Das war es auch schon wieder, dieses verrückte Jahr 2020. Eines, das mal quälend langsam verging, dann aber auch wieder raste.
Ein Jahr, an dessen Ende ich noch einmal kurz zurückblicken möchte. Schließlich war das vergangene Jahr in vielerlei Hinsicht besonders. Zweimal musste ich meine Bücherei zusperren, Buchhändler*innen wurden zu Versandspezialisten. Zwei Buchmessen fielen ersatzlos aus, ebenso waren Lesungen in diesem Jahr wirkliche Mangelware.
Hier in Augsburg hatten wir Glück, durften wir zwei literarische Soireen in Zusammenarbeit mit der Augsburger Allgemeine durchführen, gerade, als es die Infektionslage zuließ. Kurz vor dem ersten Lockdown war im März Ingo Schulze zu Gast, im Herbst vor dem neuerlichen Lockdown begrüßten wir Olga Grjasnowa zu Gast. Im Anschluss debattierten wir wieder über die Bücher der jeweiligen Saison und ich freute mich, einem großen Publikum die Werke Robinsons Tochter von Jane Gardam und Long Bright River von Liz Moore ans Herz legen zu dürfen. Zwei meiner absoluten Lesehighlights in diesem Jahr.
Eine weitere Lesung, die mir im Gedächtnis bleiben wird, war die Augsburger Premiere von Thomas Hettches bestrickendem Roman Herzfaden, in dem er die Geschichte der Augsburger Puppenkiste und die ihrer Gründer*innen erzählt. Ein hervorragendes Buch, ganz zurecht auch für den Deutschen Buchpreis im Herbst nominiert.
Buchpreis, Blogbuster und Aufreger
Doch nicht nur den Deutschen Buchpreis habe ich in diesem Jahr wieder begleitet. Auch durfte ich Teil der Jury des Blogbusterpreises sein. Hier waren vielen Manuskripte zu sichten, aus denen ich mich schlussendlich für Yannick Dresens Romanentwurf entschied.
Auch bin ich froh, dass das Jahr nicht ganz so düster endete, wie es sich noch im Frühjahr angedeutet hatte. Zwar gab es für mich einen ganz klaren Aufreger zum Jahresende (der dann zum mit Abstand meistgeklickten Beitrag des Jahres avancierte), generell verlief das Jahr aber dann doch besser als gedacht.
Sieht man von Ärgernissen wie etwa der Cancel-Culture-Phantomdebatte in diesem Jahr ab, bei der man die Aufmerksamkeit und Energie besser für alle die untergegangen Bücher im Frühjahr aufgewendet hätte (zum Beispiel dieses oder dieses hier), war doch auch vieles ganz in Ordnung.
So erzielte der Buchhandel trotz allen Widerfahrnissen mehr erfreuliche Ergebnisse. So gewann mit Helga Schubert gewann so eine Autorin den Bachmannpreis, die durch die digitale Durchführung des Preises ihr Zuhause nicht verlassen musste, in dem sie ihren Mann pflegt.
Besprechungen, Klicks und weiter so?
Auch ich durfte an ein paar digitalen Treffen teilnehmen. So war ich bei Kai Wielands Lesungen zu Zeit der Wildschweine dabei oder traf im Rahmen der Messe Verlagsmitarbeitende und Blogger*innen digital. Kein gleichwertiger Ersatz für all das Ausgefallene, aber wenigstens eine Alternative mit Charme.
Meist gleicht das Schreiben hier einer Arbeit im luftleeren Raum, ohne Echo oder Widerspruch. Dennoch bleibt die Arbeit beglückend, nicht zuletzt durch solche Aktionen oder eine nette Mail, die mich ab und an mal erreicht, und die zu Weitermachen animiert.
Apropos Weitermachen. Auch wenn andere Blogger aufgeben oder das Ende der Blogs gekommen sehen, so kann ich dieses Urteil nicht bestätigen. Die Zugriffszahlen und die Abonnements steigen weiterhin an, wenngleich die Interaktion weiter abnimmt. Im Lauf des Jahres erschienen hier in der buch-Haltung 115 besprochene Bücher (69 davon von Autoren, 45 von Autorinnen für Statistikfüchse).
Enttäuschungen waren erfreulich wenige darunter, Mittelmaß einiges, aber deutlich mehr Highlights. Bücher, die mich durch ihre Sprache, Form, ihren Plot oder ihre Originalität (im besten Falle alles zusammen) überzeugten gab es 2020 reichlich.
Hier der Übersichtlichkeit halber noch einmal eine Grafik einiger meiner Highlights. Alle unten aufgeführten Bücher finden sich mit ausführlichen Besprechungen auf dem Blog.
Und wie soll es nun weitergehen? Was bringt 2021? Wird es wieder Buchmessen geben? Läuft Instagram den Buchblogs endgültig den Rang ab? Wird Sebastian Fitzek zum vierten Mal in Folge das meistverkaufte Buch des Jahres vorlegen? Ist es an der Zeit, dass Simone Buchholz mal für den Deutschen Buchpreis nominiert wird?
Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, was ich mir wünschen würde für das Literaturjahr 2021. Das hat mich nämlich die Redaktion des A3-Kulturjournals gefragt. Meine Antwort darauf soll diesen kleinen Rückblick beschließen. Was wünscht ihr euch fürs neue Jahr?
Es ist doch etwas albern, eine Blogbeitrag mit einer derart selbsterklärenden Überschrift zu beginnen. Und dennoch steht meine Aussage im Widerspruch zu der Empfindung vieler Menschen da draußen, wenn ich die Diskussionen der vergangenen Tage Revue passieren lasse. Noch immer scheint in Teilen des Bildungsbürgertums ein romantisierender Literaturbegriff vorzuherrschen, was den Umgang mit Büchern und ihren Stellenwert betrifft.
Eigentlich ist es ja ganz einfach: Nein, Bücher sind keine Lebensmittel. Spätestens, wenn man einmal versucht, von ihnen abzubeißen, sollte auch der letzte oder die letzte dieses Faktum zur Kenntnis genommen haben.
Aber dennoch erfreut sich die Aussage größter Beliebtheit. Schon während des ersten Shutdowns im März und der damit verbundenen Schließung von Buchhandlungen und Bibliotheken grassierte diese Aussage, um für offene Bibliotheken und Büchereien zu werben. Und nun, da der zweite Shutdown angebrochen ist, feiert die Ungleichung Bücher=Lebensmittel ihr Comeback.
Die Maslow’sche Bedürfnispyramide
Dabei ist die Sache doch recht einfach, wenn man einfach mal die berühmte Maslow’sche Bedürfnispyramide zur Hand nimmt. Diese klassifiziert verschiedene menschliche Bedürfnisse, aufsteigend nach ihrer Wichtigkeit.
Betrachtet man diese Pyramide, finden sich Bücher höchstens in der Kategorie der Individualbedürfnisse, eher noch in der Spitze bei der Selbstverwirklichung. Es mag in gewissen Teilen des Bildungsbürgertums immer noch en vogue sein zu bekennen, man könne ohne Bücher nicht leben. Und ja, Bücher bieten Wissen und Zerstreuung, lassen uns in andere Welten eintauchen, verändern bestenfalls unser Denken und unsere Wahrnehmung. Aber überlebenswichtig ist das alles nicht. Bücher sind keine Lebensmittel, ich kenne gar Menschen, die prima durchs Leben gekommen sind, ohne mehr als eine Handvoll Bücher gelesen zu haben. Persönlich kann ich mir einen derartigen Lebensstil auch nicht vorstellen: zum Überleben brauchen wir die Bücher aber nicht. Da sind es schon eher die physiologischen Bedürfnisse und die Fragen der Sicherheit, die im täglichen (Über)Leben eine Rolle spielen.
Oder man folgt dem Vorschlag der Kolleg*innen der Büchereien Wien:
Eine privilegierte Diskussion
Die Diskussion, die sich nun um geöffnete Buchhandlungen entspann, in der obiges Argument reflexhaft wiederholt wurde, zählt für mich auch zu einer überprivilegierten Diskussion, über die ich nur den Kopf schütteln kann. Hängt unser Wohl und Wehe in der wohl schwersten Pandemie seit vielen Jahrzehnten davon ab, dass wir weiterhin in geöffneten Buchhandlungen einkaufen können? Sind Buchhandlungen wirklich lebensnotwendig? Und müssen wir diese trotz besseren Wissens wirklich offenhalten und die Mitarbeitenden dem Risiko des Kundenkontakts aussetzen?
Zahlreiche Stimmen von Buchhändler*innen, die ich in den letzten Tagen vernahm, lassen mich wirklich daran zweifeln. Viel war da zu lesen von enervierenden Gesprächen mit Kund*innen, die Hygieneregeln oder Wartezeiten nicht beachten wollten. Warum sollte man die Mitarbeitenden diesem Stress und Infektionsrisikos aussetzen, wenn es auch anders geht?
Warum sollen Buchhandlungen sicherere Einkaufsmöglichkeiten als Discounter, Baumärkte oder Drogerien darstellen? Dem Virus ist es aktuellen Erkenntnissen nach ja ziemlich egal, wo es sich verbreitet. Wo sich Menschen befinden, ist das Risiko einer Infektion gegeben. Und wenn wir wirklich alle sozialen Kontakte drastischer einschränken müssen, als bisher geschehen, warum dann nicht auch in Buchhandlungen?
Buchhandlungen funktionieren auch geschlossen
Es ist ja nicht so, dass Buchhandlungen keine Bücher mehr vertreiben, nur weil sie geschlossen sind. Im Gegenteil. Der Shutdown im März und April hat es ja bewiesen: Buchhandlungen funktionieren auch unter Pandemiebedingungen hervorragend und stellen die Versorgung mit Lesestoff sicher.
Die meisten Buchläden bieten Onlineshops an, sie liefern aus oder bieten kontaktlose Abholmöglichkeiten. Man kann digital E-Books downloaden oder Hörbücher streamen. Bibliotheken bieten die Onleihe, Plattformen wie Genialokal oder Mojoreads helfen aus, wenn gerade keine Buchhandlung in der Umgebung digital eine Bestellplattform bietet. Ganz zu schweigen von Bücherkisten in der Nachbarschaft oder offene Bücherschränke in vielen Städten. Jede Menge Möglichkeiten also, um teilweise wenigen Minuten später, in den allermeisten Fällen spätestens am nächsten Tag, das gewünschte Buch zu besitzen. Braucht es da zwingend geöffnete Buchläden, in denen man das Personal dem Risiko von Kontakten aussetzt? Ich meine nein.
Ich gehe sogar soweit und biete eine Wette an: in den meisten Haushalten der lautesten Trommler für geöffnete Buchhandlungen dürften mindestens eine Handvoll ungeleser oder wiederlesenswerter Bücher stehen, sodass man auch mal zwei oder drei Tage ohne eine realiter geöffnete Buchhandlung überlebt (exklusiv von mir schon getest: Spoiler – es funktioniert!)
Entweder, wir nehmen die Pandemiebekämpfung jetzt ernst und behandeln alle gleich, oder wir lassen es. Dann suchen wir für alles Ausnahmen, relativieren die Risiken, erschaffen einen Flickenteppich der regionalen Regelungen und erneuter Ausnahmen. Wundern brauchen wir uns dann aber auch nicht, wenn die Wirkung des „harten Lockdowns“ dann verpufft und wir wieder da stehen, wo wir losgelaufen sind.
Warum sind Buchhandlungen wichtiger als Büchereien?
Und eine letzte Frage hätte ich da noch: warum werden Buchhandlungen in dieser Pandemie einmal mehr besser behandelt als Büchereien? Nur weil sie die lautere Lobby haben und weil man zu Weihnachten halt traditionell in die Buchhandlung stiefelt? Ich behaupte ketzerisch: bei einem Teil der zu Weihnachten rituell eingekauften Bücher ist es den Beschenkten eh wurscht und es zählt eher die Geste der Kulturbeflissenheit, denn eine wirkliche literarische Affinität beim Beschenkten.
Aber in der Diskussion der letzten Tage drehte sich alles um Buchhandlungen. Die Entscheidung Berlins, diese offenzuhalten, wurde in den sozialen Netzwerken und einschlägigen Gruppen begeistert beklatscht. Bücher SIND eben einfach Lebensmittel. Da war sie wieder, diese falsche Phrase. Kein Wort aber zu den Büchereien, die nach Länderregelung teilweise schon Ende November schließen mussten und unter erheblicher Eigeninitiative erst nach politischer Freigabe einen Abholservice auf die Beine stellen durften.
Ich konnte es meinen Kund*innen hier in der Bücherei nur schwer vermitteln: warum dürfen große Rolltreppenbuchhandlungen aufhaben und ihre Bücher verkaufen, während wir geschlossen bleiben und (diesmal wenigstens nur tagelang statt wie im März Wochen) auf die Erlaubnis eines To-Go-Betriebs hoffen mussten? Nur weil wir Medien mehr oder minder gratis verleihen, statt sie zu verkaufen? Unverständnis nicht nur auf Kundenseite, sondern auch bei vielen Bibliotheksmitarbeiter*innen. Denn gerade aufgrund ihrer Kommerzfreiheit, ihre niedrigschwelligen Angebote, ihre Teilhabemöglichkeiten, ihrem breiten Informationsangebot sehe ich Bibliotheken in Sachen Wichtigkeit für die Gesellschaft noch vor Buchhandlungen.
Geistige Tankstellen – ein schiefes Bild
Ins Bild passt da auch das schiefe Bild der geistigen Tankstellen, das kontinuierlich zweckentfremdet wird und wurde. Einst versah Helmut Schmidt Bibliotheken mit dieser Bezeichnung. Doch in der Politik scheint eine derart große Begeisterung für diese Metapher zu herrschen, dass man nur noch im Bezug auf den Buchhandel von „geistigen Tankstellen“ liest. Zuletzt war es etwa Kulturstaatsministerin Monika Grütters, die von Büchern als „Seelennahrung“ und eben auch von „geistigen Tankstellen“ salbaderte. Der Ursprung des Zitats und seine eigentliche Bedeutung scheint zunehmend in Vergessenheit zu geraten.
Dass es zwischen Buchhandlungen und Büchereien einen Unterschied gibt, es scheint egal. Und warum muss man in Zeiten des Klimawandels und der zunehmenden Sensibilisierung für die Umwelt immer noch von Tankstellen sprechen? Was sagt das über unsere Gesellschaft aus? Im Land des Autos geht halt nichts ohne einen Autovergleich? Lesen ist Benzin für den Kopf? Literatur gibts in bleifrei, Super und ohne Oktan? Im Gegensatz zur Tanke haben die meisten öffentlichen Büchereien (und auch Buchhandlungen) sonntags zu, überteuerte Fertigpizza und Bier gibts da auch nicht. Dieses Bild funktioniert immer schlechter, je länger man darüber nachdenkt.
Zurück zu einem sinnvollen Diskurs
Wie wäre es, wenn wir diese ganze Debatte um die Buchhandlungen mal wieder ein paar Stufen zurückschalten? Und ein paar wirklich wichtige Dinge in den Blick nehmen? Ja, Bücher sind keine Lebensmittel. Und ja, sie sind wichtig und, bedeuten für viele Menschen Aus- und Einkommen. Wissens- und sinnstiftend sind sie auch für unzählige Menschen. Das weiß ich alles. Aber wäre es nicht Zeit, uns mal ein paar wichtige und ehrliche Fragen zu stellen?
Warum hängt das Wohl und Wehe unserer Gesellschaft vor Weihnachten davon ab, in einer Buchhandlung persönlich zu erscheinen, statt sich telefonisch beraten zu lassen oder per Mail zu bestellen?
Warum kann man Büchereien ohne große Aufschreie wochen- und monatelang zusperren, aber erst wenn Buchhandlungen schließen sollen, kommt der große Aufschrei?
Ist es nicht auch ein bisschen peinlich, wenn andere Branchen und wirklich wichtige Einrichtungen wie Tafeln und Co. die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung ohne Widerstand und Klagen mittragen – und nur von der Literaturbranche und ihrer Unterstützer*innen wehleidiges Jammern und Zetern zu vernehmen ist?
Warum sollen Buchhandlungen besser behandelt werden als Büchereien? Warum gibt es keine einheitlichen Regeln, die einfach eine kontaktlose Abholung ermöglichen, statt überall Ausnahmen und Schlupflöcher zu suchen?
Was ist uns die Pandemiebekämpfung und der Schutz unserer Mitmenschen wirklich wert? Sind Bücher lebensnotwendig?
Das alte Jahr neigt sich zur Neige. Die Verlage beschenken uns mit neuen Vorschauen für das Frühjahr 2021. Und ich habe wieder zahlreiche Bücher aus den Katalogen herausgepickt. Bücher, auf die ich mich freue, darunter Wiederentdeckungen, neue Stimmen, Memoirs, Sachbücher, Krimis, Gesellschaftsromane. Ein hoffentlich vielstimmiges Allerlei. Die Verlinkungen der Überschriften führen euch auf die Seiten der Verlage und bieten vertiefende Infos über die Bücher.
Und wenn euch ein oder mehrere Bücher interessieren – kauft sie doch bitte bei den Buchhandlungen vor Ort. Das macht Innenstädte bunter, gibt Arbeit und sichert kulturelle Vielfalt. In diesem Sinne – viel Spaß!
Die ruhigen Tage scheinen gezählt in der kleinen Baptistengemeinde „Five Ends“ im Süden Brooklyns. An einem warmen Septembertag im Jahr 1969 tritt der alte Diakon Cuffy Lampkin, genannt „King Kong“, mit einer Waffe auf den zentralen Platz seines Sozialbauviertels, hält sie vor aller Augen dem hiesigen Drogendealer ins Gesicht – und drückt ab. Ausgerechnet King Kong, der keiner Fliege etwas zuleide tun kann. Wie konnte es dazu kommen? Schnell zeigt sich, dass sich die Schicksale aller Gemeindemitglieder – der Afroamerikaner wie der Latinos, der abgehalfterten Mafiosi wie der korrupten Cops – in dieser unvorstellbaren Tat überkreuzen. Und dass himmlische Gerechtigkeit und Strafe manchmal eine ziemlich irdische Angelegenheit sind…
Bass Rock, eine unbewohnte Felseninsel vor der schottischen Küste, wirft seit Jahrhunderten ihren Schatten auf das Festland und seine Bewohner. Neu unter ihnen: Ruth Hamilton, die in den Jahren nach dem Krieg mit ihrem Mann und zwei Stiefsöhnen in ein zugiges Landhaus an der Küste zieht. Sie zum ersten Mal schwanger und zunehmend auf sich allein gestellt: die Stiefkinder im Internat, der Mann für Wochen in seiner Londoner Kanzlei. Als Großstädterin hadert Ruth mit der Abgeschiedenheit und auch mit den sonderbaren Gebräuchen der einheimischen Gesellschaft. Ein Strandpicknick mitten im Winter? Die eigenartig kostümierten Frauen? Ruth passt sich an, ein wenig. Bis sie begreift: Das hier passiert nicht nur ihr. Es ist ein altes Spiel. Sie wird es nicht gewinnen…
Ann Petry – Country Place (Nagel&Kimche)
Eine Wiederentdeckung, auf die ich mich besonders nach dem großartirgen The Street von Ann Petry sehr freue. Ein kleiner Ort in Connecticut: Johnnie kommt aus dem Zweiten Weltkrieg zurück. Die Kleinstadt ist nicht das Idyll, zu dem Johnnie sie in seiner Sehnsucht gemacht hat – ebenso wenig wie Glory die wunderbare Ehefrau ist, die Johnnie in ihr sehen wollte, wie er nach und nach erkennen muss. Johnnie empfindet sich nicht nur als Kriegsveteran, sondern auch als Veteran »des nicht enden wollenden Kampfes zwischen denen, die zu Hause blieben, und denen, die weggingen«. In der Folge blickt Ann Petry hinter die Kulissen des Dorfs und zeigt ein unbarmherziges Städtchen, das auch Johnnie anders in Erinnerung hatte.
Ein Dorf in den Bergen Korsikas, Mitte der 1980er-Jahre. Als die 16-jährige Florence tot im Pinienwald gefunden wird, ist ein Schuldiger schnell ausgemacht: Antoine Orsini, der Dorftrottel, dem die Walnussbäume näher sind als die Menschen und der ein Diktiergerät seinen besten Freund nennt. Jahre später hat er seine Haftstrafe abgesessen und kehrt zurück. Noch immer spricht im Dorf niemand mit ihm, und so streift Antoine allein umher und berichtet einem roten Plastikstuhl davon, was damals wirklich geschehen ist. Ruppig und mit eigenwilliger Sinnlichkeit erzählt ein einfacher Mann seine Geschichte. Und die Geschichte einer Dorfgemeinschaft, die so erbarmungslos ist wie die korsische Sonne.
In einer kleinen Wohnung am Rande der Metropole Seoul lebt Kim Jiyoung. Die Mitdreißigerin hat erst kürzlich ihren Job aufgegeben, um sich um ihr Baby zu kümmern – wie es von koreanischen Frauen erwartet wird. Doch schon bald zeigt sie seltsame Symptome: Jiyoungs Persönlichkeit scheint sich aufzuspalten, denn die schlüpft in die Rollen ihr bekannter Frauen. Als die Psychose sich verschlimmert, schickt sie ihr unglücklicher Ehemann zu einem Psychiater. Nüchtern erzählt eben dieser Psychiater Jiyoungs Leben nach, ein Leben bestimmt von Frustration und Unterwerfung.
Für eine Dissertation über das Leben auf dem Land im 21. Jahrhundert zieht der Pariser Anthropologe David aufs Dorf, um Sitten und Bräuche der Landbevölkerung zu beobachten. Die Stille, die ständige Anwesenheit von Tieren aller Art, vor allem aber die überraschende Unangepasstheit sämtlicher Dorfcharaktere ziehen ihn in ihren Bann, und bald ist er viel involvierter in das Landleben, als er es sich je hätte träumen lassen.
Missouri, 1985: Um vor den Problemen zu Hause zu fliehen, nimmt der fünfzehnjährige Sam einen Ferienjob in einem alten Kino an. Und einen magischen Sommer lang ist alles auf den Kopf gestellt. Er findet Freunde, verliebt sich und entdeckt die Geheimnisse seiner Heimatstadt. Zum ersten Mal ist er kein unscheinbarer Außenseiter mehr. Bis etwas passiert, das ihn zwingt, erwachsen zu werden.
Sharon Doduas Otoos Debütroman wandelt auf den Spuren von Virginia Woolfs Orlando. Ada ist nicht eine, sondern viele Frauen: In Schleifen bewegt sie sich von Ghana nach England, um schließlich in Berlin zu landen. Sie ist aber auch alle Frauen, denn die Schleifen transportieren sie von einem Jahrhundert zum nächsten. So erlebt sie das Elend, aber auch das Glück, Frau zu sein, sie ist Opfer, leistet Widerstand und kämpft für ihre Unabhängigkeit.
Als Sohn eines Farmers hat August früh erfahren, was stilles Glück bedeutet. Bei der Arbeit kommt er zu sich. Kühe melken, Heu machen, die Geräte im Schuppen reparieren. Doch seine Mutter wünscht sich schon lange etwas anderes, nicht nur für ihn, und er muss nach der Scheidung mit nach Montana. Ein neues Leben, eine neue Landschaft erstreckt sich nun vor ihm. Zum ersten Mal begegnet August einer majestätischen Natur, der Freiheit, der Sehnsucht. Bloß brauchen diese Geschenke, wie alles in seinem Leben, Zeit und Kraft, und als er sich einlässt auf die falschen Freunde, auf unerreichbare Frauen, droht August in den Weiten und Träumen und Widersprüchen dieses Landes verloren zu gehen.
Isaac Rosa – Glückliches Ende (Liebeskind)
Auch wenn jede unglückliche Ehe auf ihre eigene Weise unglücklich ist, gleichen sie einander. Die Geschichte von Ángela und Antonio geht wie die vieler Paare: Sie verlieben sich, leben einen Traum, haben Kinder, werden in den Mühlen des Alltags zerrieben, bringen irgendwann nicht mehr die Kraft und die Geduld auf, sich auf den anderen einzulassen, Misstrauen und Eifersucht machen sich breit … Nach ihrer Trennung stellen sich Ángela und Antonio verzweifelt die Frage, wie es so weit hatte kommen können. Abwechselnd ergreifen sie das Wort, um ihre gescheiterte Ehe einer Autopsie zu unterziehen. Jeder erzählt von der schleichenden Erosion der Liebe, von verlorenen Träumen und den sich verändernden Lebensbedingungen. Und von den unzähligen Versuchen, der eigenen Unzulänglichkeit Herr zu werden und über die des anderen hinwegzusehen …
Ferdinand Desoto hatte Pizarro nach Peru begleitet, dem Inkakönig Schach und Spanisch beigebracht, dessen Schwester geschwängert und mit dem Sklavenhandel ein Vermögen gemacht. Er war bereits berühmt, als er 1538 eine große Expedition nach Florida startete, die eine einzige Spur der Verwüstung durch den Süden Amerikas zog. Knapp fünfhundert Jahre später klagt ein New Yorker Anwalt im Namen aller indigenen Stämme auf Rückgabe der gesamten USA an die Ureinwohner.
Als W. 1790 beim Leipziger Perückenmacher Knobloch in die Lehre eintritt, ist er gerade mal zehn Jahre alt; die Mutter an der Schwindsucht gestorben, der Vater ein Trinker, der Rasiermesser und Schere nicht mehr sicher führen kann. Doch nicht immer kann W. sich nur auf seine Arbeit konzentrieren, denn manchmal kommt die Stieftochter des Perückenmachers zu Besuch, und als er sie heimlich beim Waschen belauert, packt ihn zum ersten Mal das Begehren. Die Lust am Herumschleichen und Hinterherspionieren wird ihn sein Leben lang nicht loslassen. Nicht während seiner Wanderjahre, in denen er sich in diversen Stellungen verdingt, und nicht als Soldat im Krieg, der ihn durch ein versehrtes Europa treibt. Als W. Jahre später in Leipzig die mittlerweile verwitwete Johanna Woost wiedertrifft, wird es ihm zum Verhängnis.
Dorothy West – Die Hochzeit (HoCa)
Shelby und Meade wollen heiraten. Doch in dem elitären Zirkel auf Martha’s Vineyard sind nicht alle mit der Verbindung einverstanden. Denn Shelby stammt aus einer Schwarzen Familie – und Meade ist weiß.
Ausgehend von einem Sommertag erzählt Dorothy West aus dem Leben von fünf Generationen einer Schwarzen Familie. Die junge Shelby, Augapfel der Schwarzen Gemeinschaft auf der Insel Martha’s Vineyard, will den New Yorker Jazzpianisten Meade heiraten. Doch Meade ist weiß und hat in den Augen der Familie Cole wenig zu bieten. Sollte es nicht lieber ein Mann aus den eigenen Reihen sein? Die Insel-Gemeinde besteht aus einem elitären Zirkel der Schwarzen Bourgeoisie. Die Angst vor Veränderung ist hier groß, und sie trägt ihre Wurzeln in langen Jahren der Unterdrückung. Doch am Ende muss Shelby die Entscheidung treffen, ob sie ihrem Herzen folgt, und wohin es sie führt.
Es ist eine richtig gute Party. Es ist voll, die Musik ist laut, die Drinks sind kalt. Emira ist aufgestylt und feiert richtig ab. Da bekommt die Afroamerikanerin einen Anruf von Alix. Ob sie wohl spontan auf die kleine Briar aufpassen könne? Emira liebt Briar, und sie braucht den Job als Babysitterin. Wenig später hängen die beiden in einem riesigen Supermarkt ab und albern herum. Doch einer der Sicherheitsleute macht ihnen Stress. Eine junge Schwarze, mit einem kleinen weißen Mädchen? Es kommt zu einem Tumult. Der Mann unterstellt Emira, Briar entführt zu haben, Kunden mischen sich ein, ergreifen Partei, jemand filmt das Ganze. Alix versucht in den folgenden Wochen „die Sache mit dem Supermarkt“ wieder gut zu machen. Doch wie sie es auch anfängt, es geht alles immer schief. Dabei hat sie doch so gute Absichten! Die Dinge werden nicht weniger kompliziert, als das Supermarkt-Video online und viral geht.
Manchester, 1867. Im Morgengrauen hängen die Rebellen. Die englische Polizei wirft ihnen vor, die ›Fenians‹, irische Unabhängigkeitskämpfer, zu unterstützen. Eine gefährliche Machtgeste seines Vorgesetzten, findet Constable James O’Connor, der gerade aus Dublin nach Manchester versetzt wurde. Einst hieß es, er sei der klügste Mann der Stadt gewesen. Das war, bevor er seine Frau verlor, bevor er sich dem Whiskey hingab. Mittlerweile rührt er keinen Tropfen mehr an. Doch jetzt sinnen die ›Fenians‹ nach Rache. Der Kriegsveteran Stephen Doyle, amerikanischer Ire und vom Kämpfen besessen, heftet sich an O’Connors Fersen. Ein Kampf beginnt, der O’Connor tief hineinzieht in einen Strudel aus Verrat, Schuld und Gewalt.
Stefanie und Richard, Vera und Alec haben Berlin hinter sich gelassen, sie leben jetzt in New York und gönnen sich mit den Kindern einen langen August an den Stränden der Hamptons. Aber schon bald wissen sie nicht mehr, wie es weitergehen soll. Zwischen den luxuriösen Sommerhäusern auf Long Island zieht ein Mann seine Kreise, der den Superreichen inneres Wachstum verkaufen will. Dazu ist jedes Mittel recht, von den Sekreten exotischer Frösche bis zu mystischer Morgengymnastik. In Stefanie findet er eine enthusiastische Anhängerin – und das löst gleich mehrere Katastrophen aus.
Louis-Philippe Dalembert – Die blaue Mauer (Nagel&Kimche)
Drei unterschiedliche Frauen – Dima, eine aus wohlhabenden Verhältnissen stammende Syrerin, Chochana aus Nigeria und Semhar aus Eritrea – finden sich an Bord eines Kutters wieder, vereint in der gleichen Hoffnung auf ein neues Leben in Europa. Dima lebte ein privilegiertes Leben in Aleppo, bis die ersten Autobomben zu explodieren begannen. Die unternehmungslustige und ehrgeizige Chochana stammt aus einer jüdischen Igbo-Gemeinde in Nigeria. Sie war dazu bestimmt, Jura zu studieren, bevor Dürre und Armut sie zwangen, das Studium aufzugeben und aus ihrem Land zu fliehen. Semhar träumte davon, Lehrerin zu werden, bevor sie zum endlosen nationalen Dienst in der eritreischen Armee eingezogen wurde, wo sie sich weigerte, ihre Jugend zu verlieren.
Claire ist die kleine blasse Schwester, die immer alle beobachtet. Aber versteht sie, was sie sieht? Am letzten Tag des Familienurlaubs wird ihre von allen bewunderte ältere Schwester tot aus dem Wasser geborgen. Die Familie zerbricht an den Nachwirkungen, auch weil Claire die strahlende Heldin ihrer Kindheit nicht loslassen kann. Bis Claire einen Mann trifft, der bei dem Unglück dabei war. Sie nähert sich ihm und hofft, endlich die Wahrheit zu erfahren, was damals passiert ist. Seine Version der Geschichte wird für Claire zu einer Befreiung.
Ein Mann – er ist Schriftsteller von Beruf, nachdenklich und ein wenig konfliktscheu – will die USA bereisen. Zunächst nach New York City, dann weiter Richtung Maine. An seiner Seite eine meinungsstarke Osteuropäerin, die seit dreißig Jahren im Fränkischen zu Hause ist: seine Mutter. Von Beginn an liegt ein Schatten auf der Unternehmung: Donald Trump ist seit kurzem Präsident der angeschlagenen Nation, und Celina hat ihrem Sohn kurz vor der Abreise eröffnet, dass sie, anstatt die zweite Reisewoche bei einem Jugendfreund in Texas zu verbringen, die ganze Zeit mit ihm zusammenbleiben wird. Dann hat sie auch noch einen Unfall. Mit gebrochener Nase und zwei blauschwarzen Veilchen zieht sie überall die Aufmerksamkeit wohlmeinender Fremder auf sich.
Stell dir vor, auf dem Weg ins Jenseits gäbe es eine riesige Bibliothek, gesäumt mit all den Leben, die du hättest führen können. Buch für Buch gefüllt mit den Wegen, die deiner hätten sein können. Hier findet sich Nora Seed wieder, nachdem sie aus lauter Verzweiflung beschlossen hat, sich das Leben zu nehmen. An diesem Ort, an dem die Uhrzeiger immer auf Mitternacht stehen, eröffnet sich für Nora plötzlich die Möglichkeit herauszufinden, was passiert wäre, wenn sie sich anders entschieden hätte. Jedes Buch in der Mitternachtsbibliothek bringt sie in ein anderes Leben, in eine andere Welt, in der sie sich zurechtfinden muss. Aber kann man in einem anderen Leben glücklich werden, wenn man weiß, dass es nicht das eigene ist?
Einst musste sich Amma ihre Anerkennung als schwarze, lesbische Dramatikerin in Londons Theaterszene hart erkämpfen, nun steht ihre Premiere am National Theatre kurz bevor. Ihre neunzehnjährige Tochter Yazz hofft nur, dass die Reaktionen auf das provokante Stück für sie nicht zu peinlich werden. Ammas älteste Freundin Shirley hat früher für Yazz die Babysitterin gespielt. Inzwischen ist sie nach jahrzehntelanger Arbeit an unterfinanzierten Schulen ausgebrannt. Ihr größter Verdienst ist Carole, eine ehemalige Problemschülerin, die es bis nach Oxford geschafft hat. Doch Dankbarkeit hat sie dafür nie von Carole erfahren, die als Investmentbankerin nun mit den feinen Unterschieden der Upperclass konfrontiert ist. Caroles Mutter Bummi, die aus Nigeria stammt, kann mit der Britishness ihrer Tochter nichts anfangen, auch wenn sie ihr wohlweislich einen englischen Namen gegeben hat. So verschieden die Frauen und ihre Lebensgeschichten in diesem Roman sind, sind sie doch eng miteinander verbunden.
Die Welt ist in Aufruhr. In Amerika sagt Martin Luther King »I have a dream«. John F. Kennedy wird erschossen. In England starten die Beatles ihre Weltkarriere. Nur in Island steht die Welt still. Das muss auch Hekla erfahren, als sie – 22-jährig mit ihrer Remington-Schreibmaschine, einem Romanmanuskript, dem »Ulysses« von James Joyce und einem englischen Lexikon – in einen verrauchten Überlandbus steigt, der sie vom elterlichen Hof nach Reykjavík bringt. Dort, in der Stadt der Poeten, will sie ihren Traum verwirklichen und mit Büchern berühmt werden.
London 1960: Als ihre Mutter stirbt, verliert die achtzehnjährige Erica Hart den Boden unter den Füßen. Da bekommt sie einen Brief von Charmian Clift, einer Freundin ihrer Mutter, die sie auf die griechische Insel Hydra einlädt. Erica zögert nicht lange und reist mit ihrer großen Liebe Jimmy in den Süden. Auf Hydra werden sie Teil einer Künstlergemeinschaft – darunter der norwegische Schriftsteller Axel Jensen, seine Frau Marianne Ihlen und der kanadische Musiker Leonard Cohen. Sie genießen die lauten Abendessen, die nächtlichen Spaziergänge und das Baden bei Mondlicht. Erica lernt das Gefühl der Freiheit lieben und bewundert die eingeschworene Gemeinschaft für ihre mutige Suche nach einem anderen Leben. Vor allem Charmian, die mit den Launen ihres schreibenden Mannes fertig wird, ihr Kind mitten in diesem Durcheinander großzieht und die auch selbst schreibt. Bis es zu einem großen Streit kommt, und Erica hautnah miterlebt, wie hoch der Preis ist, den Charmian zahlt.
Jemma Wayne – Der silberne Elefant (Eisele)
Die junge Emilienne ist dem Bürgerkrieg in Ruanda entkommen und hat in London ein neues Leben begonnen. Die grausamen Erinnerungen an ihre Heimat versucht sie zu verdrängen. Vera hat in jungen Jahren einen Fehltritt begangen und möchte ein guter und moralischer Mensch sein – wenn nur ihre quälenden Schuldgefühle nicht wären und die Unmöglichkeit, ihrem Verlobten davon zu erzählen. Und die 56-jährige Lynn ist schwer erkrankt und rechnet schonungslos mit den verpassten Chancen ihres Lebens ab. Alle drei Frauen werden von dunklen Geheimnissen und seelischen Verletzungen geplagt, doch auf sich allein gestellt, gelingt es ihnen nicht, die Dämonen ihrer Vergangenheit zu verscheuchen. Erst als sich ihre Wege eines kalten Winters kreuzen, bewegt sich etwas in ihnen – und langsam, ganz langsam, beginnen sie, einander zu stützen und für die Zukunft zu stärken.
Mitten im Atlantik, auf der Insel St. Helena, träumt der achtjährige Angus einen großen Traum: Er will in die Fußstapfen des Sternenforschers Edmond Halley treten und dessen Gehilfe im fernen London werden. Angus übt für seine Laufbahn als Wissenschaftler, indem er tagsüber Vögel zählt und nachts die Position der Sterne markiert, wie Halley es ihm bei seinem Besuch auf der Insel beigebracht hat. Als es unter dem tyrannischen Gouverneur zu Unruhen kommt, rückt die Erfüllung von Angus’ Traum unverhofft näher: Mit einem geheimen Brief wird er als blinder Passagier an Bord eines Schiffes geschickt, um in England die Hilfe des geschätzten Herrn Halley zu erbitten…
Als „Weiches Begräbnis“ 2016 in China erscheint, wird der Roman als wichtigstes chinesisches Werk der letzten Jahrzehnte gefeiert und mit dem renommierten Literaturpreis Lu Yao ausgezeichnet. Doch als bei einer Parteizusammenkunft der Roman mit dem Vokabular der Kulturrevolution als „Giftpflanze“ verbrämt wird, verschwindet das Buch vom Markt. Denn Fang Fang rührt darin an ein unverarbeitetes Trauma der chinesischen Gesellschaft, die Landreform nach 1948, als Millionen Chines*innen hingerichtet und in „weichen Begräbnissen“, d.h. ohne Sarg, verscharrt wurden.
In einer Nervenklinik vertraut Heleen einer Nachtschwester ihre Lebensgeschichte an. Sie erzählt vom Aufwachsen in einer kinderreichen protestantischen Familie, ihrem gesellschaftlichen Aufstieg, den sie sowohl ihrer eigenen Schönheit als auch ihrem Sinn für Schönes zu verdanken hat. Und sie berichtet von ihrer großen Liebe Hannes und der jüngeren Schwester Lentje, um die sie sich seit dem Tod der Eltern kümmert. Mit ungeahnten Folgen, denn ihrer eigenen Eifersucht kann sie sich nicht entziehen.
In Madrid kämpfen eine Frau und ein Mann um die Liebe. Sie ist erfolgreiche Architektin, er freier Schriftsteller, der mit dem Nötigsten auskommt. Im Freundeskreis galten sie jahrelang als das perfekte Paar. Doch die Technologie bestimmt immer stärker ihren Alltag, bis hin zu den intimsten Momenten. Ständig müssen Nachrichten verschickt oder beantwortet werden. Videochats auf dem Tablet ersetzen das Gespräch zu zweit. Die beiden nehmen einander gar nicht mehr richtig wahr und schlittern in eine Krise.
Was für ein Skandal: Prof. Dr. Saraswati ist WEISS! Schlimmer geht es nicht. Denn die Professorin für Postcolonial Studies in Düsseldorf war eben noch die Übergöttin aller Debatten über Identität – und beschrieb sich als Person of Colour. Während das Netz Saraswati hetzt und Demos ihre Entlassung fordern, stellt ihre Studentin Nivedita ihr intimste Fragen.
Was braucht es, um eine Maschine mit menschlichem Bewusstsein auszustatten? Den Programmierer Syz interessiert nichts so sehr wie die Beantwortung dieser Frage. Doch als er hinter die Kulissen des Labors blickt, gerät sein bedingungsloser Glaube an die Technik ins Wanken. Welchem Zweck dient DAVE wirklich und wer wird von ihm profitieren?
Lizzie Benson, Bibliothekarin mit Hang zu apokalyptischen Gedanken, geht seit Jahren ihrer Berufung als Amateur-Psychologin nach: Sie kümmert sich um ihren Ex-Junkie-Bruder und ihre gottesfürchtige Mutter. Dieses Talent ist auch gefragt, als ihre alte Mentorin Sylvia Liller ihr einen Vorschlag unterbreitet: Lizzie soll die Fanpost zu ihrem alarmistischen Podcast „Hölle und Hochwasser“ beantworten. So stürzt sie sich in die Auseinandersetzung mit besorgten Linken, die die Klimakatastrophe kommen sehen, ebenso wie mit den Ultrakonservativen und deren Sorge um den Untergang der westlichen Zivilisation. Wie aber, fragt Lizzie sich immer häufiger, kann sie ihren privaten Garten wässern, wenn die ganze Welt in Flammen steht?
Sergej Lebedew besticht durch fesselnde Spannungselemente: Giftanschläge auf russische Agenten, chemische Kriegswaffen, Stalins Schatten, Westdeutschland und der Kalte Krieg. ›Das perfekte Gift‹ ist ein packender Roman über Wespenstiche, an denen Geheimagenten sterben, und die Jagd nach einem todbringenden Chemiker. Ein schillerndes Jahrhundert russischer Geschichte mit all ihren Abgründen.
Sommer 2001. »Survivor« von Destiny’s Child geht um die Welt wie ein Omen für kommende Ereignisse. Im Pariser Penthouse von Hasir Zaman, einem wohlhabenden Exil-Afghanen, tanzt zu der Melodie die mysteriöse Frau, die er verführen möchte. Beyoncés Stimme schleicht sich in die sündigen Gedanken seines Neffen Sameers, der im Waisenhaus von Kabul aufwächst. Der Song schallt aus dem Lautsprecher eines geheimen Trainingslagers, wo Leutnant Ryder, ein US-Marine, für einen internationalen Spezialeinsatz ausgebildet wird. Und die Hymne übertönt das Surren der Drohnen im Hindukusch, als sich dort die Schicksale der drei ›Überlebenden‹ untrennbar verstricken.
Klara ist ein Artificial Friend, eine künstliche Intelligenz, entwickelt, um Jugendlichen eine Gefährtin zu sein auf dem Weg ins Erwachsenwerden. Vom Schaufenster eines Spielzeuggeschäfts aus beobachtet sie genau, was draußen vor sich geht, studiert das Verhalten der Kundinnen und Kunden und hofft, bald von einem jungen Menschen als neue Freundin ausgewählt zu werden. Als sich ihr Wunsch endlich erfüllt und ein Mädchen sie mit nach Hause nimmt, muss sie jedoch bald feststellen, dass sie auf die Versprechen von Menschen nicht allzu viel geben sollte.
Seit ihrer gemeinsamen Jugend in der Siedlung verbindet Hani, Kasih und Saya eine tiefe Freundschaft. Nach Jahren treffen die drei sich wieder, um ein paar Tage lang an die alten Zeiten anzuknüpfen. Doch egal ob über den Dächern der Stadt, auf der Bank vor dem Späti oder bei einer Hausbesetzerparty, immer wird deutlich, dass sie nicht abschütteln können, was jetzt so oft ihren Alltag bestimmt: die Blicke, die Sprüche, Hass und rechter Terror. Ihre Freundschaft aber gibt ihnen Halt. Bis eine dramatische Nacht alles ins Wanken bringt.
Berlin im Jahr 2011, die Sicherheitsbehörden sind in Alarmbereitschaft, ein terroristischer Anschlag sei geplant: Der Reichstag soll eines der Ziele sein. Paul Jost ist Teil der einberufenen Sonderkommission und entscheidet darüber, wann und bei wem das Abhören von Telefonaten angeordnet wird. Im Konflikt zwischen freiheitlichen Grundrechten und der Bewahrung der öffentlichen Sicherheit hadert er mit der ihm auferlegten Verantwortung. Während er im Beruflichen daran mitwirkt, Freiheiten zu beschränken, ist er im Privaten gerade auf der Suche nach ihnen, denn seine Ehe ist in die Brüche gegangen. Der Bereich des Digitalen, der es ihm beruflich ermöglicht, den Spuren der Islamisten zu folgen, unterstützt ihn im Privatleben auf der Suche nach einer neuen Liebe.
Eine Villa mit Blick über das Meer, hoch oben auf den Klippen Korsikas. Hier wächst Huma auf, geboren 1976 in politisch unruhigen Zeiten, im Gründungsjahr der Korsischen Nationalen Befreiungsfront. Im Erdgeschoss wohnen Humas Eltern und verbannen sie eines Tages in den ersten Stock zu ihrer Großmutter. Zwischen den Generationen herrscht Schweigen, und die Großmutter scheint sich durch übergriffiges Verhalten an ihrer Enkelin rächen zu wollen – nur wofür? Musik und Literatur geben Huma Kraft, und mit der Zeit kommt sie nicht nur hinter das Familiengeheimnis, es gelingt ihr auch, sich von der Vergangenheit zu lösen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Kairo, 25. Januar 2011, 25.000 Menschen demonstrieren gegen Mubarak. Sie träumen von der großen Veränderung, doch während in der euphorischen Menge Liebesbeziehungen aufblühen, wird der Bürgerrechtler Khaled vor den Augen aller ermordet. Seine Freundin Dania will ihren Widerstand nicht aufgeben – und sei es gegen den eigenen Vater, den bigotten Geheimdienstchef, der islamische Werte predigt und heimlich Pornos schaut. Al-Aswanis Figuren verkörpern in diesem mitreißenden Buch, das in Ägypten verboten wurde, alle Facetten der Revolution, die für jede von ihnen einen Wendepunkt in ihrem Schicksal bedeutet.
Der Junge weint zum Steinerweichen. Er ist mit ein paar Dollar in der Tasche am Flughafen Hamburg ausgesetzt worden. Niemand versteht, was der verzweifelte Kleine sagt, also verstummt er, und dieser Roman muss seine Geschichte für ihn erzählen. Sie beginnt zwei Generationen vorher, als sich ein Mann aus einer Laune heraus freiwillig für den Vietnamkrieg meldet …
Mister Potter ist Analphabet und verdient sich seinen Lebensunterhalt als Taxifahrer auf den Straßen Antiguas. Er dreht seine Runden, fährt vorbei an dem Friedhof, auf dem er begraben werden wird. Die Sonne steht direkt über ihm, das Meer umgibt ihn, unterdrückte Leidenschaften erfüllen die Luft. Mister Potter will mehr erreichen als sein Vater, ein armer Fischer, und seine Mutter, die sich das Leben genommen hat. Er will in besseren Verhältnissen leben, ein eigenes Auto besitzen, Freundinnen haben und die Schulden seiner Töchter tilgen. Eine von ihnen ist Jamaica Kincaid. Nach seinem Tod wird sie seine Geschichte erzählen
Kleine Flunkerei, große Wirkung: Weston Kogi kommt nach langen Jahren in England zur Beerdigung seiner Tante nach Alcacia, Westafrika, zurück und macht den Fehler, sich ein bisschen aufzuspielen und die Leute glauben zu lassen, er sei in London ein Police Detective. Ist er aber nicht, nur Wachmann in einem Einkaufszentrum.
Er wird von zwei rivalisierenden Rebellengruppen mehr oder weniger gezwungen, den Mord an einem Konsenspolitiker aufzuklären, bzw. den Mord jeweils der anderen Rebellengruppe anzuhängen. Zu allem Überfluss mischt sich auch noch der brutale Geheimdienst der korrupten Regierung ein. Und Kogi muss nun sehen, wie er alle gegeneinander ausspielt und einigermaßen heil aus der Nummer herauskommt …
Mexicantown, Detroit. August Snow kehrt mit zwölf Millionen Dollar Schadenersatz zurück in das Viertel seiner Kindheit. Genug Geld für den Ex-Polizisten, um seinen alten Humor wiederzufinden und ein neues Leben zu beginnen. Doch er hat die Rechnung ohne seine Feinde gemacht: Kurz nach seiner Rückkehr wird eine der mächtigsten Unternehmerinnen der Stadt tot aufgefunden. Snow setzt sich auf die Fährte des Mörders – und gerät in einen gefährlichen Strudel, der ihn in Detroits dunkelste Winkel hinabzieht.
Siu-Man, ein Hongkonger Schulmädchen, begeht Selbstmord, indem sie sich aus einem Fenster im zwanzigsten Stockwerk stürzt. Aufgezogen wurde sie von Nga-Yee, ihrer älteren Schwester. Diese ist der festen Überzeugung, dass es irgendein falsches Spiel gegeben haben muss. Siu-Man wurde einige Zeit vor ihrem Tod Opfer eines sexuellen Übergriff s in der U-Bahn und in der Folge auf einer Online-Klatschplattform von einer anonymen Person verleumdet. Nga-Yee setzt alles daran, herauszufinden, wer es war – und wer die Schuld an Siu-Mans Tod trägt. Sie nimmt Kontakt zu einem Hacker auf, der nur als N bekannt ist. Doch der exzentrische Mann nimmt noch lange nicht jeden Auftrag an. Kann Nga-Yee ihn ausreichend für ihren Fall interessieren – und kann sie es sich leisten, wenn er Ja sagt?
Er ist der Sohn einer Prostituierten, sein Zuhause ist die Unterwelt Barcelonas. Melchor Marín arbeitet für ein Drogenkartell und wird bei einer Razzia festgenommen. Als er im Gefängnis von der Ermordung seiner Mutter erfährt, beschließt er, nach dem Absitzen der Strafe Polizist zu werden.
Jahre später ist Melchor als bewährter Polizist in der kargen Landschaft der Terra Alta im Einsatz, wo er mit Frau und Tochter ein ruhiges Leben führt. Aber dann erschüttert ein Verbrechen die Region, ein altes Unternehmerpaar wird grausam ermordet. Ein brutaler Raubüberfall? Eine alte Fehde? Als das Kommissariat den Fall ungelöst abschließt, ermittelt Melchor auf eigene Faust.
1927, im Süden der USA. Es regnet seit Tagen, und der mächtige Mississippi droht über die Ufer zu treten, als die Prohibitionsagenten Ingersoll und Johnson die kleine Ortschaft Hobnob erreichen. Sie sind auf der Suche nach zwei verschwundenen Kollegen, die einem örtlichen Schwarzbrenner auf der Spur waren. Am Schauplatz eines Verbrechens finden sie ein schreiendes Baby, das Ingersoll nicht zurücklassen will. Bei Dixie Clay Holliver, einer jungen Frau aus dem Ort, findet er ein Zuhause für das Kind. Die beiden mögen sich auf Anhieb, doch Ingersoll weiß nicht, dass Dixie Clay die beste Schwarzbrennerin des Landes ist und etwas mit den vermissten Ermittlern zu tun haben könnte.
S. A. Cosby – Blacktop Wasteland (Ars Vivendi)
Beauregard »Bug« Montage ist ein ehrlicher Automechaniker und liebender Familienmensch. Außerdem ist er von North Carolina bis Florida als bester Fluchtwagenfahrer der gesamten Ostküste bekannt. Bug saß aber lange genug im Gefängnis und weiß, dass er als Krimineller keine Zukunft hat. Als jedoch sein behutsam aufgebautes Familien- und Berufsleben aus finanziellen Gründen in Gefahr gerät, findet er sich schnell auf der schiefen Bahn wieder. Bei einem Banküberfall setzt er sich noch einmal hinters Steuer, weil er keine andere Wahl zu haben scheint, doch die Sache geht fürchterlich schief und bald hat Bug nicht nur die Polizei im Nacken, sondern auch Gegner, die völlig unberechenbar sind …
Eloisa Díaz – 1981 (Hofmann & Campe)
Buenos Aires 1981: Inspector Joaquín Alzada hat sich geschworen, auch in Zeiten der Militärdiktatur ein anständiger Mensch zu bleiben. Gemeinsam mit seiner Frau Paula führt er ein ruhiges Leben – bis eines Tages sein politisch unbequemer kleiner Bruder Jorge spurlos verschwindet.
Zwanzig Jahre später: Die Diktatur ist überwunden, und Alzada bereitet sich auf seinen Ruhestand vor. Doch dann wird nicht nur eine Leiche auf einer Müllhalde gefunden, sondern es verschwindet auch eine junge Frau aus einer der reichsten Familien der Stadt.
Alzada wird auf schmerzhafte Weise an seine dunkelsten Stunden erinnert – und entschließt sich, alles daran zu setzen, dass sich seine Geschichte, in der sich die Geschichte des ganzen Landes spiegelt, nicht wiederholt.
Sein Geld hat der spleenige Start-up-Unternehmer Gregory Hollister größtenteils in der Kryptowährung Bitcoin angelegt. Als er bei einem Unfall ums Leben kommt, beginnt die Suche nach seinem Privatvermögen. Das hat der paranoide Kalifornier gut versteckt. Wo befindet sich der digitale Schatz, den die Medien bereits Montecrypto nennen? Hollisters Witwe beauftragt den Privatdetektiv Ed Dante, das verschwundene Geld aufzuspüren. Dante recherchiert und stellt bald fest, dass etliche Personen hinter Montecrypto her sind. Das ist angesichts der kolportierten Summe von mehreren Milliarden Dollar nicht weiter verwunderlich – aber die anderen Interessenten sind keine gewöhnlichen Schatzsucher. Warum interessieren sich ausländische Geheimdienste, das FBI und die Mafia für den Schatz?
Neue Sachbücher
Will Hunt – Im Untergrund (Liebeskind)
Als Will Hunt sechzehn Jahre alt war, entdeckte er unweit seines Elternhauses in Rhode Island einen verlassenen Tunnel. Zusammen mit Freunden unternahm er seine erste Exkursion unter die Erde und war sofort fasziniert von diesem dunklen, fremden Teil der Welt. Seitdem hält er sich bevorzugt im Untergrund auf. In diesem Band beschreibt Will Hunt seine Entdeckungsreisen in die geschichtsträchtigsten Löcher der Erde. Im australischen Outback steigt er mit Aborigines hinab in eine Ocker-Mine, die über 35.000 Jahre alt ist. In South Dakota sucht er mit Mikrobiologen der NASA kilometertief nach Spuren frühzeitlicher Lebensformen. Mit Urban Explorern verbringt er Tage und Nächte in den Pariser Katakomben, und in Belize begibt er sich auf die Spuren der Maya, die von Höhlen besessen waren …
Über sechzig Jahre nachdem Virginia Woolf in der Ouse ertrunken ist, macht Olivia Laing sich an einem hellen Mittsommermorgen auf den Weg durch Südengland, um dem Lauf des magischen Flusses von der Quelle bis zur Mündung zu folgen. In von Kreidefelsen milchig-grün gefärbten Windungen, an Ufern auf dem Weg Richtung Meer sucht sie nach den Geheimnissen, die Flüsse tragen, verbergen, preisgeben.
Eine sündhaft teure Schwimmhalle versinkt im morastigen Grund. Ein Kirchturm beugt sich nach Fertigstellung „wie ein geknickter Phallus“. Vier Toiletten werden geplant – für 2400 Soldaten. 13 Architekten misslingt ihr Bauwerk. Alle 13 Architekten begehen Suizid, weil sie das Scheitern nicht ertragen. Die Lyrikerin Charlotte van den Broeck besucht diese 13 zeitgenössischen wie einige Jahrhunderte alten Gebäude, recherchiert, einer investigativen Journalistin gleich, Leben und Wirken der Architekten, die finanziellen und die gesellschaftshistorischen Umstände, unter denen die Projekte entstanden sind.
Bis heute gehört die südpazifische Inselgruppe Neukaledonien zu Frankreich. Um den kanakischen Unabhängigkeitskämpfer Alphonse Dianou, der dort bei einer vom französischen Militär blutig beendeten Geiselnahme ums Leben kam, ranken sich die widersprüchlichsten Legenden. Joseph Andras beginnt nachzuforschen, er reist an den Ort des Geschehens, trifft Dianous Witwe, Vertraute und Zeitzeugen. Seine Notizen, Gespräche und Begegnungen verbindet er zu einem augenöffnenden Text, der in den Kern eines hier kaum bekannten Konflikts dringt.
Valentin Gendrot – Bulle (Hoffmann & Campe)
Noch nie ist es einem Journalisten gelungen, die Polizei zu infiltrieren und aus erster Hand über Rassismus, Gewalt und Überforderung in ihren Reihen zu berichten. Valentin Gendrot lässt sich in nur drei Monaten zum Hilfspolizisten ausbilden, bekommt eine Waffe in die Hand gedrückt und muss fortan auf den Straßen des gefährlichsten Pariser Bezirks für Ordnung sorgen. Seine Kolleg*innen beleidigen und misshandeln migrantische Jugendliche, tauschen sich in rassistischen Chats aus und folgen auf der Straße ihrer eigenen Rechtsvorstellung. Gendrot lässt sich auf ihre Welt ein, deckt sie, wenn Straftaten im Amt vertuscht werden sollen, erfährt von fehlender Unterstützung vom Staat, schlechter Bezahlung und fehlender Achtung. Bis sich ein Kollege schließlich das Leben nimmt …
Dieses Jahr 2020 ist kein leichtes. Weder für uns Otto-Normalverbraucher, noch für Literaturvermittler*innen, Verlage und Buchhandlungen. Nun steht der zweite Shutdown, „Lockdown Light“ betitelt, bevor. Zwar haben Buchhandlungen, Bibliotheken und andere Einrichtungen weiterhin auf. Ein vergleichbares Geschäft wie im letzten Jahr ist in diesem Jahr allerdings nicht zu erwarten. Keine so guten Aussichten für die Buchbranche, wie ich finde.
Schon der erste Shutdown ging an die Substanz vieler Kulturmacher und -institutionen. Um nun die Verluste etwas aufzufangen, plädieren viele Buchhandlungen dafür, das Weihnachtsgeschäft etwas vorzuziehen und sich bereits jetzt mit Titeln zum Verschenken und Selberlesen einzudecken. Keine schlechte Idee, wie ich finde. So wird das Gewusel vor Weihnachten etwas entzerrt und man kann die Zeit vor Weihnachten hoffentlich besser genießen, anstatt sich gehetzt kurz vor Ladenschluss aus Verlegenheit ein Buch von Paulo Coelho oder Sebastian Fitzek einpacken zu lassen. Das kann ja auch niemand wollen. Und so habe auch ich mir Gedanken gemacht über das vergangene Buchjahr und daraus resultierende mögliche Geschenktipps. Das Ergebnis meines Nachdenkens ist diese Liste: die besten Bücher des Jahres, die man guten Gewissens verschenken kann und mit denen man nichts falsch macht. Ausführliche Besprechungen zu den Büchern gibts nach einem Klick auf die entsprechenden Cover.
Und ach ja – kauft bitte eure Bücher vor Ort. Kostet das gleiche, Nicht-Vorrätiges ist meist am nächsten Tag da und ihr unterstützt den Einzelhandel. Da ist euer Geld deutlich besser angelegt als in den Geldspeichern von Herrn Bezos!
Für Humorvolle
Ein bisschen lacheln und schmunzeln kann in dieser alles andere als leichten Zeit nicht schaden. Qualitativ hochwertige und witzige Lektüre ist in der deutschen Gegenwartsliteratur jedoch rar gesät. Gut, dass es Kristof Magnusson gibt. Denn ihm gelingt in Ein Mann der Kunst eine ausnehmend witzige, niveauvolle und wirklich unterhaltsame Kunstbetriebssatire. Ein Maler auf seiner Burg am Rhein, ein Kunstförderverein voller spleeniger Figuren und mittendrin ein Architekt, der unversehens zwischen Künstler und Kunstförderer gerät. Das sind die Zutaten für diesen gelungenen Roman, der in dieser alles andere als leichten Zeit für Ablenkung sorgt.
Für Naturfreunde
Wohl jeder kennt diese Frage nach der Schule: was soll ich danach machen? Studieren? Eine Ausbildung? Für Robert Appleyard in Benjamin Myers‚ Offene See stellt sich diese Frage gar nicht. Wie sein Vater soll er bald unter Tage einfahren. Die Geschichte ist nämlich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in England angesiedelt. Doch die Bergarbeit ist Roberts Sache nicht und so beschließt er, den letzten jugendlichen Sommer in Freiheit zu nutzen, um zum Meer an die englische Küste zu wandern. Dabei trifft er auf Dulcie, die in einem Cottage am Meer lebt und in Robert die Liebe zur Kultur weckt. Ein poetisches, romantisches und naturverliebtes Buch, das völlig zurecht als Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels 2020 ausgewählt wurde.
Für Fans komplexer Wahrheiten
Dass es mit der Wahrheit eine ganz schön komplexe Angelegenheit ist, das zeigt Angie Kim in ihrem Debüt Miracle Creek vortrefflich. In ihrem Gerichtsroman ist eine Mutter angeklagt, ihren Sohn und einige weitere Unschuldige umgebracht zu haben. Im kleinen Kaff Miracle Creek soll sie eine Katastrophe ausgelöst haben. Sie ist der Brandstiftung und des Mordes angeklagt. Sie soll eine Überdruckkammer angezündet haben, in der Kinder mit Autismus-Störungen behandelt wurden, darunter auch ihr eigener Sohn. Die Beweislage erscheint klar – die Wahrheit über die Ereignisse ist es allerdings überhaupt nicht. Schicht für Schicht legt Angie Kim die Lügen und Unwahrheiten aller Beteiligten frei, die schließlich zur Katastrophe führten. Klug montiert, geschickt erzählt und wahrlich spannend.
Für Nostalgiker
Wenn es ein verbindendes Element gibt, das Generationen von Kindern in den Bann gezogen hat, dann ist das wohl die Augsburger Puppenkiste. Die Inszenierung der Geschichten rund um Jim Knopf, Kalle Wirsch oder die Katze mit Hut sind legendär. Thomas Hettche blickt in seinem fantasievoll erzählten Roman auf die Gründung der Puppenkiste direkt nach dem Krieg. Er erzählt von Kriegstraumata, dem Wunsch, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und der Kunst des Puppenspiels. Hauptmotiv ist dabei der Herzfaden, der die Marionetten mit dem Puppenspieler selbst verbindet. Dieser Roman selbst besitzt auch einen Herzfaden, der ihn mit den Leser*innen verbindet.
Für Beziehungsmenschen
Oder eher nicht für Beziehungsmenschen? Das ist die Frage von Amity Gaiges Roman Unter uns das Meer. Dieses Buch zeigt ein Paar in der Krise, das für die eigenen Probleme einen unorthodoxen Lösungsansatz wählt. Man hat sich etwas auseinandergelebt. Da sind aber die eigenen Kinder. Außerdem war es früher ja deutlich besser – und so entschließt sich Juliets Mann Michael zu einem ungewöhnlichen Schritt. Er kauft ein Boot, auf dem er mit der Familie das nächste Jahr verbringen will. Die eigenen nautischen Kenntnisse sind beschränkt, aber Michaels Wille ist ungebrochen. Aus zwei Blickwinkeln erzählt Amity Gaige abwechselnd und zeigt so eine Beziehung und einen Schiffstrip in Untiefen. Beeindruckend und augenöffnend erzählt.
Für Gesellschaftsanalysten
Dieser Roman wirkt wie eine literaturgewordene Ansicht des Amerikas der Trump-Ära. Steph Cha zeigt in ihrem Roman Brandsätze zwei Familien, die sich gegenüberstehen und die doch durch ihre gemeinsame Vergangenheit miteinander verbunden sind. Da ist zum Einen die Familie Park, koreanische Einwanderer, die einen kleinen Laden betreiben. Und zum Anderen gibt es die Familie Matthews. Als die Mutter von Grace Park vor ihrem Laden niedergeschossen wird, erfährt diese, dass ihre Mutter auch einst jemanden niedergeschossen hat. Das Opfer kam aus der Familie Matthews…
Schicksale, die sich gegenseitig beeinflussen. Black Lives Matter, soziale Spaltung und die Kämpfe von sozialen Minderheiten. Steph Cha hat ein wertungsfreies Buch geschrieben, das schmerzlich gut in diese Zeit passt.
Das sind sie also, meine Verschenktipps für die kommende Zeit. Welche Bücher empfehlt oder verschenkt ihr? Lasst es mich gerne wissen!
Angesichts dieser Überschrift zunächst ein paar Worte vorweg. Damit wir uns nicht falsch verstehen: ich schätze Literatur über alle Maßen. Ich halte sie für sinnreich, aufklärend und in ihren besten Momenten für identitätsstiftend, wenn nicht gar befreiend. Wäre das anders, würde ich auch sicher dieses Blog hier nicht betreiben.
Ich würde mich durchaus als Literaturverfechter bezeichnen. Einer der Qualität, Relevanz und gutes Schreibhandwerk schätzt, Autor*innen kritisch begleitet und der sich auch bei rituellen Branchenspezifika wie etwa Buchmessen oder Preisverleihungen umtut. Literatur bereichert mein Leben und ich möchte sie nicht missen. Das schicke ich meinen Worten hier eindeutig voraus, um kein Missverständnis hinsichtlich des Folgenden entstehen zu lassen.
Literatur ist gesellschaftlich nicht relevant
Ich schätze Literatur sehr. Ich halte sie aber auch für weitestgehend wirkungslos. Wirkungslos in dieser Hinsicht, dass man Literatur auf eine Funktion in der Realität sublimieren möchte. Denn eine Instrumentalisierung von Büchern für bestimmte Anliegen und Zwecke ist zumeist so wirkungslos wie deplaziert.
Einmal mehr hat das die aktuelle US-Wahl eindrücklich gezeigt. Schon vor der Wahl Donald Trumps gab es zahlreiche Bücher, die seine Karriere und seinen Weg in die Politik beleuchteten. Seitdem sind Regalmeter um Regalmeter dazugekommen. Die meisten dieser Bücher sind sich in ihrer Ablehnung Donald Trumps und der Verdammung seiner Praktiken einig. Das reichte von medial breit besprochenen Titeln wie etwa den zwei Enthüllungsbücher von Reporterlegende Bob Woodward bis hin zu breit orchestrierten und in vielen Teilen der transatlantischen Leserschaft medial antizipierten Bestsellern wie etwa Feuer und Zorn von Michael Wolff. Nicht nur diese, sondern auch innerfamiliäre Enthüllungen wie etwa die von Trumps Nichte Mary Trump offenbarten die teilweise pathologische Großmannsucht, Lügen, Übertreibungen, fragwürdiges Geschäftsgebaren und Doppelzüngigkeit.
Nicht nur diese breit rezipierten Bücher ergaben ein vieldeutiges Bild des Präsidenten und seiner Verfasstheit. Auch literarisch irrelevante Werken wie die Insiderberichten von John Bolton oder James Comey fluteten den Büchermarkt und fanden großen Absatz. Für die (temporäre) Nachfrage ließ man in Deutschland teilweise die Übersetzer*innen im Dutzend und Akkord arbeiten, um dem öffentlichen (und natürlich auch wirtschaftlichen) Interesse möglichst rasch Genüge zu tun. Man kann also kaum sagen, dass das Themenfeld Donald Trump und dessen Abgründe auf dem Buchmarkt nicht abgebildet worden wäre. Es lag und liegt alles auf dem (Bücher-)Tisch
Keine Funktionieren der Literatur in der Realität
Und nun stellt sich heraus, dass trotz dieser dutzenden Aufklärungsbüchern und Insiderberichten im Übermaß dieser Präsident ohnegleich fast vor einer zweiten Amtszeit stehen könnte. Er hat neue Wähler erreicht, seine Basis ausgebaut und geht gestärkt aus vier furchtbaren Präsidentschaft hervor. Wirkungsvoller kann man die Irrelevanz der Literatur hinsichtlich gesellschaftlicher Prozesse und Entwicklungen nicht zeigen. Angewendet auf die Realität muss Literatur scheitern. Das geschriebene Wort, es vermag den Lauf der Dinge nicht wirklich zu beeinflussen, mögen auch gute Intentionen hinter diese Interpretation von Literatur verbergen.
Natürlich werden viele Sonntagsreden geschwungen und das Loblied auf die Literatur gesungen. Viele Preisverleihungen, Matineen oder Messeeröffnungen sind voller pathosgesättigter Worte, die immer wieder die These heraufbeschwören, Literatur könne uns und die Geschichte ändern. Ich finde sie allerdings reichlich wohlfeil.
Wie gering ihr Einfluss in Wirklichkeit ist, das hat diese US-Wahl und die Informationsfülle wieder einmal mehr gezeigt. Alles ist bekannt und publiziert – die meisten Menschen interessiert es allerdings nur peripher und/oder geht an ihrer Lebenswirklichkeit vorbei.
Auch hier in Deutschland lässt sich die Entwicklung beobachten. Mag die Realität die Literatur durchaus beeinfluss, so gilt das nicht umgekehrt. Während der mediale Raum für die Literatur schwindet und dem Buchmarkt die Buchkonsument*innen abhanden kommen, hält man an den Sonntagsreden fest und beschwört ein Bildungsbürgertum herauf, das sich so kaum mehr in der Gesellschaft findet.
Unentschiedene oder noch uninformierte Menschen, die sich ihr Urteil auf der Basis von Literatur bilden wollen, sie haben doch zumeist andere Quellen, aus denen sie sich eine Meinung bilden. Bücher und Kultur generell gehört meiner Einschätzung nach kaum dazu. Aber mit der gesellschaftliche Relevanz und Systemrelevanz für Kunst, Theater, Museen oder Literatur ist es dieser Tage eh nicht weit her.
Für einen realistischen Blick auf Literatur
Auch wenn es fast so klingt – ich möchte hier keinen Abgesang auf das Medium Buch oder die Literatur generell singen. Mir geht es alleine um einen realistischeren Blick auf die Literatur und ihre gesellschaftliche Wirkungslosigkeit.
Lasst uns weiter über Literatur reden, sie mit all ihren Möglichkeiten rühmen und preisen. Aber bitte schätzen wir ihre Wirkmacht auch konkret ein. Und diese tendiert doch eher gegen null.