Franziska Gänsler – Wie Inseln im Licht

Trauerarbeit an der Côte d’Argent. Franziska Gänsler schickt in ihrem zweiten Roman Wie Inseln im Licht eine junge Frau in ein Hotel an der Atlantikküste in Nordfrankreich, wo sie sich ihren Erinnerungen und der Verarbeitung des Todes ihrer Mutter stellt.


Im Westen Frankreichs gelegen ist die Cóte d’Argent ist ein Strandabschnitt, der sich von Soulac-sur-mer bis nach Biarritz an der französisch-spanischen Grenze zieht. Reiseführer apostrophieren diese Küste gerne mit den Schlagworten von ausgedehnten Sandstrände, duftenden Pinienwälder und spannenden Ausflugszielen.

Was sich so reichlich malerisch und nach einem Sehnsuchtsort anhört, ist bei Franziska Gänsler alles andere als idyllisch und pittoresk. Vielmehr hat sich die junge Zoey hier in ein Hotel zurückgezogen, um sich zu erinnern und den Tod ihrer Mutter zu verarbeiten.

Vier Tage ist der Tod her und nun wartet sie auf die Leiche der Mutter, die dorthin nach Südfrankreich überführt werden soll, um anschließen eingeäschert zu werden. Denn Zoey will die Asche ihrer Mutter dort verstreuen, wo sie zusammen mit ihrer Schwester Oda und der Mutter vor zwanzig Jahren einst Urlaub machten.

Zwischen Tod und Neubeginn

Franziska Gänsler - Wie Inseln im Licht (Cover)

Schwebend zwischen dem Wissen um den Tod ihrer Mutter, die Realisierung ihrer neuen Situation und der Ungewissheit alles Kommenden wartet sie nun dort an der Côte d’Argent auf das Eintreffen der Leiche. Passend zur Düsternis der inneren Verfasstheit Zoeys nimmt sich auch das ganze Setting dort in Südfrankreich außerhalb der Hochsaison aus.

Zwischen Möwenattacken, Regenschauern am Strand und der trostlosen Atmosphäre im Hotel beschäftigt sich Zoey viel mit den eigenen Gedanken und Erinnerungen. Eine enge Verknüpfung sind Dabei auch die Arbeiten und das Leben der US-amerikanischen Künstlerin Tracey Emin für die junge Frau.

Denn diese teilt nicht nur den Geburtstag mit ihrer Mutter, auch in ihrer Kunst und deren Schmerzen fand und findet sich Zoey immer wieder. Ursprünglich wollte sie sogar ihre Masterarbeit in Kunstgeschichte über die britische Künstlerin schreiben, dieses Projekt wich über die letzten drei Jahre der Pflege ihrer Mutter.

Trost mit Tracey Emin

Auch wenn sie sich in der Zwischenzeit von ihren akademischen Ambitionen verabschiedet hat, so lässt die Künstlerin und ihre Radikalität Zoey nicht los. Den Titel von Tracey Emins Arbeit aus dem Jahr 1994 Exploration of the Soul könnte man auch als programmatische Arbeit über diese Zwischenzeit stellen, in der sich Zoey nun befindet.

Ich war Teil eines bizarren Duos, jetzt bin ich eine bizarre Einzelheit. Allein, in diesem Zimmer am Atlantik, im bläulichen Licht, während draußen der Regen auf den Sand fällt. Ich warte auf den Transport der Mutter, und in mir liegen die Gedanken an sie wie ein Pool, in den ich eintauche, sobald es keine Ablenkung gibt.

Franziska Gänsler – Wie Inseln im Licht, S. 18

Während sie sich der Trauerarbeit dort im Hotel hingibt, drängen auch immer mehr verschüttete Erinnerungen ans Tageslicht. Das Zusammenleben mit ihrer Mutter, vor allem aber das Verschwinden ihrer kleinen Schwester Oda, die sie zuletzt dort an der Côte d’Argent auf dem Campingplatz vor zwanzig Jahren gesehen hat. Wohin ist ihre Schwester einst verschwunden und warum gibt es keine Spuren von ihr? Warum kann sie sich nicht mehr wirklich an das erinnern, was einst vor zwanzig Jahren an diesem Ort geschah, an den sie nun zurückkehrt

Während sie sich in schnellem Tempo durch die Trauerphasen arbeitet, beginnt Zoey auch vor Ort nachzuforschen. Recherchen im Zeitungsarchiv und Gespräche mit Menschen dort auf dem Campingplatz, wo auch Zoeys Mutter einst mit ihren Kindern den Urlaub verbrachte

Abschied von einem komplizierten Verhältnis

Wie Inseln im Licht beschreibt Trauerarbeit und den Abschied von einem komplizierten Verhältnis zweier Frauen. Parallel zum Verblassen der Mutter in Zoeys Leben schälen sich nun die Erinnerungen an die eigene Schwester und deren ungeklärtes Schicksal heraus. Diese Gegenläufigen Entwicklungen kombiniert Franziska Gänsler mit einer Liebesgeschichte, die sich dort im Hotel langsam entspinnt und die die Autorin gelungen einfängt.

Im Gespräch über ihr Schreiben und die erzählerische Idee hinter dem Roman gab Franziska Gänsler zu Protokoll, dass es ihr ein Anliegen war, dass dieser Roman aus dem Dunkel der Trauer ins Helle führt. Es ist ein Konzept, das aufgeht und das der Autorin in der Ausführung gelungen ist.

Beeinflusst auch von Kunstarbeiten wie Anne Imhof und ihrer Arbeit Untitled (Wave) oder der schon erwähnten Tracey Emin gelingt es diesem Roman, stimmige Bilder für die Trauer und deren Verarbeitung zu finden. Neben aller Schwere der erlebten und erinnerten Verluste findet auch Humor ins Buch, etwa von der eigenen Mme. Future, die als Wahrsagerin aus dem Campingwagen heraus auf Social Media reüssiert und trotzdem vom Wunsch nach mehr Reichweite getrieben ist

Die Sprache ist zurückgenommen und präzise gesetzt. Mit diesem gekonnten Einsatz ihrer erzählerischen Mittel benötigt Franziska Gänsler dann tatsächlich auch nur 200 Seiten, um ihre Geschichte eindrucksvoll zu gestalten und zu präsentieren.

Fazit

So ist Wie Inseln im Licht ein Trauerbuch, das neben aller Schwere aber auch Platz für Neues im Leben von Zoey findet. Eine stimmungsvolle Schilderung einer tristen Côte d’Argent, ein tiefes Eintauchen in die Psyche ihrer Figur und nicht zuletzt einfach ein gut gemachtes Stück deutsche Gegenwartsliteratur.

Mit ihrem Roman schafft Franziska Gänsler die Anschlussfähigkeit an eine jugendliche Leserschaft bis hin zu einem erwachsenen Publikum. Sie erschafft, wenn man so will, vom Ton und Thema her eine Brücke von adoleszenter zu erwachsener Literatur. Es ist eine Brücke, die von Trauer zu Trost, von Ernst zu einem versöhnlichen Blick, von Sterben zu Neubeginn führt. Was kann einem Buch mehr gelingen?


  • Franziska Gänsler – Wie Inseln im Licht
  • ISBN 978-3-0369-5034-1 (Kein & Aber)
  • 208 Seitne. Preis: 23,00 €
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José Falero – Supermarkt

Serien über Drogenhändler*innen gibt es wie Sand am Meer. Neben ehrfürchtigen Biopics über Größen wie Pablo Escobar oder Griselda Blanco sind solche Drogendealergeschichten auch oftmals welche, die die Wandlung von zumeist Jedermännern hin zu Dealergrößen nachzeichnen. Von How to sell drugs online fast bis hin zum wahrscheinlich bekanntesten Beispiel Breaking Bad, das den Weg vom krebskranken Chemielehrer Walter White hin zum gefürchteten Drogenbaron mit dem Pseudonym Heisenberg nachzeichnet. Nun hat der Brasilianer José Falero einen Roman geschrieben, der einmal mehr einen solchen Wandel von Zero to Hero nachzeichnet, diesmal in Brasilien, wo zwei Männer ausgehend von ihrem Job im Supermarkt zu Drogenhändlern werden.


José Falero siedelt seinen Roman im brasilianischen Porto Alegre an. Dort tun in einer Kette des Fênix-Supermarktes die beiden Angestellten Pedro und Marques ihren Dienst. Beiden gemein ist, dass sie aus armen Verhältnissen stammen und es trotz ihrer Arbeit bislang nicht viel weiter gebracht haben in ihren jeweiligen Leben. Kleine Diebstähle des supermarkteigenen Bestandes haben sie perfektioniert, aber eine wirkliche Verbesserung ihres gesellschaftlichen Status und ihrer finanziellen Lage ist nicht in Sicht.

Als Marques‘ Frau ihm eröffnet, dass sie erneut schwanger ist, tun sich die beiden Männer mit einem recht simplen Plan zusammen. Zwar ist die Gegend, in der sie leben, in puncto Drogen bereits sehr gut versorgt. Allerdings wird das Cannabis-Segment aus Gründen der Unrentabilität von keiner der rivalisierenden Banden in ihrem Viertel wirklich bedient. In diesem Marktlücke sehen die beiden Männer ihre Chance.

Joint Venture

José Falero - Supermarkt (Cover)

Und so klären sie mit den rivalisierenden Drogenbanden ab, dass sie ihnen mit ihrem Grasgeschäft nicht in die Quere kommen wollen, organisieren sich komfortabel per Bote geliefert die erste Ladung an Cannabis und beginnen ihr im wahrsten Sinne des Wortes Joint Venture

Bekannte werden zu Verteilern ihrer Drogen und insgesamt hat das Ganze den Charakter eines hemdsärmeligen Startups. Ihre Geschäftsbesprechungen halten sie im Schwimmbad ab, zur Tarnung arbeiten die beiden nach wie vor im Supermarkt und rekrutieren von dort auch ihr Personal. Doch wie das so ist im Drogengeschäft ist – wo der Erfolg ist, da lauert auch die Gefahr. Und schon bald müssen auch Pedro und Marques feststellen, dass das Drogengeschäft ein tödliches Business sein kann.

Aufstieg und Fall von Drogenhändlern

Supermarkt zeichnet recht geradlinig und wenig überraschend den Weg nach, den in der Popkultur die meisten Drogenbarone nehmen. Der Aufstieg aus einfachen Verhältnissen, die Skalierung ihres Drogenbusinesses bis hin zum brutalen Fall, das alles ist der schon fast archetypische Entwicklungsbogen, den auch José Falero hier bedient.

Die mäßige Originalität wird durch den Job der beiden Männer im Supermarkt und den Einblick in ihre Lebenswelt in Porto Alegre ein Stück weit wieder aufgefangen.

Was aber bei Supermarkt, der in Brasilien mit über 40.000 verkauften Exemplaren zum Überraschungerfolg avancierte, in meinen Augen wirklich nachteilig ins Gewicht fällt, ist das manchmal arg erdrückende Dozieren, in die vor allem Pedro immer wieder verfällt. Seine monologisierende Kapitalismuskritik, die er Marques seitenlang darlegt oder die akribische Darstellung des Geschäftsplans, wie man das Geschäft mit den Drogen immer größer aufziehen kann, sie wirken eher wie Exkurse aus einem Sachbuch denn ein schneller Roman über einen schnellen Aufstieg der beiden Amateuer-Escobars.

Fazit

Wer sich davon nicht schrecken lässt, der bekommt mit Supermarkt eine Erzählung zweier Nobodys im Drogenbusiness, das den Bildungsweg der Protagonisten von einfachen Supermarkmitarbeitern mit krimineller Energie hin zu erfolgreichen Dealern in Porto Alegre nachzeichnet. Zwar erfindet José Falero mit dieser Drogengeschichte das Rad nicht neu, liefert aber mit Abstrichenen einen soliden Roman ab, der sich von den vielen anderen Aufstiegserzählungen im Drogengeschäft zuvorderst durch seinen Handlungsort unterscheidet. Ansonsten klare Genreunterhaltung, die von Nicolai von Schweder-Schreiner aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt wurde.


  • José Falero – Supermarkt
  • Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner
  • ISBN 978-3-455-01662-8 (Hoffmann und Campe)
  • 320 Seiten. Preis: 25,00 €
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Robbie Arnott – Limberlost

Literatur aus Tasmanien findet sich gar nicht so häufig in den hiesigen Buchläden. Richard Flanagan dürfte der bekannteste Vertreter der Literaturszene auf der australischen Insel sein. Doch mit Robbie Arnott hat der Berlin-Verlag nun einen weiteren Vertreter aus Down Under in seinem Portfolio. Dieser macht mit seinem deutschsprachigen Debüt Limberlost gleich einmal auf sich aufmerksam.


Limberlost, so heißt jene Plantage, auf der der junge Ned West aufwächst. Seine beiden großen Brüder Bill und Toby sind verdingen sich als Rekruten irgendwo im Zweiten Weltkrieg. Da zu jung, ist Ned der einzige männliche Spross, der zusammen mit seiner Schwester Maggie bei seinem Vater auf der Plantage zurückgeblieben ist.

Während der schweigsame Vater mit dem Ertrag der Apfelplantage kämpft, durchstreift Ned die paradiesische Natur Tasmaniens, die vor seiner Haustür beginnt. Dabei treibt ihn ein bestimmtes Ziel an. Denn seit er im Alter von fünf Jahren von einem Wal hörte, der im nahegelegenen Fluss für Zerstörung und vor allem viel Gerüchte gesorgt hatte, ist er von der Welt des Wassers fasziniert. Mit einem eigenen Boot könnte er den Fluss vor der Haustür bereisen, selbst auf Fahrt gehen und so dem Trott zuhause entfliehen.

Der Traum vom eigenen Boot

Robbie Arnott - Limberlost (Cover)

Doch für einen Jungen mit keinem nennenswerten Einkommen liegt der Traum eines eigenen Boots natürlich in weiter Ferne. Doch Ned ist erfinderisch und beginnt, die Kaninchen zu jagen, die das Gelände um die heimische Farm zu Hunderten bevölkern. Er wird zu einem geschickten Jäger und Fallensteller, der die Kaninchen erlegt, um ihre Felle dann einem Krämer im nahegelegenen Beaconsfield im Norden der Insel zu verkaufen. Aus den Fellen werden Mützen für die Soldaten im Zweiten Weltkrieg – und Ned erhält für die abgenommenen Felle ein Honorar, das er eisern spart, um seinem Traum so näherzukommen.

Limberlost erzählt die Geschichte eines Sommers, der an einigen Stellen von Rückblenden des Lebens des erwachsenen Ned durchbrochen wird. Es ist ein Sommer, in dem Ned an der Schwelle vom Jungen zum Mann steht, was auch durch die Rückblenden so noch einmal betont wird. Dadurch fällt Arnotts Roman in die Gattung des klassischen Coming of Age Novels.

Genauso ist sein Roman aber auch eine Feier der überwältigenden Schönheit der Natur Tasmaniens, die Arnott ebenso vorzüglich wie seine Landsmänner Richard Flanagan oder auch Kyle Perry in Prosa zu bannen weiß (die Nikolaus Hansen ins Deutsche übersetzt hat):

ein Wald voll großer Farne und heller Pilze, mit ebenem Boden und dickstämmigen Bäumen, klaren Bächen und kühlem Schatten, ein Wald von unergründlichen, geheimnisvollen Tiefen. Ein Ort mit dunkeläugigen Wallabys und feistgesichtigen Possums und flackernden Zaunkönigen und adlergroßen Raben und vorstellbaren Mengen von Kaninchen. Ein Ort, so gänzlich anders als Weideland, Flusslandschaft und Obstplantagen, dass Ned, als er anfing, sich seinen Weg durch diese Natur zu bahnen, die belaubte Erde hinter sich ließ und jener Version der Welt, wie er sie kannte, entschwebte.

Robbie Arnott – Limberlost, S. 98

Blut und Sonnenschein

Dass dieses Buch allerdings keineswegs die Verklärung einer Kindheit oder einer unberührten, romantischen Naturidylle ist, das macht Arnott auch klar. Wenn es in einer Passage des Buchs heißt, dass Blut und Sonnenschein Neds Tage erfüllten, dann bringt das auch die Programmatik dieses Romans gut auf den Punkt. Denn neben der jugendlichen Begeisterung für das Boot und das Tom Sawyer-artige Durchstreifen der Landschaft erzählt Limberlost auch von den Brüchen, von der Allgegenwart des Todes, etwa in Form des blutigen Handwerks der Kaninchenjagd oder des aus der Ferne grüßenden Geschehens auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs.

So muss Ned im Lauf seines Lebens nicht nur den Traum des eigenen Schiffes beerdigen, ohne an dieser Stelle weitere Volten der Handlung vorwegnehmen zu wollen. Ebenso wie Limberlost von Idealen und Paradiesen erzählt, findet auch eine Zerstörung dieser Paradiese statt. Immer wieder bricht die erwachsene Welt des Abschieds in die kindliche Welt der Idylle dort in Tasmanien ein.

Das verleiht dem Buch Tiefe und kontrastiert die Welt Neds auf hervorragende Art und Weise, sodass dieses Buch für eine wirklich große Leserschaft eine Empfehlung verdient

Fazit

Robbie Arnotts Einstand namens Limberlost ist ein bittersüßes, melancholisches, lebenspralles, ebenso sinnliches wie luzides Werk, mit dem er sich schon jetzt einen Platz auf der literarischen Landkarte Tasmaniens sichert. Eine wirklich Entdeckung, die Lust macht auf weitere Titel aus seiner Feder!


  • Robbie Arnott – Limberlost
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Hansen
  • ISBN 978-3-8270-1490-0 (Berlin-Verlag)
  • 288 Seiten. Preis: 24,00 €
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Richard Russo – Von guten Eltern

Zurück in North Bath. In seinem mittlerweile dritten Roman, der in der fiktiven US-amerikanischen Kleinstadt angesiedelt ist, lässt Richard Russo Kinder sich mit ihren Eltern auseinandersetzen, treffen ganz unterschiedliche Bewohnerinnen und Bewohner von North Bath aufeinander und zerplatzen manch große Erwartungen. Wieder gelingt Russo mit Von guten Eltern eine tolle Sezierung des Kleinstadt-Bürgertums und damit auch der amerikanischen Seele, die diesmal allerdings etwas braucht, bevor sie in Fahrt kommt.


Nachdem der Kölner Dumont-Verlag zuletzt Backlist-Pflege betrieb und mit Mohawk den Debütroman aus dem Schaffen Richard Russos veröffentlichte, gibt es nun mit Von guten Eltern wieder einen neuen Roman zu lesen, den das Thema des Kleinstadtromans mit dem Frühwerk aus dem Jahr 1986 verbindet.

Auch wenn mit knapp vierzig Jahren viel Zeit zwischen den Romanen vergangen ist, so teilen das erste und das neueste Werk über die Zeit hinweg viele Dinge miteinander. So ist es die Form des Kleinstadtromans, die Russo auch hier wieder aufgreift und mit der er zum inzwischen dritten Mal zurückkehrt in das kleine fiktive Städtchen North Bath, das sich weiterhin im Niedergang befindet.

Bekannte Figuren in bekannter Umgebung

Mittlerweile ist das Städtchen sogar soweit heruntergewirtschaftet, dass es vor der Eingemeindung mit ewigen Rivalen, dem ungleich prosperierenderen Schuyler Springs, steht. Allen voran Charice Bond, die Freundin des im zweiten North-Bath-Romans Ein Mann der Tat im Mittelpunkt stehende Polizeichef Douglas Raymer, ist von diesen Neuerungen betroffen, soll sie doch neue Polizeichefin in Schuyler Springs werden.

Richard Russo - Von guten Eltern (Cover)

Sie ist wie auch Douglas Raymer eine der zentralen Figuren, die Russo hier über vier Tage hinweg aufeinander treffen, sich verstehen und missverstehen lässt. Daneben gesellt sich eine weitere Riege typischer Russo-Figuren zu dem Ganzen, etwa der aus dem ersten North Bath-Roman Ein grundzufriedener Mann bekannte Donald „Sully“ Sullivan, der aber schon kurz nach Beginn des Romans stirbt, woraufhin sein Sohn Peter den Platz seines Vaters einnimmt.

Auch ein Dinner als Bühne der großen und kleinen Dramen des Lebens spielt wieder eine Rolle, das hier allerdings nicht auf den Namen Mohawk-Dinner hört. Geführt wird es von Janey, die wiederum mit einem Polizisten liiert ist, über den diesmal auch das Thema der Polizeigewalt in den Roman hineinfindet.

Von Kindern und ihren Eltern

Neben solchen Themen ist es vor allem das Thema der generationalen Konflikte und Verhaltensmuster, das Richard Russo in diesem Roman interessiert. Denn nicht nur Peter Sullivan kämpft darum, sich von dem väterlichen Erbe zu emanzipieren, um dann dem Schicksal doch nicht wirklich entkommen zu können.

Die Diner-Besitzerin Janey findet sich gleich in Sandwich-Position zwischen Sorgen um ihre Tochter Tina und ihre Mutter Ruth. Und selbst, wenn da keine Eltern präsent sind wie im Falle des nun abdankenden Polizeichefs Douglas Raymer, dann sind auch da Prägungen, die dieser dann eben durch die mittlerweile verstorbene Lehrerin Miss Beryl erfährt. Ihrer Erziehung und einem programmatischen Buchgeschenk in Form von Charles DickensGroße Erwartungen wird dem Polizeichef an diesem besonderen Wochenenden nicht entkommen können.

Prägungen

Prägungen, vorgelebte Rollenmuster und vergebliche Versuche der Emanzipierung durchziehen Von guten Eltern. Bis diese Muster dann so wirklich zur Geltung kommen, vergeht hier einige Zeit, die Russo für seine Exposition benötigt. Und statt sich auf eine Figur zu konzentrieren, entscheidet sich Russo diesmal für einen multiperspektivischen Erzählansatz, in dem ein halbes Dutzend an Figuren gleichberechtigt nebeneinandersteht und immer wieder die Handlung der anderen Kapitel unterbricht, ehe zu Interferenzen zwischen den Erzählungen kommt.

Da gerät der zu untersuchende Suizid, der sich in einem heruntergekommenen Hotel zugetragen hat, das auf den schön ironischen Namen Sans Souci hört, fast zur Nebensache.

Alles das sind erzählerische Entscheidungen, die mich nicht so einfach durch die Seiten fliegen ließen, wie es Russo bei seinen anderen Bücher durchaus schon gelungen ist. Natürlich ist auch hier viel Wärme für seine schrulligen Figuren, guter Sinn für Humor und Skurrilität, aber durch die Fülle an Personal fehlt Von guten Eltern manchmal etwas von dieser Leichtigkeit, die Richard Russos Schreiben sonst kennzeichnet.

Fazit

Als Fortführung seines North-Bath-Zyklus ist Von guten Eltern auch ohne Kenntnis der anderen beiden Bände sehr gut zu lesen, gibt es doch innerhalb der vier Tage viel Abwechslung, Chaos und Turbulenzen. Aber über das Niveau der ersten beiden, ganz großartigen Bände, kommt Russos dritte Stippvisite in der fiktiven Kleinstadt nicht hinaus. So haben sich meine großen Erwartungen an das Buch ein Stück weit zerschlagen.

Das ist überhaupt nicht schlimm, sind diese vorher genannten Werke von Richard Russo doch in der oberen Liga amerikanischer Gegenwartsliteratur angesiedelt. Und auch dieser Roman bewegt sich wieder im Spannungsfeld der üblichen Figuren und Kleinstadtdramen – aber wirklich Überraschendes für seine Fans und Afficionados weiß Richard Russo hier leider nicht aufzubieten.


  • Richard Russo – Von guten Eltern
  • Aus dem Englischen von Monika Köpfer
  • ISBN 978-3-8321-6813-1 (Dumont)
  • 576 Seiten. Preis: 28,00 €
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Kristin Höller – Leute von Früher

„Alles Kulisse! Alles Fassade! Alles falsch und verlogen und ohne dich so leer.“ Das stellt Florian Paul und die Kapelle der letzten Hoffnung in seinem Chanson „Bella Maria“ ernüchtert fest. Darin beschäftigt sich der Sänger mit dem mit dem Abgleich von Italiensehnsucht und der Realität vor Ort, die noch einmal trister wird, wenn der richtige Partner an der Seite fehlt.

Von der Entzauberung solcher Paradiese, dem Geschehen hinter den Kulissen und dem Auffinden von Menschen, die vermeintlichen flachen Fassaden Tiefe geben, davon erzählt Kristin Höller in ihrem zweitem Roman Leute von früher.


Strand, so funktional ist die fiktive Nordseeinsel betitelt, auf der das Geschehen von Leute von früher fast ausschließlich spielt. Marlene ist hierhergekommen, im Gepäck nur wenig außer eines Geburtstagskuchen und der Hoffnung, nicht nur räumlich etwas Abstand zu ihrem bisherigen Leben und den erprobten Abläufen darin zu gewinnen.

Sie stand auf und trat dicht an die Fensterscheibe, Zweifachverglasung, frisch gekittet. Davor ein knospender Strauch, der die Fischräucherei gegenüber verdeckte. Der Schornstein raucht schon, vor der Tür stand ein Kreideschild mit den Spezialitäten des Tages. Rechts davon die Webstube und die Tischlerei, weit im Dorfinneren das Teehaus, das Marlene an ihrem ersten Arbeitstag gereinigt hatte. Hinter den Häusern erhob sich der Deich, ein müder, grüner Hügel.

Kristin Höller – Leute von früher, S. 40 f.

Maritimes Lagerleben

Als Saisonarbeitskraft ist sie Teil eines großen Schauspiels, das für die Besucherinnen und Besucher der Nordseeinsel aufgeführt wird. Innerhalb eines Radius tragen alle Arbeitskräfte Kostüme und wirken an einer Art historischen Re-Enactment mit, das auf Geheiß des lokalen Patrons Jahr für Jahr gegeben wird. Die Regeln des Spiels erinnern dabei fast an die Amish-Gemeinde. Keine Handys oder moderne Technik vor den Augen der Gäste, kein Ablegen des Kostüms innerhalb des Bannkreises, Begegnungen mit anderen Arbeitenden nur außerhalb des normalen Betriebs. Alles soll eine perfekte Fassade sein, Brüche sind hier nicht erwünscht.

Kristin Höller - Leute von früher (Cover)

Und so wird auch Marlene Teil des maritimen Lagerlebens, der dieser Job angesichts einer großen Orientierungslosigkeit in ihrem momentanen Leben gerade recht kommt. Gemeinsam richten die Inselbewohner*innen alles her, schrubben und stellen die Stühle auf, damit das Bild für die Gäste möglichst perfekt ist.

Gewandet in eine Kostüm aus dem Fundus der Ausstatterin fügt sie sich in das Bild ein. Mit der Funktionsbezeichnung Kramladen Verkauf/Bäuerin versehen, soll Marlene in einem Laden Fruchtgummis, Cookies und Sirup verkaufen. Dass das alles ebenso wenig authentisch wie die Bezeichnung selbstgemacht ist, ist dabei eigentlich nur zweitrangig. Es geht ja um die stimmige Simulation – oder in den Worten Florian Pauls und seiner Kapelle: Alles Kulisse! Alles Fassade!

Tiefe bekommt diese platte Kulisse erst durch das Auftauchen von Janne. Sie, die in der gegenüberliegenden Räucherei arbeitet, kennt Strand schon von Kindesbeinen an und ist jenes Teil des Bildes, das aus dem Ganzen herausragt. Immer mehr nähern sich Marlene und Janne an – und beginnen eine Romanze, die allerdings auch den wahren Charakter von Strand offenlegen wird.

Gestrandet auf Strand

Kristin Höller gelingt mit Leute von früher ein Roman, der wie ein Gegenentwurf zu Möwen- und Reetdachkitsch der Nordsee wirkt. Sie blickt hinter die Seele der Dinge, indem sie von der Sinnlosigkeit des Theaterzaubers für Touristen erzählt. Die ganze Leere, der hinter der Folklore des historischen Erlebnisdorfs aufscheint, wird bei ihr ebenso erfahrbar wie die neue Welt, die mit dem Auftauchen Jannes Einzug hält.

Mit großem Gespür für Sinnlichkeit und alle Formen von Texturen erzählt die 1996 geborene Autorin vom Annäherungsprozess von Janne und Marlene, von der Aufregung des Umeinanderwerbens und auch von den Brüchen, die schon zu Beginn einer solchen Romanze immer wieder auftreten.

Ganz oft wird hier Begehren und Aufmerksamkeit ins Essen übersetzt, ist Kulinarik die Sprache der Romantik und können die ganzen Nahrungsmittel dort im Norden, angefangen vom Seespargel bis hin zur geräucherten Makrele, noch so viel mehr als reine Speisen darstellen.

Höller verbindet diese Kulinarik Strands mit der queeren Romanze mit der maritimen Folklore bis hin zur Sage um Rungholt und dessen Auswirkungen, die auch heute noch Touristen und Einheimische umtreiben. So gelingt ihr ein Roman irgendwo zwischen norddeutschem Schauermärchen, Theaterzauber, Sinnlosigkeit und den Möglichkeiten, die aus der Begegnung der zwei Frauen dort erwachsen. Aus der Ferne grüßt Theodor Storm ebenso wie C Pam Zhang, ist die Klimakrise ebenso eingeschrieben wie die Lebens- und Erfahrungswelt der Millenials

Fazit

Mit ihrem zweiten Roman Leute von früher gelingt Kristin Höller eigenwilliges, hervorragend zu lesendes und vielstimmiges Buch voller Kulissen und Risse in den Fassaden, die auch schon das grandios gestaltete Cover vorwegnimmt.


  • Kristin Höller – Leute von früher
  • ISBN 978-3-518-47400-6 (Suhrkamp)
  • 316 Seiten. Preis: 22,00 €
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