Category Archives: Historischer Roman

Carlos Franz – Das Quartett der Liebenden

Was sind die anstrengendsten Malerreisen in den Dschungel schon gegen die Liebewirren, in denen sich der Augsburger Landschaftsmaler Johann Moritz Rugendas verfängt? Nichts, wie der chilenische Autor Carlos Franz in seinem Roman Das Quartett der Liebenden zeigt. Darin lässt er Charles Darwin und Rugendas um die Liebe einer Frau im Dschungel Chiles wetteifern. Gelungene Prosa mit hohem Potenz-Anteil.


Rugendas – Landschaftsmaler. So verkündet es die Karte, mit der sich Johann Moritz Rugendas ausweist – und die er nach seiner ersten Begegnung Carmen Gutiérrez überreicht, die er im Hafen von Valparaiso auf den ersten Seiten von Carlos Franz‘ Roman kennenlernt.

Schon bei seiner ersten Begegnung hat die selbstbewusste Frau im Hafen von Chile mächtig Eindruck auf den aus Augsburg stammenden Maler gemacht.

So nimmt es die bildschöne Frau mit dem Kapitän von Rugendas Schiff auf, das den Maler in den Hafen der chilenischen Stadt gebracht hat. Energisch setzt sie sich gegen die grobschlächtigen Männer durch, um eine Schiffsladung zu sichern, die sie sehnsüchtig erwartet. Ihr Intervenieren nutzt auch Rugendas, der sich für ihren Einsatz mit einem von schneller Hand hingeworfenen Porträt der schönen Frau bedanken möchte. Doch dieses Porträt zerreißt sie brüsk und weist Rugendas Avancen kühn zurück. Damit weckt sie aber im Maler aber erst recht den Wunsch, diese Frau näher kennenzulernen.

Eine Begegnung in Valparaíso

Carlos Franz - Das Quartett der Liebenden (Cover)

Tatsächlich kommt es nach einigen Anfangsschwierigkeiten der beiden gegensätzlichen Charaktere zu einer Annäherung, die in einer Affäre zwischen dem Maler und der temperamentvollen Chilenin gipfelt, dem sie Porträt sitzt. Doch nicht nur Carmens Gatte bedroht die Affäre – auch ein anderer Naturforscher namens Charles Darwin weckt das Interesse von Carmen Gutiérrez – was auf Gegenseitigkeit beruht.

So entspinnt sich die Dynamik der Handlung, die sich aus den Anziehungen und Abstoßungen zwischen den drei Männern und Carmen im Zentrum speist, die Carlos Franz mit Sinn für die erotische Aufladung der Konstellation schildert.

Kapitelüberschriften wie „Der beste Liebhaber der Welt“, „Die Musen entkleiden“, „Ich bin doch kein Deckhengst“ oder „Der längste Penis der Welt“ verschweigen die Potenz von Franz‘ Prosa nicht. Liebe in Form sexueller Eskapaden und gehäufter Kopulation nimmt in Das Quartett der Liebenden einen durchaus prominenten Raum ein. Aber die Tonsetzung offenbart sich nicht erst hier. Sie wird schon mit dem ersten Absatz von Franz‘ Roman klar:

Der leuchtende Junimorgen, an dem du Carmen kennenlerntest, strahlte nach einer Woche voller Gewitter über dem Pazifik. Dein Schiff wäre vor der chilenischen Küste beinahe untergegangen, mehrere Male hattest du dich schon mit dem Tod abgefunden. Doch nun lief der Schoner mit zerfetzten Segeln, ziemlich zerlumpt, in die helle Bucht von Valparaíso ein. Das tat er mit dem zärtlichen Verlangen eines Mannes, der in die geliebte Frau eindringt.

Carlos Franz – Das Quartett der Liebenden, S. 9

Viel amouröses und künstlerisches Potential

Den Roman allerdings nur auf sein amouröses Potenzial zu reduzieren, täte dem Quartett der Liebenden allerdings unrecht. Denn der Roman atmet die Farben und Kulissen in Chile, versetzt mit einer Rahmenhandlung, die Darwin und Rugendas als gealterte Liebhaber Carmens zwanzig Jahre später nach den eigentlich Ereignissen 1854 in Großbritannien noch einmal zusammenführt. Zudem ragt der Roman mit seiner ungewöhnlichen Erzählperspektive in Form der Zweiten Person Singular heraus. Immer wieder wird der von Carmen liebevoll „Moro“ geheißene Rugendas in Du-Form adressiert.

Und auch die Kunst spielt in Carlos Franz‘ Roman eine große Rolle. Da weisen Überschriften wie „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ auch auf den im wahrsten Wortsinn malerischen Hintergrund des Romans hin. Immer wieder gelingen Franz beeindruckend geschilderte Momente, die sich auch an die Kunst wichtiger Maler der Zeit anlehnen.

Immer wieder findet sich Rugendas in Szenen wieder, die wie in diesem Fall von Caspar David Friedrich stammen könnten. Aber auch Albrecht Dürer oder Hans Holbein sind wichtige Einflussfaktoren sowohl für das Erzählen Franz‘ als auch für den Künstler Rugendas, wie Carlos Franz in diesem „Werk der reinen Fantasie“ zeigt, so der Autor in seinem Nachwort.

Malen mit Worten

Das Malen mit Worten, Carlos Franz beherrscht die Kunst hervorragend. Dort ein Showdown auf einer Hängebrücke im Nebel, während der Fluss unter Rugendas tobt, an anderer Stelle der massive Felssturz und Vulkanausbruch auf dem Berg Aconcagua, der in einem Überlebenskampf in einer Höhle mündet, die in Darwin und Rugendas nicht nur ungeahnte Kräfte freisetzt, sondern auch zu einem archaischen Schöpferakt führt, wenn die beiden Naturerkunder schließlich sogar die Höhlenwände bemalen und damit wieder zum künstlerischen Urtext des Buchs zurückkehren.

Hier kommt dem Buch zupass, dass das Werk mit Carlos Franz nicht nur einen Autor hat, der mit Worten fast ebenso gut malen kann wie Rugendas mit seinen Pinseln. Auch der Übersetzer Lutz Kliche erweist sich als gewandter Sprachmeister, der das registerreiche Spanisch Franz‘ voller historisierender Begriffe in ein fließendes und sprachmächtiges Deutsch überträgt.

Ein riesiges Stück des Gletschers, der die linke Schulter des Aconcagua bedeckte, begann die Südwand des Bergs hinunterzurutschen und wurde jetzt unter der Nebeldecke sichtbar. Ein langsames, phantastisches Schiff ganz aus Eis, stahlblau, majestätisch, unwiderstehlich. Sein Bug, durch hunderte Vergletscherungen gehärtet, bahnte den Weg für einen riesigen Kiel, der den Hang aufschlitzte- Sprachlos schautest du hinauf, Moro, und fühltest dabei, dass das Erhabene – dem du so sehr nachgejagt warst – jetzt dir nachjagte. Das losgelöste Gletscherstück von mindestens einem halben Kilometer Länge zerschnitt mit seinem Sporn die Metalladern, die den Hang kreuzten, zerteilte die Sehnen aus Stein, die ihn zusammenhielten. Der Aconcagua brüllte und kreischte vor Schmerz, während das Eis seine Flanke aufschlitzte. Auf eurem Felsvorsprung mussten Darwin und du sich die Ohren zuhalten.

Carlos Franz – Das Quartett der Liebenden, S. 280

Fazit

Erotik, Anziehung, Natur und Kunst finden in Das Quartett der Liebenden zu einem stimmigen Leseerlebnis zusammen, das von Ilja Trojanow im Rahmen der Edition Weltlese entdeckte und das im Programm der Büchergilde Gutenberg zugänglich gemacht wurde. Carlos Franz‘ Buch erzählt vom heute fast unbekannten Künstler Rugendas und zeigt, wie spannend auch Literatur aus Landstrichen wie in diesem Falle Chile sein kann, die hierzulande eher ein unbeachtetes Dasein fristet.

Bildquelle Titelbild: Flickr/Canal C


  • Carlos Franz – Das Quartett der Liebenden
  • Aus dem Spanischen von Lutz Kliche
  • Art. Nummer 171376 (Edition Weltlese, Büchergilde Gutenberg)
  • 479 Seiten. Preis: 26,00 €
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Arno Frank – Ginsterburg

Hoffnung auf Größe, die wie Seifenblasen platzt. In seinem neuen Roman Ginsterburg zeichnet Arno Frank über eine Dekade hinweg den Weg Deutschlands in die Dunkelheit nach. Mit den Mitteln eines Kleinstadtromans erzählt er von den Jahren 1935 bis 1945, als auch in der fiktiven Kleinstadt die große Politik einschlug und Konsequenzen forderte.


Auf den ersten Seiten ist es ein Zirkus, der Einzug hält in der Kleinstadt Ginsterburg und der den Bewohnern und Bewohnerinnen dieser Stadt Abwechslung verheißt. Doch seine besseren Tage liegen schon lange hinter dem Zirkus. Ein Motorradfahrer, der vor jeder Steilwandfahrt sein Gefährt warten und reparieren muss, ein indischer Tiger, dessen Hauptbeschäftigung nurmehr der Schlaf ist, eine betagte Wahrsagerin, ein Seifenblasenzauberer, viel mehr hat der Zirkus nicht mehr aufzubieten.

Dennoch lässt sich der junge Lothar von der verheißungsvollen Magie der Artisten in der Stadt einnehmen und folgt den mit Rauch gefüllten Seifenblasen staunend, die als Ankündigung des Spektakels in den Himmel entschweben, ohne zu zerplatzen.

Dies wird so ziemlich das Einzige sein, das auf den folgenden 420 Seiten nicht zerplatzt. Denn in seinem neuen Roman blickt Arno Frank tief hinein in die dunklen Jahren Deutschlands, als Scharlatane, Blender, Karrieristen und Verführer das „Dritte Reich“ ausriefen und mit der Unterstützung der Bevölkerung das Land abermals in Tod und Leiden stürzten.

Ginsterburgs Weg ins Verderben

Arno Frank - Ginsterburg (Cover)

Auch in Ginsterburg lässt sich diese Entwicklung nachvollziehen. Dafür wählt Arno Frank einen dreiteiligen Erzählansatz, indem er zunächst vom Jahr 1935 in Ginsterburg erzählt, gefolgt von Sprüngen in die Jahre 1940 und 1945. Zunächst scheint noch alles geregelt, der junge Lothar singt im Kirchenchor, seine Mutter Merle bietet als Buchhändlerin neben erwünschten Büchern wie Barb – eine deutsche Frau auch Ricarda Huch an und begeistert sich als Leserin für die Bücher Friedells, Remarque oder Alice Behrend. Der steile Walter betreibt ein Kino und Blumengroßhändler Gürckel hat sein Geschäftsfeld weit über seinen Blumengroßhandel ausgedehnt und ist zum NSDAP-Kreisleiter und zum Bürgermeister der Stadt im Schatten des mit Gargoyle-Wasserspeiern geschmückten Münsters aufgestiegen.

Hier schon zeigen sich die ersten Anzeichen, des bald folgenden Kriegs. Die Zwillinge des Bürgermeisters paradieren in ihren Nazi-Uniformen, auf Merles Schaufenster werden in Ermangelung von nennenswerten jüdischen Geschäften Hakenkreuze geschmiert, wer kann, ist schon geflohen oder hat Suizid begangen, wie der Chefradakteur des Ginsterburger Boten, für den auch Eugen von Wieland schreibt, der außerdem mit Merle eine Affäre pflegt.

Der schon in seinem letzten Roman Seemann vom Siebener erprobte Ansatz des multipersonalen Erzählens findet auch in Ginsterburg wieder Anwendung. Immer wieder begegnen sich die Figuren im kleinen Städtchen, suchen sie ihren eigenen Vorteil oder das kleine Glück und entwickeln sich über die zehn Jahre. Merles Sohn Lothar etwa wird vom scheuen und verträumten Jungen zu einem vielgerühmten Kampfflieger, Gürckel wird von seiner Frau für einen Nazi-Goldfasan verlassen, nur damit sie später hochherrschaftlich zu ihm zurückfindet, während er sich in der Zwischenzeit das kleine Ginsterburger Schloss mit Tiepolo-Kunst angeeignet hat.

Große Geschichte in der Kleinstadt

Im Kleinen erzählt Arno Frank, was sich im Großen in diesen Jahren überall in Deutschland abspielte. Bereicherung, Hass und Hetze, Verfolgung Andersdenkender, Mitläufer und privater Widerstand, Verlobung, Tode und Schlachten, all diese Facetten greift Ginsterburg auf

Nicht alles ist dabei ganz rund. Der zu Beginn groß eingeführte Zirkus verschwindet abgesehen von kleinen rekurrierenden Momenten aus der Handlung, auch die auf den Seiten eingeführte Vorschau auf die Tode von einigen Figuren gibt Arno Frank als Stilmittel schnell auf und beachtet diese Form des Erzählens im Folgenden kaum. Hier liegt sicher noch etwas erzählerisches Potential, das Arno Frank in einer etwas stringenteren Form mit weiteren Romanen noch ausschöpfen könnte.

Ihm fehlt in einigen Passagen auch etwas die Konsequenz für die Folgen des Bösen, die Eva Menasse in Dunkelblum an den Tag legte, in dem sie das Dunkle der Schuld schmerzhaft hell ausleuchtete. Wenn dann aber die Brandbomben auch auf Ginsterburg fallen, dann ist man mit den kleineren Mängeln versöhnt und beobachtet atemlos die Folgen dessen, was die Kleinstadt über die Jahre zuvor mit ihrem Verhalten heraufbeschworen hat.

Auch lobenswert ist der Umstand, dass sich Arno Frank über die Sprache Gedanken gemacht hat, mit der er sein Personal sprechen lässt. Hier gibt es noch das Fräulein, Heranwachsende hecken Bubenstücke aus und man kommt direktemang zur Sache. Das verleiht Ginsterburg auch sprachlich eine Authentizität, die die Fiktion dieser Kleinstadt ein ganzes Stück weit wieder vergessen macht und die auch über die schreckliche Künstlichkeit des KI-generierten Covers hinweghilft.

Fazit

Das Platzen von Träumen, das Fallen von Bomben, die Zerstörung aller Illusionen – das beschreibt Arno Frank auf lesenswerte Art und Weise und zeigt sich damit als Schriftsteller noch einmal ein ganzes Stück gereift. Interessant montiert und sprachlich authentisch ist Ginsterburg ein Lehrstück über die Kräfte des Bösen und die Konsequenzen, die diesen folgen, egal ob in der Kleinstadt Ginsterburg oder im Großen. Das macht dieses Buch unbedingt lesens- und diskussionswert!


  • Arno Frank – Ginsterburg
  • ISBN 978-3-608-96648-0 (Klett Cotta)
  • 432 Seiten. Preis: 26,00 €
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Steffen Schroeder – Der ewige Tanz

In seinem neuen Roman Der ewige Tanz entdeckt Steffen Schroeder die Zeit vor hundert Jahren als die eigentlich moderne. Er erzählt vom Leben der Tänzerin Anita Berber und zeigt, dass ihr Leben deutlich mehr bedeutete, als nur die skandalumwitterte „Nackttänzerin“ zu sein. Dabei zeigt Schroeder einmal mehr große Einfühlungs- und Beschreibungskunst.


Ist das wirklich die Zeit vor ziemlich genau hundert Jahren oder doch eigentlich unsere Gegenwart, die Steffen Schroeder hier beschreibt? Theorien und Forschungen zum Dritten Geschlecht werden entwickelt, in Berliner Clubs trifft sich die äußerst lebendige queere Szene, die Kirche hingegen kämpft mit Nachwuchsproblemen und der spätere Ehemann von Anita Berber weiß, wie zukunftsweisende Mobilität aussieht:

„So betrunken, wie du bist, wirst du deinen Wagen, wenn du überhaupt einen hast, wohl kaum angekurbelt bekommen.“

„Ich muss nicht kurbeln! Ich fahre einen Lloyd, ein Elektromobil, um genau zu sein. Da muss man zum Anlassen nur den Knopf drücken. Das lästige Schalten entfällt ebenfalls, man braucht kein explosives Benzin, alles läuft ohne Gestank oder Abgaswolken. Selbst betrunken fährt man mit Leichtigkeit und lautlos durch die Welt. Demnächst wird sich das Elektromobil durchsetzen, alles andere wäre absurd.“

Steffen Schroeder – Der letzte Tanz, S. 83

Nun gut, auch ein Säkulum später scheint der vollständige Siegeszug der Elektromobilität hierzulande noch absurd – aber in den immer wieder aufscheinenden Parallelen zwischen der Vergangenheit und Heute macht Steffen Schroeder bewusst, was für eine im wahrsten Wortsinn moderne und zukunftsweisende Zeit es war, damals in Berlin.

Erinnerungen im Bethanien-Krankenhaus

Steffen Schroeder - Der ewige Tanz (Cover)

Für Anita Berber ist zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht mehr viel mit Zukunft. Denn sie liegt sterbenskrank in einem Bett im Bethanien, dem von Diakonissinnen betriebenen Krankenhaus. Dort laboriert sie an einer Tuberkulose und erhält ab und an Besuch aus ihrer Vergangenheit. Vor allem taucht sie dort aber ein in die Erinnerungen an ein Leben, welches die ganze Fülle des irdischen Daseins ausschöpfte.

Steffen Schroeder zeigt Anita Berber als einen Prototyp des gefallenen Stars, der den Weg zum Gipfel des Ruhms und den anschließenden Abstieg in die Bedeutungslosigkeit noch vor allen Hollywood-Starlets unserer Tage vollzog. Dabei greift er weit aus, geht zurück bis in die Kindheit der 1899 in Leipzig geborenen Frau. Die kindliche Verbundenheit mit ihrer Großmutter, die weltanschauliche Offenheit des vaterlosen Haushalts, die Karriere der Mutter als Variétésängerin in Berlin und die Distanz zu ihr, all das wirkt auf die junge Anita ein und prägt sie.

Von Berlin nach Wien auf den Gipfel des Ruhms – und wieder hinunter

Später wird sie in mittelmäßigen Filmen mit bezeichnenden Titeln wie Yoshiwara, die Liebesstadt der Japaner, Die vom Zirkus oder Ja, wenn der Strauß an Walzer spielt! mitspielen und eigene Tanzchoreografien entwickeln. Als syrische Göttin Astarte zeigt sie Ausdruckstänze und performt zur Musik von Debussy und Co. Besonders die fast hüllenlose Darstellung ist neu und befeuert die Aufmerksamkeit für ihr Schaffen auf den Bühnen Berlins.

Die Freundschaft zum flamboyanten Tänzer und Dichter Willi Knoblich alias Sebastian Droste führt sie dann zu ganz neuen Lebensstationen. Nicht nur, dass der junge Mann aus gutem Hause zum neuen Tanzpartner von Anita wird. Engagements führen sie nach Wien, auf den Höhepunkt ihrer künstlerischen Karriere. Sebastian bringt sie aber auch mit dem „Koko“ und Morphium in Kontakt, woraufhin sich eine fatale dolie a deux zwischen den beiden entwickelt, die sie vom Gipfel des Ruhms wieder hinabführen wird, wenn die Säle wieder kleiner und die Engagements spärlicher werden.

„Wir werden das Leben tanzen, so, wie wir es empfinden. Selbstverständlich auch mit seinen Schattenseiten; wir werden das Verderben tanzen und den Tod.“

Heller musterte sie ohne jegliche Gemütsregung.

„Und die Krankheit“, fügte sie rasch hinzu. „Die werden wir auch tanzen.“

Er nickte kaum spürbar.

„Wir werden auch die Überwindung der Krankheit tanzen“, setzte sie nach. „Wir werden das Übersinnliche tanzen und die Spiritualität , aber auch das Versinken im Rausch. Wir werden den ganzen Irrsinn dieser aus den Fugen geratenen Welt tanzen.“

Dabei riss sie ihre stark geschminkten Augen auf, und Heller zuckte zusammen.

„Wir werden tanzen, wie in Wien noch nie getanzt wurde“, flüsterte sie.

Steffen Schroeder – Der ewige Tanz, S. 154

Anita Berbers Leben im Rausch

Ein Hochstaplerleben im Rausch, Wohnen in den besten Hotels der Stadt, der verglühende Ruhm, Liebe im Rausch, Eifersucht und vielfacher Schmerz, oder kurzum: ein Duo infernale, das sich gegenseitig in den Abgrund zieht: all das zeigt Steffen Schroeder in seinem Werk und stellt nach seinem Roman über die Physiker um Max Planck zur Zeit des Nationalsozialismus einmal mehr seine Fähigkeit zur Einfühlung in seine Figuren unter Beweis. Welche Umstände Anita Berbers Charakter formten, wie steil der Weg auf den Gipfel des Ruhms hinauf – und noch steiler fast den Weg hinab war, es lässt sich aus Der ewige Tanz erfahren und fast fühlen.

Anita Berbers Suche nach Anerkennung, die Hingezogenheit zu Männern und Frauen in der Offenheit Berlins oder dem starren Wiener Gesellschaftsleben, das alles zeichnet Schroeder nachvollziehbar und sehr plastisch nach.

Nicht zuletzt zeigt er auch den Tanz als Mittel der Befreiung und der Verarbeitung von Schmerz und erfahrenem Leid, womit der Roman zu einem vielschichtigen Porträt einer ebenso vielschichtigen Frau wird, die eben so viel mehr als nur die „Nackttänzerin“ war, wie sie der Boulevard taufte.

Wenn sie tanzte, schien ihr alles möglich. Dann schien die Musik Besitz von ihr zu ergreifen, und ihr Körper begann, sich von ganz alleine zu bewegen. Dann war sie nur dem Klang hingegeben und dem, was der Klang mit ihr machte. Dann schwanden die Grenzen zwischen ihrem Innenleben und der Außenwelt, sie wurden eins.

Steffen Schroeder – Der ewige Tanz, S. 130

Fazit

Voll mit Figuren der Kulturgeschichte wie Lovis Corinth, Otto Dix und Fritz Lang ist Der ewige Tanz das einfühlsame Porträt einer komplexen Künstlerpersönlichkeit. Steffen Schroeder lässt die Atmosphäre Berlins und Wiens in der Zwischenkriegszeit seinem Roman wieder aufleben und zeigt, dass Anita Berber viel mehr war als eine skandalumwitterte Künstlerin.

Ein toll komponierter, sprachlich überzeugender und in puncto Figurenzeichnung sowie überzeugender Roman ist es, der hier Steffen Schroeder einmal mehr gelungen ist!


  • Steffen Schroeder – Der letzte Tanz
  • ISBN 978-3-7371-0204-9 (Rowohlt)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
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Ralf Westhoff – Niemals nichts

Von der Hand in den Mund – dieser Ausdruck trifft die Lebensumstände des Bauernpaars Maximilian und Liza in Ralf Westhoffs Debütroman Niemals nichts sehr gut. Er zeigt das Paar im Kampf um Selbstbestimmung und gegen die drückende Schuldenlast.


Arbeiten, arbeiten, arbeiten. Zahlen, zahlen, zahlen. Das Mantra, das die Mutter in Wolf Haas‘ vorletztem Roman Eigentum als Dauermantra ihr ganzes Leben vor sich hertrug und ihr ein Gefühl der Unerreichbarkeit von materieller Sicherheit gab, es könnten auch die Worte sein, die über dem Leben von Liza und Maximilian in Ralf Westhoffs Roman stehen. Denn ebenso wie Wolf Haas zeigt er auch seine Figuren im Ringen um Sicherheit und gegen die Schulden, die von der steten Geldnot geprägt sind, in der Westhoffs Figuren unverschuldet geraten sind.

Angesiedelt in einer nicht näher bestimmten Gegend und Epoche vergangener Tage atmetet der Roman fast einen Geist von Neo-Naturalismus und zeigt die junge Bäuerin Liza, die sich mit dem Bauer Maximilien vom benachbarten Hof zusammentut, um sich ein gemeinsames Leben aufzubauen. Für Optimismus bleibt aber wenig Platz. Nicht nur, dass die Getreidepreise, die die reisenden Kornhändler zu zahlen bereit sind, viel zu niedrig sind und der Ertrag der Weizenernte stets einem Glücksspiel gleicht.

Die unsichtbare Gefahr der Schulden

Ralf Westhoff - Niemals nichts (Cover)

Auch müssen sie erkennen, dass eine unsichtbare Gefahr die wohl dringlichste und existenzgefährdendste ist. Die Rede ist von Schulden, die Maximilians Vater Andres ohne Kenntnis seiner Familie aufgenommen hat, um damit eine Schiffspassage in die Neue Welt zu finanzieren. Diese Schulden sind es nun, die die Existenz des Hofs und damit auch die des jungen Paars bedrohen.

Sie saßen jetzt in der kleinen Stube, und als niemand hinsah, hielt sie Maximilians zitternde Hand unter dem Tisch ganz fest, damit er sich nach der ganzen Aufregung ein wenig beruhigen konnte. Als es dann um Zahlen und um Summen ging, musste sie ihre Hand wieder zu sich nehmen, weil sie ebenfalls angefangen hatte zu zittern. (…)

Solche Summen warf kein Hof in dieser Gegend ab, der Maximilianshof schon dreimal nicht. Da gab es nur das Korn im späten Sommer, ansonsten Hühner, die Kuh, zwei Schweine, kein Pferd. Was sollte man da sagen.

Ralf Westhoff – Niemals nichts, S. 14

Es ist ein Kampf, der ausweglos scheint – und den das junge Bauernpaar doch aufnimmt. Während sich Maximilians Vater Andres, angetrieben von einer Melodie im Inneren, immer weiter von dem Leben zuhause entfernt, das doch nie seines war, versuchen Liza und Maximilian im Hauptstrang der Erzählung zu retten, was zu retten ist.

Im Kampf gegen die bestehende Ordnung

Gespräche mit der Bank und ein Blick auf die hoffnungslose Lage münden in erste Versuche, die unsichtbaren Spielregeln der Ökonomie zu durchdringen, die Maximilian und Liza in Bedrängnis gebracht haben.

Sie waren unterwegs ins Dorf, um den höchsten Betrag bei der Bank einzuzahlen, den sie je in Händen gehalten hatten. Wieder hatten sie alle vier Brote, die Maximilians Mutter gebacken hatte, in der Stadt verkauft. Stolz und Freude wie frischer Schnee zur falschen Jahreszeit. Noch immer zahlten sie weit weniger ein, als die Bank von ihnen haben wollte. Stumm und bedrohlich drehten sich die Zeiger der Schuldenuhr, und Tag für Tag wurde neue Schuld auf sie geladen. Einfach nur, weil die Zeit verging. Eine Schuld, die ohne ihr Zutun entstanden war und ohne dass sie dafür etwas bekommen hatten. Man konnte verzweifeln.

Ralf Westhoff – Niemals nichts, 119

In der benachbarten Stadt zeigt sich diese Ordnung besonders deutlich. Die in Armut lebenden Bauern, die jenen Weizen ernten, der dann von den Kornhändlern aufgekauft und im Kontor weiterverkauft wird, ehe daraus das Brot gebacken wird, das sich dann die höheren Stände kaufen. So war es immer in dieser Welt, in der die Gesellschaftsschichten so fest und hart scheinen wie die Kruste eines lange gebackenen Brotes.

Bislang ahnten Liza und Maximilian auf ihren abgelegenen Höfen von dieser Welt wenig. Und doch tun sie in ihr nun intuitiv erste eigene Schritte, um sich von der drückenden Schuldenlast zu befreien. Damit bringen sie die bislang so fest zementiert scheinende Ordnung ins Wanken, alleine dadurch, dass sie eigene Wege gehen und sich auch von den zahlreichen Widerständen nicht behindern lassen.

Eine Absage an die Resignation

Niemals nichts feiert die Absage an Resignation und die Absage an die Akzeptanz bestehender Ordnungen. Alles lässt sich ändern. Denn obschon für die Maximilians und Lizas Familien in Haas’scher Manier Arbeiten, Arbeiten, Arbeiten und Zahlen, Zahlen, Zahlen die dominierenden Mantras erscheinen, ist es vor allem die unbeirrbare Liza, die sich und den anderen das Motto Kämpfen, Kämpfen, Kämpfen auf die Fahnen schreibt. Denn eins darf nicht sein: Niemals nichts.

Und so zeigt Westhoff die Fortschritte und Rückschläge des Bauernpaars und beweist, dass sich alles ändern lässt, egal ob die eigene Sprachfähigkeit oder der Kampf gegen die undurchsichtigen Regeln eines Finanzsystems. Damit weist sein Roman auch mitten hinein in unsere gesellschaftliche Gegenwart.

Denn in Zeiten, in denen scheinbar mühelos Schuldenpakete mit schwindelerregenden Summen geschnürt werden, ohne die Frage der Tilgung und die Belastung für künftige Generationen näher in den Blick zu nehmen, in der die Steuerschuld überwiegend bei kleinen und mittleren Einkommen liegt und sich die Zahl von Millionären und Milliardären zunehmend vom Rest der Gesellschaft entkoppelt, liest sich Ralf Westhoffs Roman wohltuend systemkritisch, obschon die erzählte Zeit fern der unseren zu liegen scheint.

Ähnlich wie Stefan aus dem Siepens Roman Das Seil lässt sich Westhoffs Roman allegorisch lesen, bietet Anknüpfungspunkte zur Gegenwart, lässt bewusst manche Leerstellen und stellt auch die bedenkenswerte Frage, ob es unserer Gesellschaft nicht auch zuträglich wäre, wenn sie solch innovativen, klugen und unverzagten Frauen wie Liza mehr Raum und Entscheidungsmacht an zentralen Lenkstellen geben würde, anstelle egozentrierten Männern weiter Machtpositionen zuzubilligen.

Fazit

Der Kampf gegen die bestehende Ordnung mag dem gegen Windmühlen gleichen. Drückende Schulden und scheinbar Unverrückbares sind aber nichts, das man als gegeben hinnehmen muss. Das zeigt Niemals nichts deutlich. Ralf Westhoff gelingt mit seinem Buch ein kämpferischer Appell und eine Feier der Widerstandsfähigkeit, der obschon seines historischen Settings mitten hinein in unsere Gegenwart zielt und dem viele Leser*innen zu wünschen sind.


  • Ralf Westhoff – Niemals nichts
  • ISBN 978-3-7371-0213-1 (Rowohlt Berlin)
  • 224 Seiten. Prei: 23,00 €
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Christine Wunnicke – Wachs

In ihrem neuen Roman Wachs begibt sich Christine Wunnicke in die Zeit kurz nach der französischen Revolution, als Köpfe rollten, aber auch mit neuem Wissen gefüllt wurden. Wieder einmal gelingt der Autorin ein eigenwilliger historischer Roman, der von zwei außergewöhnlichem Frauen und ihrem Forschungsdrang erzählt.


Zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält, es war im Jahr 1808 nicht nur der Drang von Goethes Faust, der nach mehr Wissen strebte. Generell kennzeichnet die Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert ein neu erwachender Wissensdurst, der unter anderem auch in der berühmten Encyclopedie von Denis Diderot als Urform des Lexikons einen Ausdruck fand. Das in Zusammenarbeit mit Jean Baptiste le Rond D’Alembert 1780 vollendete Werk sollte, beeinflusst von der im 18. Jahrhundert einsetzenden Aufklärung, das gesamte verfügbare Weltwissen zusammenführen und verfügbar machen.

Insgesamt 142 Enzyklopädisten wirkten an diesem 35 Bände umfassenden Mammutwerk mit – und auch Christine Wunnickes Protagonistin Marie Biheron hätte sich als Autorin der Enzyklopädie gut gemacht, hätte man die Weitsicht besessen, die Erkenntnisse von Frauen allerhöchstens anonym in diesem Werk zu zitieren. Bekannt war sie schließlich mit dem höchst unsteten und wissensdurstigen Denis Diderot, den sie immer wieder mit Gedanken fütterte, wie es Christine Wunnicke in ihrem Roman beschreibt.

Weiblicher Forscherdrang und männliche Vorherrschaft

„Corticalis, medullaris, falciformis, pinealis, corticis“, zählte Monsieur Diderot ordentlich her. Man schrieb das Jahr 1754. Er hatte die Haken und Bänder am Kopf der großen Puppe geöffnet und ihren Schädel aufgeklappt. Das wollte er immer selbst tun, am Anfang jeder Lektion. „Arachnoidea!“ Er steckte den Finger zwischen Dura und Pia und versuchte herauszuzupfen, was sich dazwischen befand.

„Hier ist ausnahmsweise alles verklebt.“ Marie lächelte. „Und was Sie mir hersagen, befindet sich alles ganz richtig darin, doch ist es, wenn es so plätschert, nichts als ein Wortbrei und führt zu keinem System. Wie zeigen wir die Archnoidea an der Leiche?“

„Wir blasen drauf, und sie bläht sich! Warum ist Ihr Wachs so hart? Wie härten Sie es? Was ist darin? Wie färben Sie es? Ich muss das wissen!“

„Das müssen Sie nicht. Nehmen Sie das Kleinhirn heraus und erklären die Schenkel.“

Christine Wunnicke – Wachs, S. 128

Dass sich weiblicher Forschungsdrang mit den damaligen Zeitumständen schwer vertrug, aber essenziell für die Forschung und das wissenschaftliche Vorankommen war, davon erzählt Christine Wunnicke in Wachs. Damit steht sie selbst in der aufklärerischen Tradition jener Zeit, holt ihr Roman doch mit Marie Biheron eine heute fast unbekannte Figur der Geschichte zurück ans Tageslicht und erzählt von ihrem erkenntnisreichen Wissensdrang. Vor dem Hintergrund der französischen Revolution war sie es, die auch das Verständnis von Anatomie revolutionierte.

Eine Revolutionärin der Anatomie

Christine Wunnicke - Wachs (Cover)

Der Forschungsdrang von Marie Biheron nahm schon in der Kindheit seinen Anfang, wie Wunnicke zeigt. Auf den ersten Seiten des Romans huscht da ein kleines Mädchen unerschrocken durch das nachtdunkle Paris und fordert in einer Kaserne vor Offizieren eine Leiche, die sie gerne kaufen möchte. Am besten gleich mehrere im Subskriptionsmodell den ganzen Herbst und Winter hindurch, der Forschung in Sachen Anatomie wegen, so die Tochter des Apothekers Biheron.

Hier zeigen sich schon jener Drang nach Wissen und weiblicher Selbstbestimmung, die das Leben von Marie Biheron im Folgenden prägen werden. Denn die unangepasste Frau wird später nicht nur mit der älteren Planzenmalerin Madeleine Basseporte eine Beziehung führen (auch sie eine dieser Figuren, die Wunnicke dem Vergessen entreißt), mit der älteren Frau zusammenleben und sogar einen Affen pflegen: vor allem wird sie mit ihren Wachsabdrücken von Organen des menschlichen Körpers die Kunde von der Anatomie revolutionieren und das Wissen darüber weiter voranbringen, während die Jakobiner nach der Revolution die Guillotine vor Notre Dame in Akkordarbeit bemühen und damit für jenen Leichen sorgen, deren Innenleben Marie so interessiert.

Das Ziel der jungen Frau ist klar, wie sie ihrer Partnerin Madeleine Basseport selbstbewusst offenbart. Sie will der beste Anatom von Paris werden. Gendern nicht nötig, da Frauen – siehe Enzyklopädistin – ja sowieso vom wissenschaftlichen Forschen und Diskurs ausgeschlossen waren. Da kann man dann gleich Anatom werden anstelle einer Anatomin.

Die unerschrockene Marie Biheron

Sowieso lässt sich Marie von den Standesregeln des 18. Jahrhunderts nicht schrecken. Beharrlich blickt sie ins Innerste, das den Menschen zusammenhält. Immer weiter perfektioniert sie die Kunst der Wachsabdrücke, forscht an Leichen und vervollkommnet ihre Fertigkeiten, bis hin zur Illusion, mit ihrer Kunst ganz neue Menschen zu schaffen oder Krankheiten bei der Anfertigung der Wachsabdrücke zu beseitigen. Kurzzeitig muss sie nach England ausweichen, da sie in Frankreich als Frau keine Anatomie lehren darf, ein Salär als Forscherin gibt es sowieso nicht. So muss sie sich mit dem Verkauf ihrer Modelle über Wasser halten und findet im dänischen König und der russischen Kaiserin prominente Abnehmer ihrer Kunst.

„Meine Frau macht neuerdings Menschen“, wird Maries Frau Madeleine Basseport an den Naturforscher Linné schreiben – womit sich Marie als eine Seelenverwandte einer anderen Mary erweist, nämlich Mary Shelley. Die ersann ebenfalls an jener Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert die Erzählung vom revolutionären Leichenformer und modernen Prometheus Viktor Frankenstein, der neues Leben schuf.

Wachs erzählt von weiblichem Forscherdrang gegen alle Widerstände, ohne dem der Wissenschaft entscheidende Pulse gefehlt hätten. Neben dem Erinnern an die unerschrockene Marie Biheron ist Wachs das große Panorama jenes unbändigen Forscherdrang, der die Welt zu jener Zeit erfasst hatte. Madeleine und Marie korrespondieren mit Forschern wie Buffon oder Linné, Diderot sucht nach Erkenntnis, ganz Paris ist gleichermaßen von Blutdurst und Wissensdurst erfüllt.

So abgehackt wie die Köpfe auf den öffentlichen Plätzen ist dabei auch so manches Mal das Erzählen von Christine Wunnicke. Sie arbeitet mit Sprüngen im Erzählen, rückt Figuren aus dem Umfeld Maries in den Blick und schildert ihre kurze, aber thematisch vielfältige Erzählung in eine sprachmächtige, historisierende Sprache, die bei der Lektüre Genuss bereitet.

Fazit

Christine Wunnicke ist ein Solitär im deutschen Buchbetrieb, die sich kurzfristigen Moden und Erzähltrends verweigert und stattdessen ihre ganz eigene Nische in Sachen historischem Erzählen gefunden hat. Mit Wachs baut sie nach ihrem letzten Werk Die Dame mit der bemalten Hand diese Nische weiter aus. Sie sensibilisiert für die entscheidenden Impulse, die die Aufklärung und Wissenschaft auch durch Frauen erhielt, und zeigt gleichwohl die Widerstände gegen dieses Forschern und welches Opfer die Frauen für ihre Forschungen bringen mussten. Mit Marie Biheron stellt Wunnicke eine faszinierende Frau ins literarische Scheinwerferlicht ihrer Erzählung, die alles andere als wachsweich ist.


  • Christine Wunnicke – Wachs
  • ISBN 978-3-911327-03-9 (Berenberg)
  • 187 Seiten. Preis: 24,00 €
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