Deniz Ohde – Streulicht

Von der Rückkehr an den Ort der Kindheit, vom schwierigen Kampf um Bildung und gesellschaftliche Anerkennung und von unsichtbaren Schranken erzählt Deniz Ohde in ihrem Debüt Streulicht. Endlich eine deutsche Antwort auf Didier Eribon, Annie Ernaux und Co.


Schon seit längerem machen es uns die Literat*innen aus Frankreich vor. Autor*innen wie Didier Eribon oder Annie Ernaux erkunden auf Grundlage ihrer eigenen Biografien Mechanismen und Schranken der Gesellschaft. Sie versuchen, über die eigene Geschichte (oder mithilfe von Autofiktion) die Bruchlinien und blinden Flecken der gesellschaftlichen Gegenwart zu erkunden. Im Falle von Didier Eribons Rückkehr nach Reims gelang dem Franzosen auch bei uns einer veritabler Bestseller. Darin setzt sich Eribon mit der Frage auseinander, warum in seiner Heimat nun so viele Menschen den Front National unterstützen und vom linken Spektrum ins rechte übergewechselt sind. Eine Analyse, die auch bei uns viele Leser*innen interessierte.

Oder etwa Annie Ernaux, die in ihren Werken anhand ihrer eigenen Biografie genaue Erkundungen des Milieus ihrer Eltern (Der Platz und Eine Frau) oder ihrer eigenen Sozialisation unternimmt. Mit wachsendem Erfolg wird die französische Autorin auch in Deutschland übersetzt und gelesen.

Deniz Ohde - Streulicht (Cover)

Bei aller Begeisterung für diese Werke stellte sich doch die Frage, warum man bei solch soziologisch grundierter Literatur eigentlich immer nur bei unseren Nachbarn fündig wurde. Das Interesse ist ja da, was nicht auch die Bestsellerplatzierungen der beiden Autor*innen zeigen. Nur deutsche Stimmen, die eine solche Art von Literatur schrieben, waren bislang nicht wirklich präsent. Bislang.

Denn mit Streulicht ist nun ein Roman zu entdecken, der genau hinschaut auf die Mechanismen und Ausschlusskriterien unserer Gesellschaft. Der den versteckten Rassismus genauso wie den offenen beleuchtet. Sich für die Verwerfungslinien unseres Miteinanders interessiert. Und der Klassismus, Identität und Herkunft erforscht und betrachtet. Dies gelingt der 1988 geborene Deniz Ohde, indem sie einmal mehr eine Heimkehrer-Geschichte erzählt.

Heimkehr an den Rande des Industrieparks

Die namenlose Erzählerin zieht es zurück an den Ort ihrer Kindheit, ihr Zuhause. Der Vater lebt noch, die Mutter ist schon verstorben. In dem trostlosen Haus, das sich Zuhause nennt, kehren die Erinnerungen zurück an ihre Kindheit und ihre Familie. Wie sie dort aufwuchs in der Siedlung hinter dem Industriepark, dessen Schlote und Rohre die ganze Silhouette der Stadt prägen. Dort, wo die meisten ihrer Mitmenschen in Lohn und Brot steht und auch ihr Vater schaffte, vierzig Jahre lang vierzig Stunden die Woche, Bleche in Lauge tauchte. Dort, wo der Industrieschnee an kalten Tagen auf alle Häuser niedersinkt und alles mit Asche und Grau überzieht. Und dort, wo der Park nachts glüht wie eine riesige gestrandete Untertasse und orangeweises Streulicht aus Neonröhren die Nacht hell macht (S. 14).

Dorthin kehrt die Erzählerin zurück und nimmt uns als Leser*innen mit in ihre Kindheit. Als sie mit Pikka und Sophia das Gebiet rund um die Chemiefabrik durchstreifte. Als sie in die Schule kam und an sich und den Lehrern scheiterte. Und wie sie trotzdem beharrlich gegen alle Wahrscheinlichkeiten zur Bildungsaufsteigerin wurde. Wie sie beschloss, beginnend mit einem Zeitabonnement, dass für sie trotz ihrer Herkunft (die Mutter stammt aus einem Dorf an der türkischen Schwarzmeerküste) trotzdem mit der Hauptschule nicht Schluss sein sollte. Dass ihr Name nicht ihre Karriere vorbestimmen sollte. Wie sie sich ihren Weg erkämpfte, durch alle Bildungsinstitutionen hindurch, von der Hauptschule bis zur Akademikerin. Davon erzählt Streulicht. Und das tut das Buch auf beeindruckende Art und Weise.

Vom unsichtbaren Rassismus

Das Buch erzählt aber auch von Rassismus, vom Gefühl, nicht dazuzugehören. Vom Gefühl, den einen Namen, der einen zum Ausländer macht, lieber zu verschweigen. Und von der Notwendigkeit, sich immer etwas mehr anstrengen zu müssen als die anderen.

Was sie nicht erzählen würde, wäre die Geschichte von meinem zwölften Geburtstag, als ich auf einem der Schultische einen Kuchen auspackte, den meine Mutter für die Klasse gebacken und in Alufolie eingeschlagen hatte. „Was ist das, ein Dönerspieß?“, hatte sie damals aus dem hinteren Ende des Raums gerufen und gelacht, dieses Lachen, das ich seitdem immer wiedererkenne, vor dem ich bis heute zurückschrecke, wie wenn man aus Versehen mit der Fingerspitze eine heiße Herdplatte streift, ein siebter Sinn. […]

„Das bildest du dir ein“, sagte Sophia. Es gäbe keine feindliche Gruppe, keine feindliche Umgebung. „Du nimmst die Dinge eben immer gleich persönlich“, sagte sie, und alle Anfeindungen glitten mir aus den Händen, glitten an der verspiegelten Scheibe herab und rutschen langsam zu Bode, wo sie kleben blieben wie zerkautes Zellophan. Jede Anfeindung spielte sich zwischen den Zeilen ab und war immer schon wieder verschwunden, wenn ich sie ansprechen wollte.

Ohde, Deniz: Streulicht, S. 123 f.

Fazit

Damit passt dieses Buch auch sehr gut in diese Zeit, in der die Debatten über Rassismus und Chancengerechtigkeit leider viel zu oft im Nichts versanden. Streulicht erzählt uns, wie es ist, wenn man nicht so wirklich dazugehört und sich seinen Platz im Leben gegen Widerstände erobern muss. Sein genauer Blick auf die Mechanismen unserer Gesellschaft und das Bildungswesen zeichnen das Buch dabei aus.

Dass das Buch nun auch selbst ausgezeichnet wurde, und zwar mit einer Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises, das ist nur folgerichtig. Denn Ohdes Buch ist präzise in seiner Beschreibung unserer Gesellschaft. Der Blick in die Unterschicht und das moderne Industrie-Proletariat überzeugt. Genauso schafft sie es, den Weg einer Bildungsverliererin hin zu einer -gewinnerin plausibel zu erzählen, auch gerade durch die Nicht-Verhaftung an Realien, die das ganze Buch kennzeichnet. Für mich ist Streulicht ein Kandidat für die Shortlist des Buchpreises. Gerade auch, da das Buch eben eine deutsche Antwort auf die eingangs erwähnten (zumeist) französischen Autoren ist.

Weitere Meinungen zum Buch gibt es hier: Hubert Winkels schreibt in der SZ über Ohdes Buch. Auch im Deutschlandfunk wurde Streulicht besprochen und zwar hier. Die taz widmete dem Buch ebenfalls eine Besprechung.


  • Deniz Ohde – Streulicht
  • ISBN: 978-3-518-42963-1 (Suhrkamp)
  • 284 Seiten. Preis: 22,00 €

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Iris Wolff – Die Unschärfe der Welt

Als letzten Dienstag die Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises verkündet wurde, fand sich auch dieses Buch auf der Liste: Iris Wolff mit ihrem Roman Die Unschärfe der Welt. Eine fragmentarisch erzählte Geschichte einer Banater Familie, die ich persönlich nicht auf der Liste erwartet hätte.


Denkt man an die Region des Banat beziehungsweise an Banater-Schwaben, dann sind es die Namen der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller und Richard Wagner, die wohl die prominentesten Vertreter*innen der Literatur dieses Landstrichs sind. Ein Gedicht Richard Wagners ist auch Iris Wolffs Roman vorangestellt. Wie der 1952 geborene Wagner stammt auch Iris Wolff aus dem Banat. 1977 wurde sie in Hermannstadt in Siebenbürgen geboren, zog jedoch 1985 mit ihrer Familie aus Rumänien nach Deutschland. Heute lebt und schreibt die Autorin in Freiburg im Breisgau.

Von der Frage der Heimat

Die Umkreisen der Frage der Heimat, es ist ein Thema, das auch ihrem neuen Buch zugrunde liegt. Von der Entfremdung und der doch stets präsenten Anziehung der Heimat erzählt ihr Buch, das sich aus sieben Kapiteln zusammensetzt. In jedem der Kapitel steht eine andere Figur im Mittelpunkt, die sich jedoch alle um die Familie von Samuel gruppieren. Sein Vater Hannes ist Pastor im Banat, seine Frau Florentine kümmert sich um Haus und Hof. Ein solch gastfreundliches Haus wie das der Eltern Samuels erregt natürlich Aufmerksamkeit, besonders die Securitate interessiert sich für das Treiben im Pfarrhaus.

Iris Wolff - Die Unschärfe der Welt (Cover)

Später wird Samuel spektakulär die Flucht in den Westen bis nach Deutschland antreten. Die Heimat wird er und die Heimat wird ihn aber nie so wirklich los. Spätestens nach dem Fall der Mauer zieht es den jungen Banater-Schwaben wieder in seine rumänische Heimat, wo er feststellen muss, dass man die Vergangenheit nicht einfach hinter sich lassen kann.

Iris Wolff hat ein Buch geschrieben, bei der die titelgebende Unschärfe wirklich Programm ist. Denn dieses Prinzip der Unschärfe ist für ihr Erzählen maßgeblich. So wechselt sie in jedem der sieben Kapitel die Erzählfigur, wodurch manchmal Irritationen ausgelöst werden, bis sich im Laufe des Kapitels die Bezüge zu den bislang eingeführten Figuren ergeben. Die Figuren werden hierbei nur skizziert, in kurzen, aber entscheidenden Momenten gezeigt. Sie bleiben eben unscharf. Das Buch besticht nicht wirklich durch eine genaue Figurenzeichnung, dafür ist auf den etwas mehr als 200 Seiten zu wenig Raum.

Auch für die genauen politischen Hintergründe oder eine genaue Verortung in einen Zeit- und Ortsgefüge interessiert sich die Autorin weniger. Vielmehr liegt der Fokus auf der flüchtig erzählten Familiengeschichte, deren Schicksal symptomatisch für viele andere Schicksale von Banater-Schwaben ist.

Sprachlich schwierig

Sprachlich stehe ich dem Buch etwas indifferent gegenüber. Denn Iris Wolff gelingen mitunter wirklich schöne Sätze und Aphorismen sowie genaue Beobachtungen. Dem stehen aber auch Passagen und Satzperioden entgegen, die für mich nicht nur am Kitsch entlangschrammen, sondern ausgiebig in ihm baden. Beispielsweise seien hier zwei Passagen kurz angeführt:

Er strich über die Zehen, die glatte Haut der Ferse, die Waden, die etwas von der Zeit bewahrt hatten, da Samuel ein Säugling gewesen war. Etwas blieb immer erhalten, erlaubte einen langsamen Abschied, Die Weichheit, die Glätte, das Zartgliedrige, Florentine nahm wahr, dass Bene diese Empfindungen nicht suchte, er nahm sie beiläufig auf, während er vorlas.

Wolff, Iris: Die Unschärfe der Welt, S. 25

Oder hier noch folgendes Beispiel:

Sie zog die Decke bis unters Kinn. Samuel hatte, ohne es zu wissen, die Landkarte ihres Körpers für sich eingenommen, und wenn es etwas gab, wofür sie an diesem Abend dankbar war, dann, dass dieser Atlas unsichtbar war.

Wolff, Iris: Die Unschärfe der Welt, S. 101

Solche Passagen ließen mich etwas mit dem Buch fremdeln, dass ansonsten doch eine Familiengeschichte bietet, die einer durchaus elegant skizzierten Aquarellzeichnung gleicht. Interessant montiert, für mein Empfinden allerdings nicht unbedingt buchpreiswürdig.

Das sieht auch Katharina Herrmann auf ihrem Blog Kulturgeschwätz so. Inzwischen wurde der Roman noch für einige weitere Buchpreise nominiert. So ist Iris Wolff neben dem Deutschen Buchpreis nun auch für den Bayerischen Buchpreis sowie den Wilhelm Raabe-Preis nominiert.


  • Iris Wolff – Die Unschärfe der Welt
  • ISBN: 978-3-608-98326-5 (Klett-Cotta)
  • 215 Seiten. Preis: 20,00 €
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Sorj Chalandon – Wilde Freude

Von einer niederschmetternden Diagnose, einem riskanten Plan und einer Frauenfreundschaft erzählt der französische Schriftsteller Sorj Chalandon in seinem neuen Roman „Wilde Freude“ (Originaltitel „Une Joie féroce“, Deutsch von Brigitte Große).


Es ist eine Diagnose, die ein ganzes Leben auf links dreht. Bei einer Untersuchung stellt der Arzt der Buchhändlerin Jeanne die Diagnose Krebs. Eine Chemotherapie muss schnellstmöglich begonnen werden. Nicht nur ihr Körper wird dabei an die Grenzen der Belastbarkeit geführt. Auch die Beziehung zu ihrem Partner überlebt diese Diagnose nicht. Schon einmal stand die Beziehung kurz vor ihrem Ende, als das gemeinsame Kind starb. Und nun ist die Partnerschaft mit Jeannes Mann endgültig an ihrem Ende angekommen.

Sorj Chalandon - Wilde Freude (Cover)

Allerdings findet die Buchhändlerin schon bald eine andere Form der zwischenmenschlichen Beziehung. Bei der Chemotherapie macht sie die Bekanntschaft mit drei Frauen. Da sind Brigitte und Assia, die in einer luxuriösen Pariser Wohnung zusammenleben. Die dritte im Bunde ist Eva, deren Schicksal auch Jeanne eingedenk der eigenen Biographie sehr anrührt. So hat Evas Partner ihr gemeinsames Kind entführt. Er verlangt von ihr eine Auslöse von 100.000 Euro, damit sie ihr Kind wieder in die Arme schließen kann.

Doch woher sollte man 100.000 Euro bekommen? Die vier Frauen schmieden einen riskanten Plan. Und plötzlich gibt es eine eigene französische Version von Thelma & Louise, diesmal allerdings zu viert.

Zwischen Krebsdiagnose und Polar noir

Es ist eine außergewöhnliche Mischung, die den Reiz von Wilde Freude ausmacht. So kombiniert Sorj Chalandon in diesem Roman ein Frauenschicksal mit Elementen aus dem Polar-Noir á la Jean-Patrick Manchette und einem klassischen Heist-Roman. Der Roman oszilliert zwischen Mitgefühl für Jeannes Schicksal und der Spannung eines geplanten Raubüberfalls. Wie es Chalandon hier schafft, bei einer Laufzeit von gerade einmal 288 Seiten diese Elemente glaubhaft zu verquicken und auch noch einen überraschenden Twist einzubauen, das ist beeindruckend.

Toll, wie er auf wenigen Seiten das Schicksal von Jeanne, ihre Zweifel und Kämpfe und Belastungsproben schildert. Bei diesem Roman komme ich zum selben Urteil, die am 9. August des letzten Jahres die vier Kritiker*innen des damaligen Literarischen Quartetts fällten. So rühmten sie die Fähigkeit Chalandons, Charaktere im Spannungsfeld von Gut und Böse zu zeichnen, mitreißend zu erzählen und Anteilnahme für die Figuren zu erwecken. Das 4:0 vom damals besprochenen Am Tag davor würde man Chalandon auch in diesem Falle wieder wünschen. Denn wie er in die Haut seiner Heldin schlüpft, Spannung serviert, die Leben der vier Frauen skizziert und überrascht, das hat Klasse.

Hier schreibt ein wirklicher Könner (der ebenso könnerhaft von Brigitte Große übersetzt wurde)!


  • Sorj Chalandon – Wilde Freude
  • Aus dem Französischen von Brigitte Große
  • ISBN 978-3-423-28237-6 (dtv-Verlag)
  • Preis: 22,00 €, 288 Seiten

Bild Sorj Chalandon: Par S. Veyrié — Travail personnel, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17536422

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42 Grad und es wird noch heißer

Wolf Harlander – 42 Grad

36 Grad und es wird noch heißer, so geht der Refrain des Sommerhits von 2Raumwohnung. Was aber, wenn es wirklich noch heißer wird und keine Abkühlung in Sicht ist? Dieses Szenario entwickelt Wolf Harlander in seinem Öko-Thriller 42 Grad. Der Journalist skizziert in seinem Buch den kurzen Weg von der Ordnung ins Chaos. Blockbuster-Literatur mit Schwächen, aber durchaus auch Realitätsbezug.


Was passiert eigentlich, wenn es in Deutschland immer heißer wird? Wenn der Klimawandel fortschreitet und die Wasserversorgung nicht mehr gewährleistet werden kann? Aus dieser Prämisse heraus ist 42 Grad entstanden. Darin erzählt Harlander von einem Hitzesommer, der ganz Europa in die Knie gehen lässt. Ausgangspunkt sind die Erlebnisse mehrerer Figuren über ganz Deutschland verteilt.

Da ist ein Hydrologe, der bei einem Unfall auf der Autobahn nahe Freiburg ein gefährliches Absinken des Grundwasserspiegels bemerkt. Eine Datenanalystin, die bei ihren Recherchen feststellt, dass Europa auf eine dramatische Wasserknappheit zusteuert. Ein Spezialist für Wasserversorgung, der zu mehreren mysteriösen Zwischenfällen in Wasserwerken in Nizza, Dresden und anderswo beordert wird. Oder ein THW-Mitarbeiter, der es mit einer Reihe gefährlicher Waldbrände zu tun bekommt. Alle diese Figuren müssen schnell feststellen, dass da etwas in Deutschland und in der ganzen Europäischen Union vorgeht, das die Gesellschaft an den Rand des Kollaps zu bringen droht.

Eine Ökothriller in der Tradition von Elsberg und Co.

42 Grad ist ein Öko-Thriller in der Tradition von Marc Elsberg und Andreas Eschbach. Während sich diese beiden Autoren mit dem Verschwinden des Stroms (Marc Elsberg Blackout) oder dem Ende des Benzins (Andreas EschbachAusgebrannt) beschäftigten, ist es nun bei Harlander eben das Wasser, das verschwindet. Wie schnell ein solcher Mangel eine Gesellschaft ins Chaos stürzt, das exerziert der Journalist hier durch.

Wolf Harlander - 42 Grad (Cover)

Seinen beruflichen Hintergrund als Journalist kann er dabei allerdings nicht verbergen. Dieser scheint in vielen Erklärdialogen zu den Themen Wasseraufbereitung, Gesteinsschichten oder Funktionsweisen von Wasserkraftwerken auf. Auch sind die Figuren doch holzschnittartig geraten und sind eher Funktionsträger, denn wirklich glaubhafte Figuren. Die Handlung und der Plot stehen im Vordergrund, eine plastische Skizzierung des Personals fällt da hintenüber. Hacking löst alle Probleme und trotz geschlossener Grenzen zu reisen oder unterzutauchen ist im Buch auch kein großes Problem. Ebenso verweisen die klar gezogenen Fronten zwischen Gut gegen Böse in ihrer Schematik auf den klar auf Unterhaltung und Effekt angelegten Charakter des Buchs.

Es ist ja eine starke Grundidee, die 42 Grad zugrundeliegt. Durch die arge Schablonenhaftigkeit von Plot und Figuren wird diese Idee leider etwas gemindert. Persönlich hätte auch auf die angelegte Liebesgeschichte, den Terrorismus-Twist oder die so manches Mal an ein B-Movie erinnernde Action und Dialoge im Buch nicht gebraucht. Da man bei der Lektüre von Harlanders Thriller aber wirklich etwas lernt und gut sich auch Bezüge zur Gegenwart in Pandemiezeiten ergeben, sei dieses Buch allen Spannungsfans mit Einschränkungen empfohlen. Nur ein Glas Wasser sollte man sich während der Lektüre besser neben den Stuhl im Schatten stellen. Man wird es brauchen.


  • Wolf Harlander – 42 Grad
  • ISBN: 978-3-499-00046-1 (Rowohlt Polaris)
  • 528 Seiten. Preis: 15,00 €
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Thilo Krause – Elbwärts

Von der Heimkehr in die ostdeutsche Provinz, von der schwierigen Vaterrolle und von einer bedrohlichen Flut: Thilo Krause in Elbwärts über die späte Aufarbeitung der eigenen Kindheit.


Der Rückzug in die ostdeutsche Provinz als Handlungsort für die Aufarbeitung der eigenen Kindheit – er hat in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Konjunktur. Neben ellenlangen Titeln ist diesen Büchern eine recht ähnliche thematische Gemengelage zueigen. Medial breit (und etwas am Thema vorbei) besprochen wurde zuletzt Lukas Rietzschels Debüt Mit der Faust in die Welt schlagen. Auch Manja Präkels Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß wäre in dieser Reihe zu nennen, das 2018 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde.

Und nun legt der in Zürich lebende Lyriker Thilo Krause einen weiteren Roman vor, der sich nahtlos in das Strickmuster der obigen Romane einpasst. Zwei Freunde, die in der ostdeutschen Provinz (hier in der Sächsischen Schweiz) aufgewachsen sind. Eine schleichende Entfremdung, ein Wegzug des erzählenden Protagonisten. Nun eine Rückkehr an den Ort der Kindheit. Die Konfrontation mit der eigenen Geschichte, das Offenlegen der Brüche in der eigenen Biografie und der Versuch der Ergründung, was da so alles schiefgelaufen ist. Im eigenen Leben, in dem der Freunde und vor Ort, wo meist die Themen Landflucht, der Niedergang der Wirtschaft und das Erstarken von Neonazis dominieren.

Diesen Musters bedient sich auch Elbwärts. Dabei ist Krauses Erzähler einer, der in der erzählten Gegenwart für mich merkwürdig schwammig bleibt. Er hat zusammen mit seiner Frau Christina und „Der Kleinen“ ein altes Haus in seinem Heimatort bezogen. Im Garten rauschen die Obstbäume, drunten im Dorf die Elbe. Einen Job hat er keinen, vielmehr streift er barfuß durchs Dorf und die umliegenden Wälder. Seine Frau renkt die Knochen und Wirbel der Dorfbewohner ein, er bringt die gemeinsame Tochter in den Kindergarten. Trotz des beschaulichen Aufgabenumfangs ist er dieser Aufgabe allerdings nicht gewachsen. Er vergisst die Tochter im Kindergarten, während er die Wälder und Gesteinsformationen durchstreift und beklettert. Immer wieder imaginiert er sich bei diesen weltvergessenen Ausflügen zurück in seine Kindheit.

Erinnerungen an eine Kindheit in der Sächsischen Schweiz

Von dieser erzählt Krause mithilfe von Rückblenden. Von Vito, seinem besten Freund damals, mit dem er die Berge der Sächsischen Schweiz erklomm. Mit dem er sich die Zeit bei den Pionieren vertrieb oder Kaulquappen aus dem örtlichen Teich rettete. Und davon, wie Vito sein Bein verlor. Wie dieser blieb. Und wie sich der Erzähler davonmachte, weg von diesem Ort, der mit so vielen Erinnerungen versehen ist.

Thilo Krause - Elbwärts (Cover)

Nun ist er wieder da. Entzweigerissen vom Wunsch nach Kontakt mit Vito und der Angst genau davor. Er durchwandert die Wälder, philosophiert mit dem tschechischen Busfahrer und versteckt sich vor den Neonazis, die in den Wäldern ihre Lager abhalten. Während er in der Natur wie in seinem Element scheint, entgleitet ihm sein Familienleben aber zusehends. Und dann ist da auch noch die Elbe, die anschwillt und nicht nur viel Wasser mit sich führt, sondern auch die Verhältnisse vor Ort durcheinanderwirbelt.

Elbwärts ist im Kern ein nostalgisches Buch, das noch einmal die Gefährlichkeit einer Kindheit in der Provinz heraufbeschwört. Damals, als man ganze Nachmittage nur mit seinem besten Freund Abenteuer erlebte. Als die Eltern nicht wussten, wo man sich herumtrieb und in welche Gefahren man sich begab. Und demgegenübergestellt die Frage nach Vaterschaft heute.

Dabei arbeitet Krause die ganzen Paradoxien im Wesen des Erzählers (und damit in fast aller unser Wesen heraus). Früher durchlebte man diese Abenteuer, setzte sich und anderen beim Spielen großer Gefahren aus und berauschte sich daran. Eine solche Gefahr würde man seinen eigenen Kindern heute freilich verbieten. Auch der Erzähler würde es kaum zulassen, dass sich seine Tochter jemals in eine solche Lage brächte, wie er es tat.

Im Gegenteil, er überbehütet sein Kind fast, nimmt es extra aus der Kindergartengruppe heraus, um mit ihm zu Mittag zu essen. Dann aber wieder vergisst er die Schließzeiten der Kita, schläft beim Klettern ein. Eine widersprüchliche Figur, schwankend irgendwo zwischen Nostalgie, dem Wunsch nach Versöhnung und einer Depression. Die Frage nach Vaterschaft verhandelt Elbwärts auf interessante (und manchmal anstrengend) Art und Weise.

Bildstarke Prosa von Thilo Krause

Gesellschaftlich ist Elbwärts wohl wenig relevant beziehungsweise kann außer den eingangs bereits abgesteckten Themenfelder wenig Neues erzählen. Für die Situation vor Ort interessiert sich der Erzähler nicht wirklich. Er versteht auch die Bewohner vor Ort nicht und umgekehrt. Das gesellschaftliche Setting ist hier einfach gesetzt (und schon vorher ähnlich behandelt worden). Vom Land und von der Zeit erzählt Elbwärts in meinen Augen weniger, wenngleich das der Klappentext suggeriert.

Malerisches Vorbild: Caspar David Friedrich

In der Zeichnung der widersprüchlichen Figur des Erzählers hingegen ist Krause stark, genauso wie in puncto Sprache, in die das Buch gekleidet ist. So ist sein Erzählton von lokaler Verbundenheit geprägt (häufig etwa das regionale Verb krauchen). Seine Sätze sind zumeist kurz und präzise. Die voherigen lyrischen Veröffentlichungen merkt man dieser Prosa an. Seine Schilderungen der Felslandschaft und der darin erlebten Abenteuer lesen sich (unterstützt durch das tolle Cover) bildstark. Nicht zuletzt erzeugt das Krause auch dadurch, dass er das Kopfkino dadurch anwirft, indem er selbst auf die Romantik und Maler rekurriert, die ähnliche Beschreibungen wie er selbst schufen, allen voran Caspar David Friedrich.

Sprachlich ordne ich Elbwärts klar vor den Werken Rietzschels und Präkels ein. Und auch in Belang auf Vaterschaft, Nostalgie und Sehnsucht ist Krauses Buch in meinen Augen interessant. Für mich funktioniert die (wahrscheinlich bald wieder einsetzende) mediale Überformung dieses Romans hin zu einem Erklärbuch der ostdeutschen Zustände nicht. Was aber die sonstigen Aspekte des Werks angeht, ist das hier wirklich gut gemacht und hat mich überzeugt.


  • Thilo Krause – Elbwärts
  • ISBN 978-3-446-26755-8 (Hanser)
  • 208 Seiten, Preis: 22,00 €
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