Angela Steidele entführt in ihrem neuen Roman Aufklärung in ein Leipzig des 18. Jahrhunderts, das einem intellektuellen Bienenschlag gleicht. In allen Ecken der Stadt fliegen die Ideen hin und her. Es summt und brummt im wahrsten Sinne des Wortes. Denn Bach revolutioniert die Musik, das Ehepaar Gottsched reformiert die deutsche Sprache. Vertreter*innen der Philosophie, Naturwissenschaft und schöne Künste streiten und debattieren, vereint im Ziel, die Gesellschaft weiterzuentwickeln. Steidele beschreibt die neuen Ideen, Rivalitäten und die aufregenden Möglichkeiten, die ein freier Geist bereithalten kann. Ein glänzender Roman, der zeigt, was intellektuell in diesem Land einst vollbracht wurde und der völlig zurecht für den Preis der Leipziger Buchmesse 2023 nominiert ist.
Gottsched ließ den Blick über Luise und mich gleiten. „Das 18. Jahrhundert ist nicht nur das Jahrhundert des Lichts, sondern auch der Frauen!“
Ich spürte sein Knie an meinem und tat so, als würfe mich ein Stoß der stark ruckelnden Kutsche auf Luise. „Oh, entschuldigen Sie bitte.“
Angela Steidele – Aufklärung, S. 298
Schon allein diese kleine Szene arbeitet wunderbar die Themen, Figuren und Widersprüche heraus, die Angela Steidele in ihrem historischen Roman Aufklärung in den Mittelpunkt ihres Erzählens stellt. Denn bei ihr sind es nun die Frauen, die nach Jahrhunderten des männlichen Geniekults nun nach vorne auf die Bühne treten – oder vielleicht eher erst einmal aus der letzten Reihe heraus, wie Steidele zeigt.
Dorothea Bach und Luise Gottsched
Erzählt wird die Geschichte nämlich von Catharina Dorothea, genannt Doro Bach, der ältesten von insgesamt drei Kindern, die Johann Sebastian Bach zusammen mit seiner ersten Frau Maria Barbara Bach hatte. Diese erlaubt uns einen Blick in den Haushalt des Thomanerkantors, der nach dem Tod seiner Frau dann Anna Magdalena Bach heiratete, die für ihn dann ihre Karriere als Kammersängerin aufgab und sich der Erziehung der vielköpfigen Kinderschar kümmerte.
Die zweite zentrale Figur, die nicht nur in obiger Kutschszene als Orientierungspunkt für Doro Bach dient, ist Luise Gottsched. Sie stammt eigentlich aus dem Baltikum, kam aber durch die Ehe mit dem meritenumrankten Johann Christoph Gottsched, Professor für Weltweisheit, nach Leipzig, wo sie seitdem auf Männer und Frauen eine große Faszination ausübt, vor allem auf Dorothea.
Dorothea ist es auch, die die Briefe Luise Gottscheds nach ihrem Tod durchsehen und ordnen soll. Hat ihr Ehemann zwar eine Biographie verfasst, entspricht dieses Bild aber mitnichten dem, das Dorothea von Luise hatte. So liegt es nun an der Bach-Tochter, ihre Version der Ereignisse zu erzählen, woraus die Rahmenhandlung dieses Romans erwächst.
Männlicher Geniekult und Frauen in der zweiten Reihe
Egal wie weitumfassend die Kenntnisse von Luise Gottsched oder die musikalische Kompetenz von Doro Bach auch reichen mag – von Gleichberechtigung kann noch lange keine Rede sein, mag auch das Ehepaar Gottsched auf den ersten Blick fortschrittlich erscheinen. Aber übergriffige Männer und männliche Dominanz sind ein Thema, das weder heute noch damals in der Epoche der Aufklärung überwunden werden konnte. Wandernde Finger und Füße auf Kutschfahrten sind da noch das Harmloseste.
Steidele zeigt Mechaniken männlicher Geschichtsschreibung und verdrängter Frauen auf – und knüpft damit auch wieder an die Kanon-Debatten unserer Tage an, nicht nur, wenn Gottsched in der Biographie seiner Frau deren Leben stark überformt und verfremdet. Auch die Erzählerin Doro Bach erlebt dies beim Blick in die Familienchronik Ursprung der musicalisch-Bachischen Familie.
Dabei muss sie feststellen, dass sie zusammen mit Anna Magdalena zwar die Familie versorgt und zusammenhält. In der schriftlichen Aufzeichnung schlägt sich das allerdings keineswegs nieder. Denn in Bachs Chronik ist kein Platz für Frauen.
Eine durchnummerierte Liste mit Namen, Geburt, Verwandtschaftsverhältnissen und Wirkungsstätten als Musiker, selten mehr. Schreibt sich so Geschichte ohne eigenes Zutun? Ist das besser als Gottscheds Biographie über Luise? Er selbst teilte sich die Nummer 25 zu, Friedemann die 45.
„Und welche Nummer habe ich?“
„Ach Caro, gar keine natürlich.“
„Wie, gar keine?“
„Ehefrauen und Töchter zählt unser Vater nicht auf.“
Caroline griff nach den Blättern. „Was – uns gibts gar nicht?“ Fassungslos überflog sie die Chronik. „Nur Männer, die Söhne zeugten! Wie sind die denn auf die Welt gekommen?“
Susanna ließ die Nadel sinken. Sie fand Carolines Bemerkung überflüssig, ja blöd. Es verstehe sich schließlich von selbst, dass all die Väter auch Ehefrauen und Töchter gehabt hätten. Aber die hätten halt keine Werke hinterlassen und deshalb müsse man sie auch nicht erwähnen. Ich wollte nicht zanken und behielt meine Gedanken für mich.
Angela Steidele – Aufklärung, S. 140 f.
Ein historischer Roman mit feministischer Perspektive
Angela Steidele hat mit Aufklärung einen historischen Roman mit feministischer Perspektive geschrieben, der das Licht auch einmal auf jene lenkt, die heute schon wieder vergessen sind, ohne die die Epoche und ihre geisteswissenschaftlichen Entwicklungen so nicht hätten stattfinden können.
Luise Gottsched lauscht heimlich den Vorlesungen ihres Mannes und ist ihm spätestens dann unverzichtbar, wenn es mit einer Übersetzung dem frankophilen preußischen Herrscher Friedrich II. zu beweisen gilt, dass es das Deutsche in Sachen lyrischer Qualität durchaus dem Französischen aufnehmen kann. Zudem ist sie es, die in Steideles Interpretation der Geschichte Bach das Libretto für sein Weihnachtsoratorium liefert, dessen erste Zeilen „Jauchzet, Frohlocket“ wohl auch heute noch jedem und jeder geläufig sein dürften (obgleich die wahre Identität des oder der Verfasser*in jener Zeilen bis heute im Dunklen liegt).
Anna Magdalena organisiert den Probenbetrieb und den Haushalt, damit ihr Mann seine Kantaten und Oratorien ungestört komponieren kann. Johann Heinrich Zedler möchte sein Vorhaben für sein berühmtes Universallexikon auf den Weg bringen – braucht aber eine fähige Schriftführerin, die er in Form von Dorothea Bach findet. Die Schauspielerin Caroline Neuber muss sich das von ihre geleitete Theater immer wieder gegen Widerstände zurückerkämpfen – um ihre Spielrechte dann wieder zu verlieren.
Oftmals scheint es, als sei es alleine die weibliche Hartnäckigkeit und Widerstandskraft, die die Weiterentwicklung von Musik, Theater, Literatur und Wissen in jener Zeit ermöglicht. Die Männer sind in Steideles Leipzig oftmals mit weniger konstruktiven Dingen befasst, die Steidele humorvoll mit viel Anklängen an die Gegenwart und in manchen Passagen fast soaphaft schildert.
Der junge Lessing opponiert gegen Gottsched, dessen strenge Regelpoetik in Sachen Sprache und Theater ein Dorn im Auge ist. Bach strebt nach mehr Anerkennung seiner musikalischen Tätigkeit und komponiert gar das Musikalische Opfer, um sich bei den jeweils Herrschenden auf guten Fuß zu stellen. Junge Studenten schließen sich den Freimaurern an und Geheimgesellschaften schießen aus dem Boden, etwa auch in Ingolstadt, wo Adam Weishaupt seinen Zirkel der Illuminaten gründet.
Während Luise Gottsched sich hinter einem Pseudonym verstecken muss, um Die Pietisterey im Fischbein-Rocke zu veröffentlichen oder anonym hunderte Beiträge für die Publikation ihres Mannes zu schreiben, nutzten die Männer derweil die Anonymität eher, um sich gegenseitig in den Zeitungen zu verleumden. Breitkopf will die Schrifttype Antiqua einführen, hat aber den meisten Erfolg mit der Einführung kleiner Billets, die dutzendfach in den Gassen Leipzigs zirkulieren und auf denen man ebenfalls anonym über andere spottet oder die Wahrheit verdreht. Ein Trend, der in der Stadtgesellschaft schon bald unter dem Begriff „Zwitschern“ um sich greift.
Das Licht ist hier viel heller?
Nicht nur hier, sondern in vielen anderen Passagen scheint immer wieder deutlich die Gegenwart durch, etwa wenn sich auch der Lexikongründer Zedler über die Nachdrucke in mangelnder Qualität beklagt, in der die Raubdrucker beispielsweise die Wikinger falsch als Wikipedinger abgeschrieben nachdrucken. Egal ob Streitfragen über Übersetzungen oder Debatten zu Geschlechterverhältnisse – es wäre ein Fehler, Aufklärung als Roman über eine längst vergangene Zeit abzutun.
Denn Steidele schafft immer wieder durchaus humorvoll Bezüge auch zu unserer Gegenwart herzustellen und zeigt Geschichte als etwas Fortwährendes. Die in der Epoche verhandelten Probleme und auftretenden Themen sind allesamt auch in unserer Zeit von Belang, was in diesen Tagen besonders in den letzten Seiten des Buchs deutlich wird, wenn Steidele durch Dorothea den Siebenjährigen Krieg und seine ganze Sinnlosigkeit beschreibt.
Friedrich II. von Preußen, der gegen Maria Theresia von Österreich opponiert, dazu noch der Konflikt mit Russland unter Zarin Katharina – viele Gefechte um kleine Einflusszonen – und dazu viel Not und Elend für die Zivilbevölkerung. So wird Dorothea Zeugin, wie Friedrich II. trotz der Bittfahrten von Gottsched nach Potsdam die Stadt Leipzig erpresst. Soldaten, die Frauen schänden und Kriegsbeute rauben, Mangel, Hunger und Armut – all das lässt neben den anderen zahlreichen Parallelen in unsere Tage gerade besonders nachdenklich werden und das „Licht“ der Aufklärung so manches Mal recht deutlich flackern.
Licht und Schatten der Aufklärung
Nicht umsonst endet dieses an Gedichten, theoretischen Texten, musikalische Auszügen und philosophischen Zitaten nicht arme Buch auf folgende Zeilen aus Hillers Die verwandelten Weiber:
Denn die einen sind im Dunkeln
Und die andern sind im Licht.
Und man siehet die im Lichte
Die im Dunkeln sieht man nicht.
Angela Steidele – Aufklärung, S. 593
Und ja, Angela Steidele hat wirklich ein Buch geschrieben, dass die Licht- und Schattenseiten der Aufklärung in den Blick nimmt und das Zeitalter des Age of Enlightment eben nicht nur verklärt, sondern auch Raum lässt für die Makel jener Zeit. Männer im Licht, Frauen im Schatten – gegen diese Sichtweise schreibt Dorothea Bach an und schafft mit ihrem Zeugnis dieser Zeit ein beeindruckendes Buch, das Steidele klug inszeniert und in einer stimmigen Sprache darbietet.
Obschon sich die Männer im Universitätsumfeld in Aufklärung sehr begeistert vom binären Rechensystem zeigen, so ist die Schwarz-Weiß-Perspektive Angela Steideles Ding als Autorin gar nicht.
Sie überzeugt als Schriftstellerin mit dem Gespür für Verhältnisse jenseits des starr binären Denkens, egal ob geschichtlich oder geschlechtlich. Sie zeigt die schwebende Anziehung zwischen Frauen, die Mannigfaltigkeit der geisteswissenschaftlichen Entwicklungen in den verschiedensten Disziplinen, spielt mit der Unzuverlässigkeit der Erinnerung und des Erzählens und beweist nicht zuletzt auch in der Beschreibung von Musik ein ungeheures Talent. Ihre Schilderung der Aufführung der h-Moll-Messe zu Leipzig oder die Stimmproben von Dorothea mit Luise bestechen durch Plastizität und mitreißende Dynamik. Aufklärung macht nicht zuletzt auch Lust, sich wieder einmal in den klanglichen Kosmos von Johann Sebastian Bach zu versenken.
Fazit
All das macht aus den knapp 600 Seiten Aufklärung ein hervorragend geschrieben und ebenso hervorragend inszeniertes Werk, das voller Themen und Ideen steckt, eben so wie die Epoche der Aufklärung selbst. Man geht hervorragend unterhalten und nachdenklich aus diesem wissensprallen, geistreichen und humorvollen Buch heraus. Es ist Lektüre, die Lust macht auf Geistesarbeit und in der die Historikerin Steidele zeigt, in welcher Qualität man sich Bildung einst erschloss und wie revolutionär die Ansätze der Aufklärer (und natürlich nicht zu vergessen der Aufklärerinnen!) einst waren.
Nun muss man nach der Lektüre von Aufklärung ja nicht gleich einen Privatzirkel gründen, um philosophische Traktate zu übersetzen oder über Musiktheorie zu streiten. Ein Literaturzirkel wäre ja schon einmal ein Anfang – mit dem man am besten dieses Buch liest und sich drüber unterhält, streitet und so vielleicht noch einige verborgene Facetten dieses ungeheuer reichen Buchs erschließt. Dorothea Bach und Luise Gottsched würde es sicher gefallen!
- Angela Steidele – Aufklärung
- 978-3-458-64340-1 (Insel Verlag)
- 603 Seiten. Preis: 25,00 €