Scott Thornley – Der gute Cop

In meiner Vorbereitung auf das diesjährige (beziehungsweise nun eher nächstjährige) Buchmesse-Gastland Kanada beschäftige ich mich etwas mit der literarischen Landschaft dieses Landes. Was mir bei meinen bisherigen Sichtungen ins Auge fielen, waren zahlreiche Krimis.

Die Verlage publizieren auffallend viel Spannungsliteratur und finden in den Vorschauen viele Superlative für ihre Bücher. So auch der Suhrkamp-Verlag im Falle von Der gute Cop von Scott Thornley. Die Zeitschrift Vancouver Sun behauptet auf dem Klappentext des Buchs gar:

Ein großartiger Neuzugang im Pantheon der literarischen Detektive.

Grund genug, für mich etwas genauer hin zu sehen. Was kann dieser kanadische Krimi? Und sind die Lobeshymnen gerechtfertigt? Ein neuer Beitrag in der Reihe #kanadaerlesen.

Im Bezirk Ontario liegt die Stadt Dundurn. Dort, an der Grenze zu den USA, in der Nähe der Niagarafälle, versieht Der gute Cop MacNeice seinen Dienst. Er ist ein angesehener Polizist, hat einen guten Draht zu Kollegen, Mitmenschen und zur Politik. Der erste auf Deutsch vorliegende und von Andrea O’Brien und Karl-Heinz Ebnet übersetzte Fall hat es nun aber in sich. Denn dieser fordert den Detective Superintendent gleich an mehreren Fronten.

So beginnt alles mit einem blutigen Überfall auf ein Rockerheim in Cayuga. Mehrere professionell ermordete Rocker, zahllose Patronen und wenig Wissen über den Tathergang beschäftigten MacNeices Kolleg*innen. Doch viel Unterstützung kann der DS hier erst einmal nicht leisten. Denn ein Anruf des Bürgermeisters beordert ihn zurück nach Dundurn.

Dort möchte dieser sein großes Prestigeprojekt vorantreiben. Ein gigantisches Museum und Mahnmal soll im Hafen der Stadt entstehen. Doch als man die Bauarbeiten beginnt, entdeckt man dort im Hafen ein versenktes Auto mit Toten im Kofferraum. Daneben finden sich Betonsteelen, in die ebenfalls Leichen eingemauert sind. MacNeice soll diesen Fall diskret lösen – denn öffentliches Aufsehen für den Vorfall bei seinem Prestigeprojekt, das möchte der Bürgermeister doch vermeiden.

Rockerkrieg, versenkte Leichen und ein Serienkiller

Und als wäre dem nicht genug, tritt plötzlich auch noch ein Serienkiller auf den Plan. Dieser ermordet junge Frauen mit Migrationshintergrund. Viel zu tun also für MacNeice, der schon bald erste Querverbindungen zwischen diesen scheinbar singulären Ereignissen herstellt.

Tatsächlich ist es angenehm, in der Fülle an exaltierten Ermittler*innen, deren Privatleben und exaltierten Ticks in vielen zeitgenössischen Krimis manchmal der eigentliche Schwerpunkt zu sein scheinen, diesem Ermittler zuzusehen. Zwar hat auch MacNeice eine verstorbene Frau, deren Absenz ihn beschäftigt. Und auch mit Marotten wie der Vogelbeobachtung oder dem häufigen Genuss von Grappa wurde dieser MacNeice von Scott Thornley ausgestattet. Das stört aber bei diesem Buch nicht. Alles, was um die Ermittlungen selbst garniert ist, ist ausnehmend dezent gestaltet. Eine wirkliche wohltuende Ausnahme im Krimi-Einerlei.

Scott Thornley - Der gute Cop (Cover)

Leider stehen dem auch kleine Kritikpunkte gegenüber. So hätten die Figuren auf Polizeiseite und auch ihre Gegenspieler deutlich mehr an Tiefe vertragen können. Die Rocker sind brutal, der Serienkiller mit einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung ausgestattet, die Veteranen sitzen Jack-Daniels-trinkend den ganzen Tag in der Kneipe und dergleichen mehr.

Hätte Scott Thornley beispielsweise den Serienkillerstrang im Roman zugunsten einer umfassendere Charakterisierung seines Personals gekürzt, hätte mich der Roman noch mehr überzeugt.

Und auch wenn das Buch im Original 2012 und damit vor den aktuellen Debatten um Polizeigewalt erschien: mag sich Scott Thornley Mühe geben, um MacNeice als guten Cop und positiven Kerl darstellen. Am Ende (Achtung Spoiler!) entscheiden sich er und sein Team letztendlich dazu, Geld zu veruntreuen und auch zu übermäßiger Gewalt zu greifen. Das mag alles aus verständlichen Motiven oder gutem Willen geschehen. Aber in Zeiten, in denen die Gesellschaft über gesetzeskonformes Verhalten und willkürliche Gewalt bei der Polizei debattiert, sendet dieses hier geschilderte Verhalten doch fragwürdige Signale.

Ein Zugangskandidat für das Pantheon literarischer Detektive?

Und nun zur großen, abschließenden Frage: ist MacNeice ein weiterer Zugang im Pantheon der literarischen Detektive, wie die Vancouver Sun insinuiert? Ich würde sagen: noch nicht. Der gute Cop hat zwar als Potential. Dieser Band als Eintrittskarte für dieses Pantheon funktioniert allerdings noch nicht. Denn dazu bedürfte MacNeice noch mehr Profil in seiner Geschichte und seinem Wirken. Das Ganze erklärt sich auch durch die merkwürdige Veröffentlichungspolitik vonseiten des Suhrkamp-Verlags. So ist dieser Band nämlich nicht der Reihenauftakt, sondern eigentlich der zweite Band der Reihe. Warum man sich zu dieser Art der unchronologischen Veröffentlichung entschieden hat, erschließt sich mir nicht ganz.

Auch die Sprache ist nicht unbedingt das, das ich als „literarisch hochwertig“ bezeichnen würde. Hier ist noch eindeutig Luft nach oben. Aber als unterhaltsamer Krimi mit leichten Schwächen funktioniert Scott Thornleys Buch doch ganz gut. Weitere Bände der Reihe sind ebenfalls in Planung. Dass dann auch der erste Band veröffentlich wird, das wäre im Sinne der Reihe wünschenswert.


  • Scott Thornley – Der gute Cop
  • Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet und Andrea O’Brien
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN: 978-3-518-47081-7 (Suhrkamp)
  • 523 Seiten, 16,00 €
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Der ewige Gärtner

Reginald Arkell – Pinnegars Garten

Gibt es etwas Altmodischeres als Blumenschauen? Das Flanieren durch Gärten und das Fachsimpeln über Blüten, Saat und Aufzucht ist doch etwas aus der Mode geraten. Zwar erfreuen sich Botanische Gärten oder Kleingärten großer Beliebtheit und auch der Tag der offenen Gartentür findet noch statt. Aber die Gartenkunst hatte schon mal eine größere Bedeutung. Davon zeugt der Roman Pinnegars Garten von Reginald Arkell. Ein hinreißend altmodisches Vergnügen.


Reginals Arkell kam 1881 in Gloucestershire auf die Welt. Er schrieb Theaterstücke und Singspiele, diente im Ersten Weltkrieg als Offizier und verfasste mit Pinnegars Garten (beziehungsweise Old Herbaceous im Original) einen Klassiker der englischen Gartenliteratur. Sein Roman genoss solche Popularität (und tut es noch immer), dass das Buch als Theaterstück 1979 sogar vor der englischen Königsfamilie auf Schloss Windsor aufgeführt wurde. Was macht dieses Buch also zum Klassiker, der sich solcher Beliebtheit erfreut?

Reginald Arkell - Pinnegars Garten (Cover)

Es ist ein warmherziger Ton, der dieses 1950 erschienene Buch durchzieht. Ein alter Mann, genannt Old Herbaceous, also frei übertragen etwa Alter Krautkopf, sitzt in seinem Lehnstuhl und sinniert über sein Leben. Eigentlich trägt er den Namen Herbert Pinnegar. Aber zu seinem Ehrennamen kam er durch seine Passion, die sein ganzes Leben prägen sollte.

Schon als Kind gewann er einen Preis bei einer Gartenschau, als er ein außergewöhnliches Blumenbouquet pflückte. Während gleichaltrige Kinder nach der Schule zu Knechten oder Schäfergesellen wurden (wir schreiben ein England vor der Jahrhundertwende), so hat das Schicksal für Herbert einen anderen Verlauf vorgesehen.

Ein Leben als Gärtner

Über die Jahre steigt er zum Obergärtner im Dienste von Miss Charteris auf. Diese ist die Besitzerin eines Herrenhauses mit ausgedehnten Ländereien. Und Herbert tritt in den Dienst ihres Hauses ein und wächst in den folgenden Jahrzehnten mit seinen Aufgaben. Kriege kommen und Kriege gehen – Old Herbaceous ist aber mit voller Hingabe für die Gärten von Miss Charteris da. In guten, wie in schlechten Zeiten.

In einem ruhigen Ton erzählt sich Reginald Arkell chronologisch durch das Leben von Old Herbaceous. Wie er mit Miss Charteris ein ganz eigenes dynamisches Doppel bildet, wie er seinen Job interpretiert und wie er seine Gärten genauestens hegt und pflegt, davon erzählt Arkell. Und zwar so, dass man gar nicht anders kann, als diesen Gärtner und seine Chefin ins Herz zu schließen.

Dabei ist Pinnegars Garten aber keineswegs nur ein weltabgewandter und schrulliger Roman, der die Gartenkunst feiert und sonst wenig zu sagen hat. Arkell zeigt die gesellschaftlichen Verwerfungen auf, die der Übergang vom Viktorianischen zum Edwardianischen Zeitalter bedeutete. Und nicht zuletzt ist das Buch auch eine Dokumentation darüber, wie die Bedeutung der Gartenkunst über die Jahre abnahm.

Nicht nur für Gartenliebhaber*innen oder Gärtner*innen stellt Pinnegars Garten ein wirkliches Geschenk dar. Liebevoll von Elsemarie Maletzke ins Deutsche übertragen (großartig schon allein der Ausdruck Zungendresche) und mit einem Nachwort von Penelope Hobhouse versehen, ist das Buch ein wirkliches Kleinod. Mit einem Leineneinband ausgestattet nimmt uns das Buch noch einmal mit in eine längst vergangene Zeit, als die Öfen in den Gewächshäuser bollerten und Erdbeeren im Februar eine gärtnerische Sensation waren. Einfach ein toller Roman, der die Möglichkeit gibt, auch ohne eigenen Garten literarisch durch Old Herbaceous Gärten zu lustwandeln.


  • Reginald Arkell – Pinnegars Garten
  • Aus dem Englischen von Elsemarie Maletzke
  • Mit einem Nachwort von Penelope Hobhouse
  • ISBN 978-3-293-00423-8 (Unionsverlag)
  • 224 Seiten, 14,95 €

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Auf Schmugglerpfaden

Matteo Righetto – Die Seele des Monte Pavione

Italien und der Anbau von Tabak. Zwei Dinge, die man nicht automatisch in Verbindung miteinander setzt. Ich assoziiere Tabak stets mit Südamerika und erfuhr erst durch Matteo Righettos Buch von der Geschichte des Tabakanbaus in Italien. Und tatsächlich ist es so, dass auch heute noch in verschiedenen europäischen Ländern, darunter auch Deutschland, Tabak angebaut wird. Der Anbau wird sogar von der EU subventioniert, allerdings gilt die Aufzucht der Tabakpflanze als kaum rentabel.

Matteo Righetto - Die Seele des Monte Pavione (Cover)

Wie aufwändig das Geschäft mit dem Tabak ist, das erfährt man auch in Die Seele des Monte Pavione. In diesem Roman schildert Righetto das Leben einer Familie von Tabakpflanzern, die im Norden Italiens an der Grenze zu Südtirol leben. Man schreibt das Ende des 19. Jahrhunderts. Obwohl die Industrialisierung auch in dieser Region langsam Einzug hält, geht in Nevada alles noch einen anderen Takt. Augusto de Boer pflegt zusammen mit seiner Frau und den drei Kindern die Tabakpflanzungen, die nur einen kümmerlichen Profit abwerfen. Genau von Behörden kontrolliert obliegt dem Mann die Aufzucht und Trocknung der begehrten Blätter.

Doch das Auskommen aus dem Verkauf der Tabakblätter reicht hinten und vorne nicht. Und so bedient sich Augusto kreativer Möglichkeiten, um das Einkommen der Familie zu verbessern. Wie andere Bauern in der bergigen Grenzregion verdient er sich beim Schmuggel von heimlich abgezweigter Tabakgüter etwas dazu. Nur so kann er sicherstellen, dass seine Familie genug zu essen hat, wenn saisonal bedingt keine Aufzucht der Tabakpflanzen möglich ist. Doch dann passiert es: von einem seiner Schmuggelgänge nach Österreich kommt er nicht wieder. Und so obliegt es nun seiner ältesten Tochter Jole, die Schmuggeltätigkeit des Vater aufzunehmen.

Righettos Schilderungen der Natur

Von diesem Schmuggelgang erzählt Righetto in seinem Buch in einer romantischen, manchmal fast märchenhaft anmutenden Sprache. Ein ums andere Mal auch knapp an der Grenze zum Kitsch entlanggeschrammt.

Der Himmel füllte sich mit Sternen, leuchtend hell, schön und frei. So schön und erhaben dieser Augenblick war, fühlte Jole doch mit plötzlicher Bitterkeit ihre Einsamkeit und ließ ihren Tränen freien Lauf.

Und es kam ihr so vor, als weine das Firmament über ihr ebenfalls.

Righetto, Matteo: Die Seele des Monte Pavione, S. 184

Gewiss, man sollte eine gewisse Toleranz für Pathos, klopfende Spechte, wisperndes Gras und einfach gezeichnete Figuren mitbringen. Aber wer zu einem Buch mit dem Titel Die Seele des Monte Pavione greift, bringt diese Toleranz wahrscheinlich auch mit. Wie schon vor ein paar Jahren, als Paolo Cognetti mit Acht Berge ein Überraschungserfolg und veritabler Longseller gelang, rückt auch hier sein Landsmann Righetto die innere Reifung und die Naturerfahrung in unwirtlicher Umgebung in den Mittelpunkt. Durch die gefährliche Schmuggeltour, auf die sich Jole notgedrungen begibt, reift die junge Frau und lernt auch sich im Kampf der Bergwelt Südtirols kennen. Den Monte Pavione, der die Wegscheide auf dieser Tour darstellt, inszeniert Righetto mit geisterhaft brausenden Winden als eine Art italienischen Untersberg. Und auch sonst ist die unberührte Natur der zweite große Hauptdarsteller neben Jole.

Zwar hört man von drunten im Tal schon die Bauarbeiten der Eisenbahn heraufklingen. Aber von Jole und ihrem Pferd, die sich oben am Berg auf den Schmugglerpfaden bewegen, ist dies alles denkbar weit entfernt. Eine Szene mit Aussagekraft. Hier lässt jemand noch einmal die Naturidylle aufleben und taucht in die archaische Bergwelt Südtirols ein.

Dieses Buch trifft einen Nerv der Zeit – auch bei mir. Die entschleunigte Lektüre, die trotzdem nicht vergisst, die Handlung voranzutreiben und die bildreichen Naturbeschreibungen – sie gelingen Righetto sehr gut. Oder um es mit der Bergmetaphorik auszusprechen: Righetto ist ein erzählerischer Wanderer, der für seine Tour das richtige Tempo anschlägt und nur wenige Mal neben seinen Pfad in die Abgründe des Kitsches tritt.


  • Matteo Righetto – Die Seele des Monte Pavione
  • Aus dem Italienischen von Bruno Genzler
  • ISBN: 978-3-89667-616-0 (Blessing)
  • 240 Seiten, 20,00 €
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Éric Vuillard – Der Krieg der Armen

Der Kabarettist Georg Schramm zitiert in seinen Programmen häufig einen der reichsten Menschen der Welt. So äußerte sich der Investor und Multimilliardär Warren Buffett im Jahr 2006 in einem Interview mit der New York Times auf folgende Art und Weise:

Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.

Warren Buffett im Interview mit Ben Stein. New York Times, 26.11.2006

Erstaunlich offene und martialische Worte, die einer der reichsten Investoren und Profiteur des Kapitalismus hier äußerte. Der Kampf zwischen Reich und Arm, er ist ein weltweites Problem. Schon jetzt besitzt circa 1 Prozent der Weltbevölkerung 44 Prozent des weltweiten Vermögens. 56 Prozent der Weltbevölkerung halten zusammen nicht einmal 1,8 Prozent des globalen Vermögens (Quelle hier). Die Satiresendung Die Anstalt brachte das Problem vor wenigen Jahren auf den eingängigen Slogan: Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer mehr.

Statt in die Zukunft blickt Éric Vuillard in seinem Roman Der Krieg der Armen allerdings zurück in die Vergangenheit und findet alle Themen, die uns auch heute umtreiben. Nach dem Bastille-Drama 14. Juli ist es wie auch schon im Bestseller Die Tagesordnung nun wieder die deutsche Geschichte, die es Vuillard angetan hat. Er erzählt in seinem schmalen Büchlein, das gerade einmal 64 locker gesetzte Seiten umfasst, die Geschichte der Bauernkriege und die ihres Anführers Thomas Müntzer.

Dieter Forte - Martin Lutzer & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung (Cover)

Jener Thomas Müntzer ist etwas in Vergessenheit geraten. Dieter Forte widmete dem Revolutionär 1970 das Drama Martin Luther & Thomas Müntzer oder Die Einführung der Buchhaltung. Einst ein großer Erfolg, heute jedoch kaum mehr gespielt (zuletzt etwa vor drei Jahren hier am Staatstheater Augsburg).

Doch anders als sein Widerpart Martin Luther konnte Müntzer mit seinem Wirken keine bedeutende Langzeitwirkung entfalten. Auf eine DDR-Banknote schaffte es sein Konterfei, eine Thomas Müntzer-Gesellschaft existiert. Aber hat uns sein Schaffen heute auch noch etwas zu sagen? Vuillard versucht sich in seinem Buch an einer Antwort.

Das Leben des Thomas Müntzer

Der Krieg der Armen ist ein Buch, das ein Leben auf das kleinstmögliche Format komprimiert. So beginnt alles im Leben des Thomas Müntzers mit dem Tod des Vaters.

Sein Vater war gehängt worden. Er war ins Leere gefallen wie ein Sack Körner. Man hatte ihn nachts auf den Schultern tragen müssen, er war schweigsam geblieben, den Mund voller Erde. Dann ging alles in Flammen auf. Die Eichen, die Weisen, die Flüsse, das Labkraut in den Hecken, die karge Erde, die Kirche, alles. Er war elf Jahre alt.

Vuillar, Éric: Der Krieg der Armen, S. 5

Mit der Hinrichtung des Vaters beginnt die Geschichte, mit der Hinrichtung Thomas Müntzers endet sie. Dazwischen wirft Vuillard einen Blick in die Epoche der Bauernkriege, die nicht nur in Deutschland grassierte, wie der Franzose zeigt. Ausgehend von Luthers Ermächtigung und dem Gedanken eines gütigen Gottes, dem anstelle des katholischen Klerus die Verehrung gelten sollte, griff die radikale Idee nach Freiheit um sich. Freiheit von verhassten Institutionen wie dem Klerus und dem Adel. Eine Freiheit von horrenden Abgaben und bedingungslosem Gehorsam. Und so erhoben sich in England die Bauern genauso wie in Deutschland. Sie brachten den lokalen Adel und sogar Könige in Bedrängis – und scheiterten schlussendlich.

Davon erzählt Éric Vuillard, wobei die Person Thomas Müntzer auch nur eine unter vielen ist. So interessiert ihn in diesem Roman die globale Geschichte der Aufstände deutlich mehr, als nur das Porträt eines radikalen Kämpfers zu liefern. Möchte man Der Krieg der Armen als Thomas Müntzer-Biografie lesen, würde man unweigerlich enttäuscht. Denn die komplexe Person des Thomas Müntzers durchdringt Vuillard kaum. Die widersprüchlichen Facetten dieses Reformators, Revolutionärs, Theologen und Drucker bildet das Buch nur unzureichend ab. Das Interesse Vuillards liegt auf einem anderen Aspekt der Zeit und des Wirken Münzers.

Ein Panorama der Bauernkriege

Der Franzose inszeniert sein Buch (das ohne Gattungsbezeichnung vom Verlag versehen wurde) als ein großes Panorama der Bauernkriege. Wat Tyler in England, Jan Hus in Böhmen, Müntzer in deutschen Landen. Vuillard montiert die Szenen und Geschichten atemlos aneinander. Er springt durch die Geschichte, bindet Ereignisse zusammen und erzählt von den Grausamkeiten dieser Kriege und den Hoffnungen, die zusammen mit ihren Kämpfern dann wieder begraben wurden.

Éric Vuillard - Der Krieg der Armen (Cover)

Vuillard bleibt seinem einzigartigen Stil im Guten wie im Schlechten erneut treu. Im Guten, da er interessante Querbezüge auftut, originell schreibt und Geschichte in Geschichten einfach gut vermitteln kann. Im Schlechten, da er seinen Wunsch nach stilistischer Originalität auch hier einmal mehr nicht wirklich einhegen kann. Zwar nicht so ausufernd wie im letzten Buch über den 14. Juli (das ich nach einigen Dutzend Seiten genervt zur Seite legte), aber auch hier wieder manchmal mit einer Spur zu viel. Da ist so manches Mal eine Formulierung drüber oder eine stilistische Pirouette zuviel.

Bei den gerade einmal 64 Seiten Laufzeit fällt das allerdings nicht wirklich ins Gewicht. Vielmehr ist es doch beachtlich, wie diese frankophone Schule der Espresso-Geschichtsliteratur boomt, sei es nun Jean Echenoz oder Éric Vuillard, die diese Literaturgattung pflegen. Solche Stimmen würde ich mir in der deutschen Literatur auch einmal wünschen.

Es ist ja auch für den Literaturstandort Deutschland beschämen, dass solche Aufarbeitungen unserer deutschen Geschichte aus dem Ausland kommen müssen, ehe sie breit gelesen und in den Feuilletons besprochen werden. Großes Lob an dieser Stelle wie immer auch an Nicola Denis, die diesen Roman ins Deutsche übertragen hat.


  • Éric Vuillard – Der Krieg der Armen
  • Aus dem Französischen von Nicola Denis
  • ISBN 978-3-95757-837-2 (Matthes & Seitz Berlin)
  • 64 Seiten, 16,00 €
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Ein Gang ins Gericht mit sich selbst

Susanne Kerckhoff – Berliner Briefe

Einmal mehr eine erstaunliche Wiederentdeckung, die dem Verlag Das Kulturelle Gedächtnis da gelungen ist. Susanne Kerckhoffs Berliner Briefe aus dem Jahr 1947. Ein Briefroman, der sich mit Schuld, Sühne, Verdrängung und der Frage auseinandersetzt, ob das geht: passiver Widerstand und aufrechtes Leben in einer Diktatur. Ein Roman, in dem sich in Form von Briefen seine Verfasserin und damit eine ganze Gesellschaft hinterfragt.


Betrachtet man die Nachkriegszeit und die Beschäftigung mit der Schuld der Deutschen, dann geht die Erzählung zumeist ja so: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schlug die Stunde Null. Verdrängung, Verleugnung und Totschweigen der Ereignisse während des Nationalsozialismus herrschten vor. Das Wirtschaftswunder brachte dem Land wieder den Aufschwung. Zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Erbe und der eigenen Schuld kam es dann aber erst durch die 68er-Bewegung und die Hinterfragung der Schuld der Eltern durch ihre Kinder und Enkel.

Der Autor Harald Jähner schreibt über jene Nachkriegszeit, die er in seinem preisgekrönten Roman Wolfszeit getauft hat:

Wo waren sie hin, die stolzen Herrenmenschen, die angeblich lieber sterben wollten, als jedwede Form von Fremdherrschaft zu erdulden? Das fragten sich nicht nur die Besatzer, sondern auch die Deutschen selbst. Die meisten hatten ihre Führertreue mit einem Schlage eingestellt. Sie knippsten ihre ehernen Überzeugungn wie mit einem Schalter aus – und die Vergangenheit gleich mit. Wie sonst hätte jemand keine zwei Jahre nach Kriegsende auf die irre Idee kommen können, zu fragen, warum eigentlich niemand auf der Welt die Deutschen so richtigen leiden könne? „Was macht den Deutschen in der Welt so unbeliebt?“ überlegte tatsächlich im Januar 1947 die Zeitschrift „Der Standpunkt“, als hätte es den Krieg nie gegeben.

Jähner, Harald: Wolfszeit, S. 375

Eine vergessene Autorin wird wiederentdeckt

Doch dass es nicht alle Deutschen mit Verdrängung und Verleugnung bewenden lassen wollten, davon zeugt der Briefroman von Susanne Kerckhoff. Er zeigt eine Deutsche, die sich in Form eines Briefwechsels mit einem emigrierten Freund selbst hinterfragt. Sie geht mit sich selbst ins Gericht – und zeigt eine durchaus schizophrene Gesellschaft. Und das schon im Jahr 1948, zwanzig Jahre vor der Zäsur 68. Ein erstaunliches Buch.

Susanne Kerckhoff - Berliner Briefe (Cover)

Dabei ist schon das Schicksal seiner Autorin außergewöhnlich. Die 1918 geborene Susanne Kerckhoff schloss sich schon zu Schulzeiten der Sozialistischen Arbeiterjugend an, begann ab 1935 zu schreiben (zu Beginn noch weitestgehend unpolitische Prosa) und wurde 1937 Mitglied der Reichsschrifttumkammer. Nach dem Krieg trat sie in die SPD ein, trennte sich von ihrem Mann und den Kindern und wurde 1948 Mitglied der SED. Zugleich erschienen in diesem Jahr auch ihre Berliner Briefe. Ein Jahr später macht sie als Feuilletonchefin der Berliner Zeitung Karriere. Nach publizistischen und ideologischen Debatten und sinkendem Rückhalt durch die SED-Regierung beging Kerckhoff 1950 schließlich Suizid. Ihr Grab befindet sich auf dem Berliner Waldfriedhof Grünau.

Ihr schriftstellerisches und lyrisches Werk fiel mehr oder minder dem Vergessen anheim, obwohl Monica Melchert und Ines Geipel schon lange für eine Wiederentdeckung dieser Autorin kämpften, wie Herausgeber Peter Graf in seinem Nachwort schreibt. Er hat nun im Verlag Das Kulturelle Gedächtnis den Versuch unternommen, dieses Buch abermals einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Mit Erfolg, wie auch die Debatte im Literarischen Quartett nun zeigt.

Eine erstaunliche Selbstbefragung

Dass dieses Buch so erstaunlich ist, liegt auch darin begründet, dass es dem altbekannten Narrativ von einer gesamtgesellschaftlichen Verdrängung so offensichtlich widerspricht. Denn wie Susanne Kerckhoff hier mit ihrer Briefeschreiberin Helene und dem ganzen Land ins Gericht geht, und das schon drei Jahre nach Kriegsende, das erstaunt doch sehr. Unbarmherzig befragt sich die junge Frau selbst, indem sie 13 Briefe an Hans schriebt. Dieser hat das Land verlassen – und Helene legt ihm nun die Gründe für ihren Verbleib in Deutschland und die momentane Lage dar.

Eines ist von Anfang des Endes an schlecht gelungen: der deutschen Allgemeinheit Schuldgefühl und Sühnebereitschaft aufzunötigen. Die Erfolglosigkeit aller Erziehung zur Einsicht war von vornherein zu befürchten. Ein besigtes Volk läßt sich von den Siegern höchst widerwillig belehren. Fahre in Gedanken mit mir in der Stadtbahn, stehe mit mir in der Schlange vor dem Fleischerladen und höre zu:

„Wenn wir gesiegt hätten, dann wären Stalin und Churchill in Nürnberg aufgehängt worden! „Wir sind ja das schlechteste Volk der Welt – ehe nicht Millionen von uns draufgegangen sind, sind die nicht zufrieden! „Nächsten Winter soll es noch weniger Kohlen geben – Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (…)

Lieber – wozu noch mehr dieser Phrasen! Sie drücken alle das gleiche aus. Äußerungen Unterlegener, die sich gegen die moralische Diskriminierung wehren und durch ihre Art des Wehrens sich noch schärfer ins Unrecht setzen. Ich kenne diese Menschen von früher her, wo sie mit bitterböser Arroganz und dümmlicher Gefolgschaftstreue in ihren Herzen achtlos über Leichen gingen, ehrpußlig Mordorden einklaubten“

Kerckhoff, Susanne – Berliner Briefe, S. 15f

Ihre Schilderungen der Nachkriegsgesellschaft, die Abwesenheit von Schuld- und Sühnebereitschaft, das beeindruckt. Ein wichtiges Zeitdokument, dass der Stunde-Null Erzählung leise, aber umso entschiedener widerspricht. Eine wirkliche Wiederentdeckung, die zurecht in den Medien nun vielfältiges Echo erfährt. Zudem noch ausnehmend toll gestaltet – so wie alle Bücher dieses Verlags.


Informationen zum Buch

  • Susanne Kerckhoff – Berliner Briefe
  • Herausgegeben von Peter Graf
  • ISBN: 978-3-946990-36-9
  • Erschienen im Verlag Das Kulturelle Gedächtnis
  • 120 Seiten, 20,00 €
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