Category Archives: Historischer Roman

Christine Wunnicke – Die Dame mit der bemalten Hand

Um den deutschsprachigen historischen Roman ist es nicht gut bestellt. Er gleicht oftmals lieblos produzierter Dutzendware, gerne auch in Form von Trilogien oder mehr, und liest sich, als hätten die Autor*innen eine Geschichte aus der heutigen Zeit einfach ein paar Jahrhunderte nach hinten datiert. Autos werden durch Kutschen oder Pferde ersetzt, die weiblichen Heldinnen sind durchweg tough und emanzipiert und man redet wie im 21. Jahrhundert miteinander. Belanglosigkeit allenorten.

Christine Wunnicke - Die Dame mit der bemalten Hand (Cover)

Doch da gibt es dann zum Glück auch noch Christine Wunnicke. Die Münchner Autorin hat sich im Lauf der Jahre ihre eigene Nische erschrieben. Geschichten voller Exotik, skurrilem Humor und fantasievollen Handlungsbögen, die alle anderen historischen Romane noch blasser wirken lassen, als sie es eh schon sind. Zweimal gelang ihr eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis (Der Fuchs und Dr. Shimamura im Jahr 2015, Katie 2017). Nun erscheint dieser Tage ihr neues Werk Die Dame mit der bemalten Hand. Und siehe da: auch dieses dritte Buch schaffte den Sprung auf die Longlist des Preises.

Und das zurecht, denn auch dieser Roman ist wieder ein origineller historischer Roman, der diesmal auf eine Insel in Indien entführt.

Drei Männer auf einer Insel

Dort, auf der Insel Elephanta beziehungsweise Gharapuri treffen 1764 zwei ganz unterschiedliche Männer aufeinander. Da ist zum Einen der aus Bremen stammende Carsten Niebuhr, den ein Forschungsauftrag seiner Göttinger Universität hierhergeführt hat. Eigentlich sollte ihn die Reise mit einer Gruppe anderer Forscher nach Arabien führen. Aber es kam alles etwas anders.

Jahrs darauf verließ Carsten Niebuhr Göttingen, um sich mit dem Philologus von Haven, dem Physikus Forsskål, einem Zeichner, einem Arzt und einem schwedischen Diener von Kopenhagen nach Konstantinopel einzuschiffen. Ein vielhundertseitiges Schriftstück, das die Instruktionen und alle Fragen enthielt, welche Professor Michaelis an die Bibel und ans Morgenland stellte, lag in seinm Gepäck. Viele Gelehrte, aus vielen Ländern Europas, hatten brieflich etwas dazu beigesteuert.

Wunnicke, Christine: Die Dame mit der bemalten Hand, S. 38

Auch der zweite Mann auf der Insel hatte eigentlich ein anderes Reiseziel, nämlich Mekka. Dorthin wollte sich der Astrolabienbauer Musa al-Lahuri samt seines Helfers Malik aus Jaipur ursprünglich begeben. Doch die Windstille hat auch dieses Gespann auf Gharapuri stranden lassen. Dort, auf dieser von wenigen Menschen und vielen Affen bewohnten Insel stößt al-Lahuri nun auf den vom Fieber gezeichneten Niebuhr. Ein Schiff zur Abfahrt von der Insel ist nicht in Sichtweite. Und so lernen sich die beiden Männer allmählich kennen. Man erzählt sich gegenseitig die Lebensgeschichten oder das was man dafür hält. Man redet miteinander und aneinander vorbei, beobachtet den Himmel und kommt ins Philosophieren. Orient trifft auf Okzident.

Präzise gesetzt und von Humor durchdrungen

Die Dame mit der bemalten Hand ist ein Buch, das trotz oder gerade wegen seiner Kürze von 166 Seiten eine genaue Lektüre erfordert. Wunnicke lässt ihre Figuren sich ein ums andere Mal in einem babylonischen Sprachgewirr zwischen Sanskrit, Deutsch und Arabisch verfangen. Die skurrilen Figuren agieren mal hinterlistig, mal tollpatschig, mal staunend, mal salbadernd. Durch Wunnickes ganz eigene Sprache, die pointierten Dialoge und den ihr eigenen Humor entfaltet sich in diesem Buch ein originell verknapptes Panorama zwischen Ost und West.

Der Eingang zum Tempel auf der Insel Elephanta (Stahlstich). Quelle: Wikipedia

Leser*innen, die historische Romane als breit auserzählte Auswanderer-Pilger-Königskinder-Sagas kennen, dürfte das freilich irritieren. Hier ist alles reduziert und mit Genauigkeit gesetzt. Die Figuren, obwohl oft historisch verbürgt, werden von Christine Wunnicke wild auf dem Schachbrett der Geschichte hin- und hergezogen und sind von eigensinnigem Leben erfüllt.

Wie angenehm ist es, dass solche Originalität auch ihren Platz auf dem Buchmarkt hat – wenngleich Christine Wunnicke immer noch den Status eines Geheimtipps besitzt und auch der Berenberg-Verlag, in dem die Autorin erscheint, mit seinen wunderbar gestalteten Büchern eine eher kleinere Rolle auf dem Buchmarkt spielt. Umso schöner, wenn solch literarischer und verlegerischer Mut belohnt wird, wie in diesem Falle mit einer abermaligen Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises. Für die Shortlist ist dieses Buch wahrscheinlich zu eigen und wenig massenkompatibel, da es sich den gängigen Schemata widersetzt und für viele zu reduziert und karg sein könnte. Ich freue mich aber wirklich für Christine Wunnicke und die Aufmerksamkeit, die diesem Buch hoffentlich zuteil wird! Die Dame mit der bemalten Hand verdient es.

Marie Schmidt traf die Autorin für die SZ, Hauke Harder verfasste für den Leseschatz ebenfalls eine Rezension. Und auch bei Sätze&Schätze findet sich seit neuestem eine Rezension zum neuen Buch von Christine Wunnicke.


  • Christine Wunnicke – Die Dame mit der bemalten Hand
  • ISBN 978-3-946334-76-7 (Berenberg-Verlag)
  • 168 Seiten. Preis: 22,00 €

Michael Crummey – Die Unschuldigen

Die Einöde Neufundlands, irgendwann um 1800 herum. Mitten in der menschenfeindlichen Umgebung aus zerklüfteter Küste, Eis und Einsamkeit – ein minderjähriges Geschwisterpaar. Von ihrem Kampf ums Überleben und ihrem Zusammenleben erzählt der Kanadier Michael Crummey in seinem Debüt Die Unschuldigen.


Werden Kinder heute in jungem Alter zu Waisen, ist da ein umfangreiches Netz aus Verwandten und staatlichen Stellen, das sich ihrer annimmt und um ihr Wohl kümmert. Doch zweihundert Jahre zuvor war es um solche Kinder deutlich schlechter bestellt. Nicht nur Charles Dickens beleuchtet die soziale Realität in seinen Büchern das Schicksal von Waisenkindern eindrücklich. Was ist aber, wenn man noch einmal einen Schritt weitergeht und das soziale Netz der Zivilisation, wie durchlässig es auch immer sein mag, weglässt? Davon erzählt Michael Crummey, der seine Geschichte um zwei Geschwister in der absoluten Einöde Neufundlands ansiedelt.

Michael Crummey - Die Unschuldigen

Dort, an der Küste leben Evered und seine Schwester Ada. Die Eltern verdienen ihr kärgliches Brot mit dem Fang und Pökeln von Fisch, den sie an die jährlich vorbeisegelnde Crew eines Schiffes verkaufen, Im Gegenzug dazu erhalten sie Ressourcen für ihr Überleben draußen in der menschenfeindlichen Umgebung. Von allem ist stets zu wenig da, der Wind pfeift erbarmungslos über die Hütte, im Winter ist vor lauter Schnee und Eis nicht an Arbeiten zu denken. Irgendwie schlägt sich die Familie allerdings durch – bis kurz hintereinander die kleine Schwester, Mutter und Vater sterben. Evered und Ada bleiben als Waisen zurück. In die nächstgelegene Stadt wollen die beiden nicht. Sie versuchen, die Arbeit ihrer Eltern fortzuführen und dem Schicksal zu trotzen. Dabei ist Evered erst elf Jahre alt, seine Schwester sogar noch zwei Jahre jünger.

Eine wuchtige Geschichte

Gemeinsam nehmen sie die Arbeit in den Schären auf, versuchen sich das Handwerk des Fischfangs und elementare handwerkliche Fähigkeiten selbst beizubringen. Ihre größten Gegner sind Hunger, die unwirtliche Landschaft vor ihrer Hüttentür und die Einsamkeit.

Dieses Leben oder eher Überleben fängt Michael Crummey mit wuchtigen Bildern und einer Sprache ein, die die Härte des Lebens illustriert. So bezeichnet Evered seine Schwester schon einmal als „Pisstrine“ (Übersetzung aus dem kanadischen Englisch durch Ute Leibmann). Manche Szenen erfordern einen robusten Magen, etwa wenn die beiden ein verunglücktes Schiff durchsuchen und an Bord auf einige unappetitliche Szenen stoßen.

Auch zeigt der Kanadier die limitierte Erlebnis- und Vorstellungswelt der beiden. So erleidet ein Schoner in den Schären vor ihrem Zuhause Schiffbruch. In der Folge werden Dinge wie ein Fernglas oder ein runder, wohlschmeckender Laib angespült. Den Geschwistern fehlt ein Wort für diese Köstlichkeit, bis sie später von Gästen in ihrer Hütte über den Namen der Leckerei aufgeklärt werden: Käse.

Wie es sich angefühlt haben muss, dieses Überleben in der Einsamkeit Neufundlands, in Die Unschuldigen lässt es sich eindrucksvoll erleben. Das Buch ist wuchtig und beobachtet nicht zuletzt auch die Frage von Einsamkeit, Erwachsenwerden und Begehren sehr direkt. Ohne zu viel verraten zu wollen: die im Buch beschriebene Welt ist mit unserer heutigen moralischen Welt und unseren gesellschaftlichen Regeln nicht wirklich deckungsgleich. Aber das ist es ja auch, was Literatur sollte. Uns andere Welten mit anderen Regeln präsentieren – und die Wertung derselben dem mündigen Leser überlassen. Beziehungsweise der mündigen Leserin. Und das gelingt Michael Crummey in seinem Buch ausnehmend gut.

Fazit

Crummeys Buch avancierte in Kanada zum Bestseller, erhielt einige Preise – und das zurecht. Die Unschuldigen ist ein besonderes Buch, das plastisch und präzise das Schicksal der Waisenkinder in einer unwirtlichen und erbarmungslosen Umgebung schildert. Vergleiche etwa mit Ian McGuires Nordwasser sind nicht falsch. Eine raue, archaische Welt nahe des ewigen Eises, der Kampf ums Überleben, der hohe Opfer erfordert und Taten, die gegen unseren ethischen Kodex verstoßen. Das alles findet man in Michael Crummeys Buch. Lektüre mit Wucht.

  • Michael Crummey – Die Unschuldigen
  • Aus dem kanadischen Englisch von Ute Leibmann
  • ISBN: 978-3-8479-0052-8 (Eichborn-Verlag)
  • 351 Seiten. Preis: 22,00 €

Zora del Buono – Die Marschallin

Zora del Buono schreibt über Zora del Buono. Wer nun allerdings ein weiteres Werk des boomenden Genres Autofiktion erwartet, sieht sich schnell getäuscht. Vielmehr nähert sich die Autorin in Die Marschallin ihrer eigenen Großmutter literarisch an. Ein Buch, dessen starke zweite Hälfte die Mängel der ersten wettmacht.


Wenn es um die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts geht, steht uns die Bundesrepublik lebhaft vor Augen. Dass auch andere Regionen mit einer mindestens ebenso wechselhafte Geschichte aufwarten können, das verlieren wir leicht aus dem Blick. Besonders der ehemalige Ostblock mit seinen sich verändernden Ländergrenzen und ethnischen Spannungen ist ein spannendes Beispiel, das wir hier in Zentraleuropa nicht immer auf dem Schirm haben. Wie sehr die Verwerfungen ganze Generationen geprägt haben, davon erzählt Zora del Buonos Roman Die Marschallin. Darin erzählt sie die wechselhafte Geschichte ihrer eigenen Großmutter. Zeit ihres Lebens besaß diese nacheinander fünf Pässe, die ihre verschiedenen Nationalitäten dokumentierten. Aufgewachsen in den 1910er Jahren in Bovec, einem kleinen Ort im heutigen Slowenien, lebte sie ein Leben, das auch Stoff für ein ganzes Dutzend Romane ergeben würde.

Eine Kindheit mit vier Brüdern in Slowenien, ein Umzug nach Italien, die Hochzeit mit dem Arzt Pietro del Buono. Ein eigens geplantes Haus, drei Söhne. Der Aufstieg Mussolinis, der Aufstieg Titos an die Macht. Die Entstehung von Jugoslawien, Partisanenkriege, tragische Unglücksfälle en masse. In Zora del Buonos Leben spiegelt sich die ganze wechselvolle Geschichte dieses so besonderen Jahrhunderts.

Das wechselvolle Leben der Marschallin

Zora del Buono - Die Marschallin

Zora del Buono erzählt davon weitestgehend chronologisch und beginnt im Mai 1919 mit der Geschichte ihrer Großmutter. Sie springt von dort aus durch die Jahre, verfolgt Zoras Lebensgeschichte ebenso wie die ihres Mannes und der Kinder.

Bis nach El Shatt auf der Sinaihalbinsel in Ägypten entführt die Geschichte. Dorthin flohen im Zweiten Weltkrieg viele Italiener vor Mussolini. 17 Kapitel sind es, in denen Zora del Buono die Lebensgeschichten ihrer Familie bis hinein in das Jahr 1948 erzählt. Hiernach bricht die Erzählung ab, um mit einem erzählerischen Perspektivwechsel hin zu Zora selbst 1980 zu enden. Im Pflegeheim räsoniert sie über ihrer Geschichte und die Schicksale ihrer Familienmitglieder. Viele erzählerische Fäden werden hier zuende geführt, die im ersten Teil des Buchs noch in der Luft hingen.

Tatsächlich rundet auch erst dieser Teil das ganze Buch, das zuvor viele Themen angerissen hat, aber kaum Raum für eine zufriedenstellende Ausarbeitung bot. So ist da zum einen ja schon die Rasanz, mit der Zora del Buono erzählt. Auf nicht einmal 300 Seiten werden die 29 Jahre Familien- und Zeitgeschichte in Hochgeschwindigkeit abgehandelt. Zum anderen weist dieses Buch eine unglaubliche Fülle an Schauplätzen, Themen und Personal auf. 50 Personen führt alleine schon das Dramatis personae auf. Dann sind da auch noch jede Menge Themen wie Kommunismus, Partisanenkriege, Homosexualität, die Frage, was eine Familie ausmacht, Medizin, Tito, das Leben Antonio Gramscis und dergleichen mehr. Zu viele Themen für 300 Seiten, die so auch leider nur oberflächlich behandelt werden.

Der zweite Teil heilt den ersten

Dieser erste Teil stellte mich aufgrund dieser Hast und Überladenheit überhaupt nicht zufrieden. Zwar verfügt dieser über wirklich interessante Anlagen, allerdings ist er alles andere als rund. Umso besser, dass der zweite Teil die Mängel des ersten heilt. So ist Zora del Buono hier als hochbetagte Dame eine Ich-Erzählerin, die ich zuvor dem Buch schon gewünscht hätte. Wie sie davon erzählt, welche Schicksalsschläge sie und ihre Familie erlitten, unterbrochen immer wieder von kurzen Miniaturen über die Tode von Familienmitgliedern, dann rührt das doch an. Die Marschallin, die zuvor ihre Kinder die Isonzoschlachten nachspielen ließ oder Waffen schmuggelte, wird hier zur gesetzten und desillusionierten Generalin a.D., der die Zügel doch irgendwann aus der Hand glitten.

So ist Die Marschallin ein Buch, das etwas mehr Fleisch auf den erzählerischen Rippen benötigt hätte. Zwar versöhnt das Ende, aber bis dahin braucht es einen Durchhaltewillen. Ein Familienroman mit einem spannenden Setting, in dem allerdings mehr drin gewesen wäre.


  • Zora del Buono – Die Marschallin
  • ISBN 978-3-406-75482-1 (C.H. Beck)
  • 382 Seiten, 24,00 €

Auf Schmugglerpfaden

Matteo Righetto – Die Seele des Monte Pavione

Italien und der Anbau von Tabak. Zwei Dinge, die man nicht automatisch in Verbindung miteinander setzt. Ich assoziiere Tabak stets mit Südamerika und erfuhr erst durch Matteo Righettos Buch von der Geschichte des Tabakanbaus in Italien. Und tatsächlich ist es so, dass auch heute noch in verschiedenen europäischen Ländern, darunter auch Deutschland, Tabak angebaut wird. Der Anbau wird sogar von der EU subventioniert, allerdings gilt die Aufzucht der Tabakpflanze als kaum rentabel.

Matteo Righetto - Die Seele des Monte Pavione (Cover)

Wie aufwändig das Geschäft mit dem Tabak ist, das erfährt man auch in Die Seele des Monte Pavione. In diesem Roman schildert Righetto das Leben einer Familie von Tabakpflanzern, die im Norden Italiens an der Grenze zu Südtirol leben. Man schreibt das Ende des 19. Jahrhunderts. Obwohl die Industrialisierung auch in dieser Region langsam Einzug hält, geht in Nevada alles noch einen anderen Takt. Augusto de Boer pflegt zusammen mit seiner Frau und den drei Kindern die Tabakpflanzungen, die nur einen kümmerlichen Profit abwerfen. Genau von Behörden kontrolliert obliegt dem Mann die Aufzucht und Trocknung der begehrten Blätter.

Doch das Auskommen aus dem Verkauf der Tabakblätter reicht hinten und vorne nicht. Und so bedient sich Augusto kreativer Möglichkeiten, um das Einkommen der Familie zu verbessern. Wie andere Bauern in der bergigen Grenzregion verdient er sich beim Schmuggel von heimlich abgezweigter Tabakgüter etwas dazu. Nur so kann er sicherstellen, dass seine Familie genug zu essen hat, wenn saisonal bedingt keine Aufzucht der Tabakpflanzen möglich ist. Doch dann passiert es: von einem seiner Schmuggelgänge nach Österreich kommt er nicht wieder. Und so obliegt es nun seiner ältesten Tochter Jole, die Schmuggeltätigkeit des Vater aufzunehmen.

Righettos Schilderungen der Natur

Von diesem Schmuggelgang erzählt Righetto in seinem Buch in einer romantischen, manchmal fast märchenhaft anmutenden Sprache. Ein ums andere Mal auch knapp an der Grenze zum Kitsch entlanggeschrammt.

Der Himmel füllte sich mit Sternen, leuchtend hell, schön und frei. So schön und erhaben dieser Augenblick war, fühlte Jole doch mit plötzlicher Bitterkeit ihre Einsamkeit und ließ ihren Tränen freien Lauf.

Und es kam ihr so vor, als weine das Firmament über ihr ebenfalls.

Righetto, Matteo: Die Seele des Monte Pavione, S. 184

Gewiss, man sollte eine gewisse Toleranz für Pathos, klopfende Spechte, wisperndes Gras und einfach gezeichnete Figuren mitbringen. Aber wer zu einem Buch mit dem Titel Die Seele des Monte Pavione greift, bringt diese Toleranz wahrscheinlich auch mit. Wie schon vor ein paar Jahren, als Paolo Cognetti mit Acht Berge ein Überraschungserfolg und veritabler Longseller gelang, rückt auch hier sein Landsmann Righetto die innere Reifung und die Naturerfahrung in unwirtlicher Umgebung in den Mittelpunkt. Durch die gefährliche Schmuggeltour, auf die sich Jole notgedrungen begibt, reift die junge Frau und lernt auch sich im Kampf der Bergwelt Südtirols kennen. Den Monte Pavione, der die Wegscheide auf dieser Tour darstellt, inszeniert Righetto mit geisterhaft brausenden Winden als eine Art italienischen Untersberg. Und auch sonst ist die unberührte Natur der zweite große Hauptdarsteller neben Jole.

Zwar hört man von drunten im Tal schon die Bauarbeiten der Eisenbahn heraufklingen. Aber von Jole und ihrem Pferd, die sich oben am Berg auf den Schmugglerpfaden bewegen, ist dies alles denkbar weit entfernt. Eine Szene mit Aussagekraft. Hier lässt jemand noch einmal die Naturidylle aufleben und taucht in die archaische Bergwelt Südtirols ein.

Dieses Buch trifft einen Nerv der Zeit – auch bei mir. Die entschleunigte Lektüre, die trotzdem nicht vergisst, die Handlung voranzutreiben und die bildreichen Naturbeschreibungen – sie gelingen Righetto sehr gut. Oder um es mit der Bergmetaphorik auszusprechen: Righetto ist ein erzählerischer Wanderer, der für seine Tour das richtige Tempo anschlägt und nur wenige Mal neben seinen Pfad in die Abgründe des Kitsches tritt.


  • Matteo Righetto – Die Seele des Monte Pavione
  • Aus dem Italienischen von Bruno Genzler
  • ISBN: 978-3-89667-616-0 (Blessing)
  • 240 Seiten, 20,00 €

Éric Vuillard – Der Krieg der Armen

Der Kabarettist Georg Schramm zitiert in seinen Programmen häufig einen der reichsten Menschen der Welt. So äußerte sich der Investor und Multimilliardär Warren Buffett im Jahr 2006 in einem Interview mit der New York Times auf folgende Art und Weise:

Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.

Warren Buffett im Interview mit Ben Stein. New York Times, 26.11.2006

Erstaunlich offene und martialische Worte, die einer der reichsten Investoren und Profiteur des Kapitalismus hier äußerte. Der Kampf zwischen Reich und Arm, er ist ein weltweites Problem. Schon jetzt besitzt circa 1 Prozent der Weltbevölkerung 44 Prozent des weltweiten Vermögens. 56 Prozent der Weltbevölkerung halten zusammen nicht einmal 1,8 Prozent des globalen Vermögens (Quelle hier). Die Satiresendung Die Anstalt brachte das Problem vor wenigen Jahren auf den eingängigen Slogan: Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer mehr.

Statt in die Zukunft blickt Éric Vuillard in seinem Roman Der Krieg der Armen allerdings zurück in die Vergangenheit und findet alle Themen, die uns auch heute umtreiben. Nach dem Bastille-Drama 14. Juli ist es wie auch schon im Bestseller Die Tagesordnung nun wieder die deutsche Geschichte, die es Vuillard angetan hat. Er erzählt in seinem schmalen Büchlein, das gerade einmal 64 locker gesetzte Seiten umfasst, die Geschichte der Bauernkriege und die ihres Anführers Thomas Müntzer.

Dieter Forte - Martin Lutzer & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung (Cover)

Jener Thomas Müntzer ist etwas in Vergessenheit geraten. Dieter Forte widmete dem Revolutionär 1970 das Drama Martin Luther & Thomas Müntzer oder Die Einführung der Buchhaltung. Einst ein großer Erfolg, heute jedoch kaum mehr gespielt (zuletzt etwa vor drei Jahren hier am Staatstheater Augsburg).

Doch anders als sein Widerpart Martin Luther konnte Müntzer mit seinem Wirken keine bedeutende Langzeitwirkung entfalten. Auf eine DDR-Banknote schaffte es sein Konterfei, eine Thomas Müntzer-Gesellschaft existiert. Aber hat uns sein Schaffen heute auch noch etwas zu sagen? Vuillard versucht sich in seinem Buch an einer Antwort.

Das Leben des Thomas Müntzer

Der Krieg der Armen ist ein Buch, das ein Leben auf das kleinstmögliche Format komprimiert. So beginnt alles im Leben des Thomas Müntzers mit dem Tod des Vaters.

Sein Vater war gehängt worden. Er war ins Leere gefallen wie ein Sack Körner. Man hatte ihn nachts auf den Schultern tragen müssen, er war schweigsam geblieben, den Mund voller Erde. Dann ging alles in Flammen auf. Die Eichen, die Weisen, die Flüsse, das Labkraut in den Hecken, die karge Erde, die Kirche, alles. Er war elf Jahre alt.

Vuillar, Éric: Der Krieg der Armen, S. 5

Mit der Hinrichtung des Vaters beginnt die Geschichte, mit der Hinrichtung Thomas Müntzers endet sie. Dazwischen wirft Vuillard einen Blick in die Epoche der Bauernkriege, die nicht nur in Deutschland grassierte, wie der Franzose zeigt. Ausgehend von Luthers Ermächtigung und dem Gedanken eines gütigen Gottes, dem anstelle des katholischen Klerus die Verehrung gelten sollte, griff die radikale Idee nach Freiheit um sich. Freiheit von verhassten Institutionen wie dem Klerus und dem Adel. Eine Freiheit von horrenden Abgaben und bedingungslosem Gehorsam. Und so erhoben sich in England die Bauern genauso wie in Deutschland. Sie brachten den lokalen Adel und sogar Könige in Bedrängis – und scheiterten schlussendlich.

Davon erzählt Éric Vuillard, wobei die Person Thomas Müntzer auch nur eine unter vielen ist. So interessiert ihn in diesem Roman die globale Geschichte der Aufstände deutlich mehr, als nur das Porträt eines radikalen Kämpfers zu liefern. Möchte man Der Krieg der Armen als Thomas Müntzer-Biografie lesen, würde man unweigerlich enttäuscht. Denn die komplexe Person des Thomas Müntzers durchdringt Vuillard kaum. Die widersprüchlichen Facetten dieses Reformators, Revolutionärs, Theologen und Drucker bildet das Buch nur unzureichend ab. Das Interesse Vuillards liegt auf einem anderen Aspekt der Zeit und des Wirken Münzers.

Ein Panorama der Bauernkriege

Der Franzose inszeniert sein Buch (das ohne Gattungsbezeichnung vom Verlag versehen wurde) als ein großes Panorama der Bauernkriege. Wat Tyler in England, Jan Hus in Böhmen, Müntzer in deutschen Landen. Vuillard montiert die Szenen und Geschichten atemlos aneinander. Er springt durch die Geschichte, bindet Ereignisse zusammen und erzählt von den Grausamkeiten dieser Kriege und den Hoffnungen, die zusammen mit ihren Kämpfern dann wieder begraben wurden.

Éric Vuillard - Der Krieg der Armen (Cover)

Vuillard bleibt seinem einzigartigen Stil im Guten wie im Schlechten erneut treu. Im Guten, da er interessante Querbezüge auftut, originell schreibt und Geschichte in Geschichten einfach gut vermitteln kann. Im Schlechten, da er seinen Wunsch nach stilistischer Originalität auch hier einmal mehr nicht wirklich einhegen kann. Zwar nicht so ausufernd wie im letzten Buch über den 14. Juli (das ich nach einigen Dutzend Seiten genervt zur Seite legte), aber auch hier wieder manchmal mit einer Spur zu viel. Da ist so manches Mal eine Formulierung drüber oder eine stilistische Pirouette zuviel.

Bei den gerade einmal 64 Seiten Laufzeit fällt das allerdings nicht wirklich ins Gewicht. Vielmehr ist es doch beachtlich, wie diese frankophone Schule der Espresso-Geschichtsliteratur boomt, sei es nun Jean Echenoz oder Éric Vuillard, die diese Literaturgattung pflegen. Solche Stimmen würde ich mir in der deutschen Literatur auch einmal wünschen.

Es ist ja auch für den Literaturstandort Deutschland beschämen, dass solche Aufarbeitungen unserer deutschen Geschichte aus dem Ausland kommen müssen, ehe sie breit gelesen und in den Feuilletons besprochen werden. Großes Lob an dieser Stelle wie immer auch an Nicola Denis, die diesen Roman ins Deutsche übertragen hat.


  • Éric Vuillard – Der Krieg der Armen
  • Aus dem Französischen von Nicola Denis
  • ISBN 978-3-95757-837-2 (Matthes & Seitz Berlin)
  • 64 Seiten, 16,00 €