verbrecher oder nicht – er hat das Uran versteckt, nur er weiß, wo es ist. Kapierst du es denn nicht? Das Material ist nun einmal in der Welt. Da ist es ja immer noch besser, dass wir es bekommen. Und nicht die Sowjets. Wir werden es niemals einsetzen, natürlich nicht. Aber wir brauchen es! Denk doch einmal nach. Es geht nicht ohne Kammler, und wenn er tausendmal ein Verbrecher ist, woran ich keinen Zweifel habe. Aber die Zukunft der freien Welt ist wichtiger!“

„Hör nicht auf ihn. Drück ab, Simon! Hedi schrie ihm das wütend entgegen. Sie meinte es bitterernst. Sie sagte gerade Lebewohl. Nein, sie brüllte es. „In einer sogenannten freien Welt, in der so ein Schwein einfach davonkommt, lohnt es sich sowieso nicht zu leben. So eine Welt wird untergehen. Worauf wartest du, Simon?“

Steffen Kopetzky – Atom, S. 378

Wettrennen um die Atomkraft – und durch das kriegszerstörte Europa

Spannend ist dieser Roman, der das Wettrennen um die Atomkraft zugleich als Wettrennen durch das kriegszerstörte Europa inszeniert. Zudem ist dieser Roman verblüffend aktuell, da nun wieder über die Abschreckung durch Atomwaffen debattiert wird und ein globales Wettrüsten und Wettrennen um die beherrschenden Technologien beginnt.

„Unsere Zukunft liegt in Europa, oder? Dem Kontinent unserer früheren Feinde. Wir müssen unseren Einfluss und unsere Kenntnisse nutzen, um diesen unseren zukünftigen Freundesraum zu beschützen.“

„Vor den Russen?“

„Und vor den Amerikanern.“

Steffen Kopetzky – Atom, S. 406

Wieder gelingt Steffen Kopetzky ein historischer Spannungsroman vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs, der zugleich auch in Zitaten und Figuren die Handlungen seiner früheren Werke Risiko, Propaganda, Monschau und Damenopfer wieder aufgreift. Zudem steckt sein Buch voller Figuren der (Spionage)Geschichte, von Kim Philby bis zum Raketenpionier Hermann Oberth oder Rolf Engel, der nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft einfach in Ägypten weiter an Raketen baute.

Atom ist reich an solchen Figuren. Besonders stark neben der Geheimdienstatmosphäre und der atemlosen Hatz durch das zerstörte Europa ist das Buch dort, wo es um die schmutzigen Deals rund um die Atomwaffen geht. Dass für die Kriegsgewinner die Frage der Moral in Sachen technologischer Vorherrschaft bei der Atomkraft deutlich hintenanstand, das zeigt der 1971 geborene Autor in seinem Roman deutlich.

Fazit

Wie ein Agententhriller liest sich Kopetzkys Buch, der einen Physiker durch das zerstörter Europa schickt und das zeigt, wie wenig Moral und Ethos zählen, wenn es um die Beherrschung der Kraft des Atoms geht. Ein packendes Buch, das Geschichte erlebbar macht und zugleich eine sanfte Einführung in die physikalische Wirkweise der Kernspaltung ist – und was diese so schwer beherrschbar macht. Das ist historische Unterhaltung über Vertrauen und Täuschung, Illusion und Hoffnung par excellence, mit der Kopetzky weiter an seinem Ruf als Experte für die Verbinder von Historie und Spannung arbeitet.


  • Steffen Kopetzky – Atom
  • ISBN 978-3-7371-0152-3 (Rowohlt)
  • 411 Seiten. Preis: 24,00 €
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Cristina Henríquez – Der große Riss

Mit dem Amtsantritt von Donald Trump als 47. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika ist er wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt – der Panamakanal. Auf ihn erhebt der amerikanische Präsident Anspruch, obschon der Kanal gar nicht auf amerikanischen Boden liegt. Aber die Fremdbestimmung über das Gebiet auf dem Isthmus durch den Nachbarn im Norden hat Methode, wie Cristina Henríquez in ihrem Roman Der große Riss zeigt.


Ein rothaariger Marinesoldat aus Louisiana, der sich während der Reise mit John angefreundet hatte –John zufolge hatten sie eine Runde Dame gespielt, während Marian krank in der Kabine gelegen hatte – stand mit ihnen bei der Reling.

Er sagte: „Wir sind in einen Sumpf gekommen!“

John nickte. „Richtig. Und wir werden hier Ordnung schaffen.“

Cristina Henríquez – Der große Riss, S. 27

Da ist sie wieder, die Hybris der amerikanischen Oberschicht, die gleichzeitig mit Verachtung und einem gesunden Sinn für die eigenen, kolonialen Interessen auf den Rest der Welt blickt. Ist das noch Ordnung oder schon eher die Durchsetzung des eigenen Vorteils in fremden Ländern, der aus solchen Zeilen spricht?

Amerikanische Machtgelüste in Panama

Geäußert werden sie im Fall des Romans von Cristina Henríquez auf einem Postschiff, das sich Richtung Panama befindet. Denn noch 125 Jahre vor den aktuellen Machtgelüsten und Herrschaftsansprüchen eines Donald Trumps war es schon einmal ein amerikanischer Präsident, der auf dem Isthmus, jener mittelamerikanischen Landenge zwischen Pazifik und Atlantik, das Glück seines Landes suchte. Denn seiner Auffassung nach sei es Amerika bestimmt, hier einen Kanal zu bauen, der die langen und umständlichen Fahrten um das Kap Hoorn herum oder durch die Magellanstraße in Südamerika überflüssig mache.

Und so machten sich amerikanischer Staat und Aktiengesellschaft daran, auf fremden Boden mithilfe von Grabungen und Dämmen den Panamakanal zu erschaffen, der heute zu einer der wichtigen Handelsstraßen zu Wasser zählt und der stets auch politische Begehrlichkeiten weckt, wie nun auch der Vorstoß Donald Trumps wieder zeigt.

In Cristina Henríquez‘ Roman befindet sich die Baustelle zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerade auf dem Höhepunkt. Die Baustelle lockt mit der Aussicht auf Lohn und Brot Menschen nicht nur aus Amerika herbei. Auch Omar sucht bei den Bauarbeiten im „Großen Riss“ sein Glück. Eine Arbeit als Fischer auf dem Wasser ist das seine gar nicht, weshalb er sich zum Unverständnis seines Vaters auf den Weg zur Baustelle macht.

Oh wie schön ist Panama?

Cristina Henríquez - Der große Riss (Cover)

Und auch die junge Ada bricht als blinde Passagierin ohne das Wissen ihrer Mutter aus Barbados nach Panama auf. Dort hofft sie ebenfalls auf Arbeit, da sie dringend für ihre Familie Geld verdienen möchte. Ihre Schwester leidet nach einer Lungenentzündung unter Flüssigkeit in der Lunge und benötigt eine Operation. Die utopischen Kosten von 15 Pfund sind für ihre alleinerziehende Mutter und die beiden Töchter so nicht zu stemmen, weshalb sie sich nun ebenfalls aufmacht und im herrschaftlichen Anwesen der Oswalds Arbeit findet.

Ausgehend von diesen beiden Figuren erzählt Christina Henríquez vom Leben und Arbeiten dort in Panama, wo das Wetter nur die beiden Aggregatszustände nass und heiß kennt. Während der große Riss das Land immer tiefer durchzieht, ist er auch zwischen den Generationen der Eltern und ihrer Kinder aufgetreten. Während der Fischer Francisco seinen Jungen Omar nicht verstehen kann, der täglich auf der Baustelle auf dem Isthmus schuftet, trennt sich auch Ada von ihrer Familie, um Geld nachhause zu bringen.

Ein gefälliger historischer Roman – mit zu wenig Rissen

Leider überführt Henríquez diese Ausdeutung der Risse nicht auch auf ihre Figuren. In diesem konventionell und gefällig erzählten historischen Roman fehlt es den Figuren selber an Craquelé, das diese interessant machen würde.

Auch wenn der Roman selbst viele Fragen antippt, etwa das übergriffige Verhalten der amerikanischen Kolonisatoren, die für den Bau ihres Kanals schon einmal ganze Dörfer umsiedeln wollen, bleiben die großen Konflikte hier doch auf und löst sich fast alles in Wohlgefallen auf. Die Liebe kittet zum Ende hin wieder viele Risse, Eltern nähern sich ihren Kindern an und umgekehrt, irgendwie fügt sich alles und bleibt bruchlos – womit Christina Henríquez viel Potential vergeudet.

Die Kontinuität zwischen amerikanischen Bauherren auf dem Isthmus einst und die aktuellen neokolonialen Tendenzen der USA, all das könnte bei einer mutigeren Bearbeitung des Themas höchst erhellend sein. Alle politischen und gesellschaftlichen Implikationen lässt der Roman aber so gut wie außen vor.

Francisco starrte in die Luft. Er erinnerte sich, wie optimistisch und hoffnugnsvoll Joaquín zur Zeit von La Separación gewesen war. „Ich nenne ihn La Boca“, sagte Francisco.

„Wen?“

„Den Kanal.“

„Du nennst ihn den Mund?“

„Ja. Er frisst uns auf.“

Joaquín nickte pathetisch. „Das ist richtig, mein Freund. Wir sind der Fisch“.

Cristina Henriquez – Der große Riss, S. 198 f.

Der große Riss konzentriert sich auf die Figuren aus der Arbeiterschichte und verpasst es, über diesen lebensweltlichen Ausschnitt hinaus ein größeres Bild zu zeichnen. Außer kleinen Protestfeuern und kurzen Momenten der kritischen Beschau der kolonialen wirtschaftsorientierten Verhaltensweisen der Amerikaner bleibt der Roman zu zahm und dringt nicht wirklich in die Tiefe vor.

Hätte Christina Henríquez den Mut zu einer Tiefenbohrung in Sachen gesellschaftlicher Auswirkungen des Baus gehabt, ganz so, wie es die Amerikaner mit dem megalomanischen Bauprojekt auf dem Isthmus zeigten, hätte der Roman mehr Wirkung entfaltet. So konzentriert sich die Autorin lieber auf die kleinen Glücksmomente und Fügungen des Lebens und verharrt auf dem Anwesen der Oswalds, zeigt die Annäherung von Ada und Omar und beschränkt sich auf oberflächliche Dialoge, wie dem hier zitierten Beispiel.

Das tut niemanden weh, ist gefällig und lässt sich gut weglesen. Es bringt aber auch keine gesteigerte Erkenntnis mit sich. Diesem Roman fehlt leider etwas Subtext, insbesondere angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen. Eher ist der Roman etwas für Freunde historischer Unterhaltung, wie sie etwa Daniala Raimondi oder Abraham Verghese sie schreiben.

Fazit

So verschenkt Der große Riss leider einiges an Potential und kommt über einen gefälligen historischen Roman nicht hinaus. Etwas mehr Mut zu kleinen Rissen im Erzählen und in den Figuren hätte dem Roman von Christina Henríquez gutgetan. So bietet der konventionelle historische Roman in diesen Tagen keine gesteigerten Erkenntnisse und ist leider zu schnell wieder vergessen.

Weitere Stimmen zu Cristina Henríquez‘ Roman gibt es unter anderem bei der NZZ, SWR Kultur und Deutschlandfunk Kultur.


  • Cristina Henríquez – Der große Riss
  • Aus dem Englischen von Maximilian Murmann
  • ISBN 978-3-446-28251-3
  • 412 Seiten. Preis: 26,00 €
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Audrey Magee – Die Kolonie

Kulturkampf auf der Insel. In Die Kolonie lässt Audrey Magee einen Maler und einen Linguisten auf einem kleinen irischen Eiland aufeinandertreffen und um künstlerischen Ausdruck, Autonomie und das Erbe des Kolonialismus ringen. Großartige und vielschichtige Unterhaltung, die die Bedeutung von Sprache herausstreicht. Da trifft es sich gut, dass Magees Buch mit Nicole Seifert eine passende Übersetzerin aufweist, die die vielen sprachlichen Schichten des Romans auch im Deutschen gelungen freilegt.


Diese Überfahrt hat es in sich. In einem kleinen Curragh, einer Art Ruderboot, wird der Künstler Lloyd zu Beginn des Romans von Audrey Magee auf eine namenlose kleine Insel übersetzt. Drei Meilen in der Länge, eine halbe in der Breite misst die Insel, die von gerade einmal 92 Menschen bevölkert wird.

Dort will Lloyd den Sommer verbringen – und vor allem zeichnen. Denn von der urwüchsigen Schönheit der Natur, den meeresumtosten Klippen und den Tieren auf der Insel erhofft er sich Inspiration und Motive, die er wieder mit nach Hause nach London bringen kann, wo seine Frau als Galeristin arbeitet.

Doch nicht nur, dass seine eigentliche Unterkunft für Lloyds Geschmack zu wenig Licht hat und er mit seinen Extrawünschen die Geduld seiner Vermieterin Bean Uí Néill und deren Tochter Mairéad strapaziert. Vor allem die Ankunft eines zweiten Mannes auf der Insel stört seinen inneren Frieden erheblich. Denn bei diesem handelt es sich um Jean-Pierre Masson, einen Linguisten aus Paris, der die Insel auch als Inspiration nutzt – allerdings für eine Studie über die irische Sprache.

Ein Maler und ein Linguist – und der Kampf um die Insel

Unter dem englischen Einfluss ist das Irische nahezu ausgestorben. Nur auf dieser Insel spricht man es noch wie früher, ohne dass die englische Sprache bislang eine nennenswerte Rolle gespielt hätte. Doch nun taucht dieser sasanach – so der irische Ausdruck für die Engländer – auf und bedroht die Reinheit der Sprache und damit auch sein Forschungsprojekt. Schnell sind sich die beiden Männer in ihrer gegenseitigen Ablehnung einig.

Also, sind wir bereit für einen Sommer mit diesen beiden Männern?

Das wird höchst unterhaltsam, sagte Mairéad.

Meinst du?, fragte Bean Uí Néill.

Ein Spektakel, Mam.

Mir gefällt das nicht. Zwei Ausländer gleichzeitig.

Lehn dich einfach zurück und guck zu, Mam. Genieß es.

Die werden den ganzen Sommer lang streiten, sagte Bean Uí Néill.

Kampf der Egos, sagte Francis. Frankreich gegen England.

Audrey Magee – Die Kolonie

Und so beginnt der Sommer, der – abgesehen von den Streitigkeiten, die fast an Loriots Zwist zwischen den beiden Herren im Bad erinnern – eine Idylle sein könnte, dort auf der Insel, fernab von allen Problemen.

Nachrichten von den Troubles

Audrey Magee - Die Kolonie (Cover)

Doch eine Idylle ist es nicht, mag die Insel in ihrer Unberührtheit und der Entfernung zum Festland auch so scheinen. Denn Die Kolonie spielt in Irland zur Hochzeit der Troubles, als der Kampf zwischen Unabhängigkeitsbefürwortern und Loyalisten auf der Insel zu heftigen Kämpfen und vielen Toten führte, darunter mit Lord Mountbatten sogar ein Onkel der Queen.

Während auf der Insel der Linguist und der Maler miteinander streiten, versinkt die irische Insel in Blut, was auch den Bewohnern des wesentlich kleineren Eilandes nicht verborgen bleibt. Und auch Audrey Magee platziert die Troubles im Herzen dieses Buchs. Die Kapitel werden nämlich allesamt durch fast telegrammartige Schilderungen des brutalen Terrors eingeleitet. Dieser kommt in Form von Totschlag, Schießereien und Bomben in kurzen Schlaglichter daher. Diese wirken zwar wie Nachrichten aus einer fernen Vergangenheit, sind es aber mitnichten.

Die Kolonie ist ein Roman über die Spaltung und den Kampf um Deutungshoheit, der sich bei Audrey Magee nicht nur zwischen Nordirland und dem Rest der Insel vollzieht, sondern der sich auch in anderen Form im Zwist auf der Magees wesentlich kleineren Insel spiegelt. Wie umgehen mit dem Erbe der Engländer, das sie Irland geopolitisch und sprachlich hinterlassen haben? Wie bewahrt man sich eine eigene Identität?

Von der Macht der Sprache

Im Falle von Die Kolonie ist es hauptsächlich das Feld der Sprache, auf denen dieser grundsätzliche Glaubensstreit ausgetragen wird. Jean-Pierre Masson, der aus den Erfahrungen des Umgangs der Kolonialmacht Frankreich mit Algerien heraus verhindern will, dass in Irland ähnliches geschieht und die Insel mit dem wachsenden Einfluss des Englischen auch ihre Identität verliert.

Dieses Land wurde kolonisiert, sagte Lloyd

Wird, sagte Francis.

Lloyd zuckte mit den Schultern.

Die Sprache ist ein Opfer der Kolonisierung, sagte er. In Indien. In Sri Lanka. In Algerien. (…)

Die Sprache lebt noch, sagte Masson. Hier auf dieser Insel.

Audrey Magee – Die Kolonie

Folglich beäugt er nicht nur die Anwesenheit eines Vertreters dieser ehemaligen Besatzungsmacht misstrauisch, auch versucht er, nicht nur in Interviews und seiner wissenschaftlichen Arbeit, sondern auch praktisch den Einfluss des Englischen zurückzudrängen, was ihn natürlich in Opposition zu Lloyd bringt. Denn dieser sieht die Insel nicht nur als Materiallieferant für seine eigene Karriere, auch Séamus, Mairéads Sohn, ist von der Kunst des Malens fasziniert, in die ihm Lloyd einführt. Während er dessen Nähe sucht und mit der Idee seines Weggangs von der Insel liebäugelt, versucht Masson diesen nicht nur durch das beharrliche Ansprechen mit seinem irischen anstelle des anglisierten Namen James zur Besinnung auf seine Herkunft zu überzeugen.

Im Kleinen wie Großen vollziehen sich in Audrey Magees Buch diese Konflikte, die aber auf den zweiten Blick oftmals gar keine sind. Nicht nur dadurch, dass sich die traditionelle, an Rembrandt ebenso wie an Gaugin geschulte Maltechnik und Bildwelten Lloyds JP Massons Versuchen der Bewahrung des Vergangen ähnelt, ergeben sich Parallelen und Ansichten, die die Figuren so manches Mal lieber nicht wahrhaben wollen.

Dass sich Audrey Magee entschieden hat, auch den beiden Antipoden dieses Romans auch ganz unterschiedliche Sprachprägungen zu verleihen, ist ein großer Glücksfall, der von Nicole Seifert gelungen im Deutschen wiedergegen wird. Da die impressionistische Sprache Lloyds, der viel in Motiven, Farben und Gemäldetiteln denkt, da der zu ausschweifenden Formulierungen neigende JP, der auf der Insel seine Arbeit über das Irische abfasst.

Fazit

Fein ausgemalte Figuren und große und kleine Brüche ergeben ein faszinierendes Bild und großartiges Leseerlebnis, das von der Macht der Sprache und den Einflussfaktoren, die sie bedrohen, erzählt. Audrey Magee gelingt mit Die Kolonie ein klug konstruiert und ebenso gut durchdachter Roman, der der Betrachtung in Form einer genauen Lektüre lohnt. Wunderbar ins Deutsche übertragen ist dieser 2022 für den Booker Prize nominierte Roman nun auch endlich auf Deutsch zu entdecken – eine feine Sache!


  • Audrey Magee – Die Kolonie
  • Aus dem Englischen von Nicole Seifert
  • ISBN 978-3-312-01289-3 (Nagel und Kimche)
  • 400 Seiten. Preis: 24,00 €
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Matthias Lohre – Teufels Bruder

Zwei Senatorensöhne auf Grand Tour durch Italien, mit im Gepäck Schreibkrisen, Liebeskummer und die Frage, wohin der Lebensweg führen soll. Einen führt dieser Lebensweg in Matthias Lohres zweitem Roman Teufels Bruder nicht nur von Lübeck nach Italien – sondern sogar in die die Arme des Teufels. Der Name des Reisenden: Thomas Mann.


In seinen im vergangenen Jahr unter dem Titel Leoparden im Tempel wiederveröffentlichen Schrifstellerporträts beginnt Michael Maar seine Annäherung auf das Phänomen Thomas Mann mit einer Frage. Welches ist die Figur, die einem in Thomas Manns erstem Roman als erstes begegnet – oder die besser gesagt angerufen wird? Die Lösung lautet: der Teufel. Denn dieser hat gleich als erstes in einem Ausruf des Konsuls Buddenbrook als „Düwel“ seinen Auftritt.

Das ist alles andere als verwunderlich, wie Maar im Folgenden aufzeigt. Denn der Teufel besitzt im Werk Thomas Manns einen ganz eigenen Stellenwert, schließlich will Mann dem Teufel sogar höchstpersönlich in Italien begegnet sein. Auch in Matthias Lohres zweitem Roman ist der Teufel im Leben Thomas Manns stets präsent und spukt häufig durch den Text. Denn dessen Roman spürt der Faszination Manns für den Teufel nach, indem er jene Jahre in den Mittelpunkt rückt, in denen sich Heinrich und Thomas Mann auf jene Grand Tour durch Italien begaben, bei der dem jüngeren der beiden Brüder nach eigener Aussage der Teufel erschienen sein soll.

Zwei Senatorensöhne auf Grand Tour

Matthias Lohre - Teufels Bruder (Cover)

Lohres Buch setzt im Jahr 1896 ein. Nach dem Tod ihres Vaters, eines angesehenen Lübecker Konsuls, reisen beide Brüder durch Italien. Das väterliche Erbe und enttäusche Erwartungen beschäftigen die beiden Reisenden ebenso wie die Frage, wo es hingehen soll in ihrem Leben. Schriftsteller wollen sie beide sein, doch der große Erfolg lässt besonders im Falle von Thomas Mann noch auf sich warten. Noch nicht einmal wirklich zu erahnen ist dieser erhoffte Erfolg.

Konkret ist bislang nur die Ebbe in der Reisekasse der Brüder. Und so lässt sich Heinrich mit einem Verleger auf einen besonderen Deal ein. Er soll als Herausgeber dessen Zeitschrift Das zwanzigste Jahrhundert vorstehen, um so Geld in die Reisekasse zu spülen. Doch ganz so vorteilhaft entpuppt sich der Deal nicht, denn fortan begleitet Heinrich den Filius des Verlegers auf seinen Reisen, der wiederum Heinrich für seine eigene Agenda einspannt und die Brüder zur Abgabe von Novellen bewegen möchte. Der Arbeitstitel dieses Projekts trifft dabei die bisherige Schaffensbilanz der Brüder in Italien vortrefflich, denn er lautet Enttäuschung.

Und dann ist da ja auch noch Thomas Mann, der im Gefolge seines Bruders ebenfalls mit durch Italien reist. Schon zu Beginn der Grand Tour in Venedig allerdings passiert etwas, das Tommy, wie ihn sein Bruder ruft, entschieden prägt. Denn in Vendig wird er eines jungen Mannes ansichtig, dessen Spuren er auf seiner ganzen Reise durch Italien folgt. Bis auf den Kraterrand des Vesuvs in Neapel steigt der jüngere der beiden Mann-Brüder dem geheimnisvollen Jungen nach. Doch wo immer er dem Jungen begegnet, ist auch ein geheimnisvoller Fremder nicht fern…

Das komplizierte Miteinander zweier Brüder

Teufels Bruder ist die Geschichte zweier komplizierter Brüder, deren Miteinander nicht minder kompliziert ist. Da der feinfühlige und feinnervige Thomas Mann, der sich zum Schriftsteller berufen fühlt, aber doch anfangs über kleine Formen und eine gewisse Ortientierungslosigkeit nicht hinwegkommt. Da Heinrich, der sich mit seinen Texten schon einen gewissen Ruf erschrieben hat, aber trotzdem mit der Ablehnung des väterlichen Erbes hadert. Aufgerieben zwischen dem Begehren für eine Schauspielerin und einer Scharade gegenüber seines Verleger und dessen Sohn, die ebenso Schauspiel erfordert und dann auch noch die Fürsorge für seinen irrlichternden Bruder – all das zehrt an Heinrichs Nerven.

Wie sich die beiden Brüder mal duellieren, dann wieder aufeinander angewiesen sind, das versteht Lohre trefflich zu schildern. Er lässt sich für seinen Roman gar nicht auf das Himmelfahrtskommando ein, sich einen der hohen Erzähltöne anzuverwandeln, für den die beiden Brüder bekannt sind.

Vielmehr entwickelt er einen eigenen Stil, mit dem er sowohl die rastlose Grand Tour durch Italien als auch Fragen der künstlerischen Selbstfindung und innere Konflikte zu schildern vermag. Großartig etwa die Szene, wenn die Brüder Mann auf Drängen des Richard Wagner-begeisterten Thomas in Rom einer Aufführung der von ihm so hochverehrten Werke des deutschen Komponisten lauschen wollen.

Zwischen Venedig und Neapel

Über die geschilderte Musik und das Konzerterlebnis auf dem überfüllten Platz hinaus treffen hier verschiedene Konflikte und Erzähllinien des Romans aufeinander und verschränken die unterschiedlichen Erzählebenen. Das gelingt Matthias Lohre außerordentlich gut, obgleich die Übersicht im all den erzählerischen Sprüngen von Heinrich zu Thomas Mann, verbunden mit den vielen Stationen der Reise (von Venedig über Palestrina bis in den Untergrund der Sanità in Neapel und zurück), nicht immer ganz leicht zu behalten ist.

Besondere Freude macht es in Teufels Bruder natürlich, die vielen Anspielungen im Werk von Thomas und Heinrich Mann zu entschlüsseln. Von Mann und Hund über den Tod in Venedig bis hin zur möglichen Geburtstunde der Buddenbrooks reicht der anspielungsreiche Bogen, den Lohre unter dem eigentlichen Plot spannt und der in seiner Verknüpfung von fiktiv Erlebtem zu tatsächlichem Werk wirklich interessant ist.

Im großen Gedenkkonzert an die Mann-Brüder und den 100. Geburtstag des epochalen Zauberbergs kommt diesem Roman eine ganz eigene Stimme zu, mit der er sich in der Vielzahl anderer Mann-Hommagen zu behaupten weiß.


  • Matthias Lohre – Teufels Bruder
  • ISBN 978-3-492-07279-3 (Piper)
  • 544 Seiten. Preis: 25,00 €

Bildquelle Titelbild: Library of Congress unter Verwendung https://loc.gov/pictures/resource/ppmsc.06559/

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