Ulrike Draesner – Kanalschwimmer

Wenn Grenzen verschwimmen

I salute at the threshold of the North Sea of my mind
And I nod to the boredom that drove me here to face the tide
And I swim, I swim, oh swim

Dip a toe in the ocean, oh how it hardens and it numbs
The rest of me is a version of man built to collapse and crumb
And if I hadn’t come now to the coast to disappear
I may have died in a landslide of rocks and hopes and fears

So I swim until you can’t see land
Swim until you can’t see land
Swim until you can’t see land
Are you a man? Are you a bag of sand?

Frightened Rabbit: Swim until you can’t see land

Are you a man? Are you a bag of sand? Charles, der Ich-Erzähler in Ulrike Draesners neuem Roman Kanalschwimmer ist sich da nicht mehr so ganz sicher.

Im Falle von Charles ist es nicht die Langweile, die ihn an die Nordsee getrieben hat, wie es die schottische Band Frightened Rabbit in ihrem Song besingt. Es sind viel tiefergehende Ereignisse, die ihn hierhergebracht haben. Hierher, das heißt die englische Küste vor dem Ärmelkanal.

Dort will er sich selbst stellen und hinterfragen. Nachdem seine Frau aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen ist, sucht er nun die ultimative Erfahrung. Ein Jugendtraum, der ihn seit seiner Kindheit und der damit verbundenen Mitgliedschaft im Schwimmverein von Camden umtreibt. Er will den Ärmelkanal durchschwimmen. 34 Kilometer offene See zwischen Dover auf der englischen und Cap Gris-Nez auf der französischen Seite. Der Kampf gegen das Meer und sich selbst. Charles wagt ihn, und wir als Leser*innen sind unmittelbar dabei.

Schwimmen – eine Erfahrungsgeschichte

Ulrike Draesner erzählt ihren Roman als große Erfahrungsgeschichte. Als Erfahrungsgeschichte des Schwimmens, als Austesten der eigenen Grenzen. Und als Erfahrungsgeschichte der eigenen Schmerzen, des Verdrängens, der nicht geschlossenen Wunden, die sich in der eigenen Biographie so verstecken.

Das tut sie, indem sie Gestern und Heute kunstvoll verschränkt. Der Kunstkniff, der durch die Verwendung in Virginia Woolfs Mrs Dalloway populär wurde, er funktioniert auch im Falle von Kanalschwimmer einmal mehr ausgezeichnet. Denn während Charles schwimmt und das Meer und die Widerstände seines Körpers zu überwinden versucht, erinnert er sich in zahlreichen Rückblenden

Er erinnert sich an die Freundschaft zu seiner späteren Frau Maude, ihrer Schwester Abbie und Silas, seinem besten Freund seit dem Camdener Schwimmverein. Die komplizierte Freundschaft der Vier mitsamt dramatischer Ver- und Entwicklungen, einer Art britischer Wahlverwandschaften, steht im Mittelpunkt der Erinnerung.

Schließlich hatten und haben die Freundschaften und ein verhängnisvoller Sommer auf der Insel Sylt im Jahr 1978 Auswirkungen. Auswirkungen, die Charles nun bis ins Wasser der Meerenge zwischen Großbritannien und Frankreich getrieben haben.

All das erschließt sich nur ganz langsam und erfordert ein absolut konzentriertes Lesen. Denn Ulrike Draesner kondensiert eine ganze Biographie, eine mehr als komplexe Freundschaft und eine sportliche Herkulesaufgabe auf lediglich 174 Seiten. Das Prinzip von knapper Rahmenhandlung und dafür umso intensiver und umfassender Binnenhandlung, es geht auf. Aber man muss am Ball bleiben und auch die stellenweise nur hingetupften Bemerkungen im Kopf behalten, um am Ende ein ganzes (sehr stimmiges) Bild zu erhalten.

Großartig erzählt, montiert & formuliert

Kanalschwimmer ist große Erzählkunst. Und das hat mehrere Gründe.

Denn da ist zum einen die oben schon geschilderte Montagetechnik, mit der die 1962 geborene Autorin arbeitet. Die Verschränkung von Gegenwart und Vergangenem und das Einbinden der Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms geht auf und ist plausibel. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen den Zeiten. Das Abgleiten in die Erinnerung, wenn Charles‘ Kraulzüge durch das Meer zu monton werden, das ist toll gemacht.

Hier in Frankreich in der Nähe von Dover möchte Kanalschwimmer Charles anlanden.

Auch ist es bewundernswert, mit welcher Akribie sich Ulrike Draesner in die Thematik des Schwimmens eingearbeitet hat. Das Schwimmen im offenen Meer im Allgemeinen und das Durchschwimmen des Ärmelkanals im Besonderen schildert sie detailreich und höchst plastisch, sodass man sich förmlich an der Seite Charles im Wasser spürt. Welche Regeln für die Anlandung auf der französischen Seite des Ärmelkanals gelten, mit welchen körperlichen Schwierigkeiten man zu kämpfen hat, wie das Wasser des Kanals beschaffen ist: all das erfährt man in Kanalschwimmer, ohne dass es den Lesefluss zu sehr behindert.

Und dann ist da neben der Form und dem Inhalt auch noch die Sprache, die ich besonders loben möchte. Denn mit ihr wird dieses Buch endgültig zu etwas ganz Besonderem. Denn mit abgegriffenen Sprachbildern oder standardisierten Formulierungen wie sie in der Gegenwartsliteratur häufig der Fall sind, gibt sich Ulrike Draesner nicht ab. Vielmehr findet sie neue Bilder, um Charles Kampf durch den Ärmelkanal zu schildern. Poetische Schilderungen, orthographische Spielereien, Rhythmisierung – Kanalschwimmer bietet unerhörten literarischen Genuss. Mit Charles durch das Meer und damit durch Draesners Prosa zu schwimmen, das ist einer große Freude.

Über Fossilien also paddelte er, über vorweltlichem, halb tropischem Laubwerk, steinzeitlichen Beilen und schaufelartig ausladenden, versteinerten Geweihen, über längst verwehten Bedürfnissen, Träumen und Seelen.

Draesner, Ulrike: Kanalschwimmer, S. 50

Oder noch eine andere Stelle, die mich begeistert und deutliche Bilder in mir geweckt hat:

Unter Wasser war der Regen wie verwandelt. Klopfte nur an, berührte, löste sich auf. So sanft. Zum zweiten Mal wurde diese Überquerung schön. Frohgemut stellte Charles sich vor, in einer mind zu treiben. Sein Körper verschmolz mit allem, was ihn umgab. Lautlos schoben große Schiffe sich hinter dem Tropfenvorhang durch die obere Welt. Er war durchlässiger geworden, vielleicht auch ein wenig löchrig, er spürte sie, ohne sie zu sehen.

Draesner, Ulrike: Kanalschwimmer, S. 83

Da verzeiht man ihr auch, dass es manchmal etwas zu viel des Guten ist.

Unversehens saß er in einer Lichtmühle. Er saß auf einer Bank des Shakespeare Inn unter quietschendem Shakespeare-Schild in einem Schauer von Leuchtkörnchen, die auf ihn heruntergemahlen wurden. Hunderte Säcke von Lichtmehl waren explodiert. Eine Welt ohne Schatten, glitzernd und dicht. Er war aufrecht in sie gefallen.

Draesner, Ulrike: Kanalschwimmer, S. 36

Solches Metapher-Dauergeprassel bleibt aber eine Ausnahme. Normalerweise sind ihre Bilder gut gewählt, dezent eingesetzt und lösten in mir durchaus Bilder und Szenen aus. Es macht großen Spaß, eine solch kreative Sprache lesen und genießen zu dürfen, die niemals zum Selbstzweck verkommt

Fazit

Man kann es meinen zahlreichen Worten zuvor schon entnehmen: ich bin von Ulrike Draesners Kanalschwimmer wirklich mehr als begeistert. Stil, Technik, Haltung: was beim Schwimmen gilt, ist auch im Falle des Buchs wichtig – und stimmt einfach. Hier schreibt eine tolle Autorin mit dem passenden Zugriff auf ihr Thema. Gehaltvoll, begeisternd und ihre Erzähltechnik wunderbar ausnutzend, wie das zuletzt einige weibliche Autorinnen taten (wie etwa Lize Spit in Und es schmilzt oder Dagmar Leupold in Lavinia). Große Literatur, sprachmächtig und souverän verschwimmend.

Finde im Übrigen nicht nur ich, sondern auch andere Blogger. Marina Büttner von Literaturleuchtet, Hauke Harder von Leseschatz und BooksterHRO.


Und jetzt – auch in Erinnerung des zu früh verstorbenen Frigthened-Rabbit-Sängers Scott Hutchinson der großartige Song, der mir während der Lektüre von Kanalschwimmer im Kopf umging.

Mein Autorinnenschuber

Machen wir uns nichts vor – auch ich zähle zu den alten weißen Männer. Weiß bin ich sowieso, alt werde ich auch langsam. Und auch inhaltlich bin ich nicht immer ein Vorbild: zu viele Männer, die ich lese und auch hier auf dem Blog vorstelle, zu wenige Frauen, zu wenig marginalisierte Stimmen, die ich hier zu Wort kommen lasse. Zwar bemühe ich mich um Ausgewogenheit, ganz gelingt es mir aber auch nicht immer.

Der Soulmates-Schuber der Süddeutschen Zeitung (Bildquelle: SZ-Shop)

Dass es andere da nicht besser machen, ist nur ein kleiner Trost. Aber immerhin – so monothematisch wie etwa die Süddeutsche Zeitung bin ich dann doch nicht unterwegs. Diese hat jüngst unter dem Titel Soulmates einen Romanschuber veröffentlicht (das Weihnachtsgeschäft naht schließlich schon bald). In diesem haben die verantwortlichen Redakteur*innen 10 Romane zusammengetragen. So finden sich Bücher wie etwa Alexis Sorbas von Nikos Kazantzakis, Die Straße von Cormac MacCarthy oder Der große Gatsby von Scott F. Fitzgerald. Ein bunter Schuber, der aber nur auf den ersten Blick bunt und vielfältig wirkt. Der Shop der SZ findet folgende Worte, um diese Zusammenstellung anzupreisen:

Androiden, Milliardäre, Boxer, Senatorensöhne, Bergmänner, Armenärzte, Polar­forscher – das sind die Protagonisten einer neuen SZ-Edition mit zehn Romanen der Weltliteratur im Schuber.

Die Homepage des SZ-Shops

Zehn Romane der Weltliteratur von Jack London bis Norman Mailer – bei der nur eine Sache fehlt: ein einziges Buch von einer Frau. 10 Bücher, 10 Männer. Wer jetzt denkt – na da kommt ja sicher noch ein Soulmates-Schuber von Frauen über Frauen – falsch gedacht. Laut SZ ist ein solcher Schuber nicht angedacht und wird in nächster Zeit nicht veröffentlicht. Haben wirklich nur Männer Weltliteratur geschrieben?

Männer, Männer, Männer – einseitig und eindimensional

Da diese monothematische Männerschau doch etwas einseitig und mehr als unvollständig ist, liegt ja auf der Hand. Muss man wirklich schon wieder weißen, zumeist schon verstorbenen und mehr als bekannten Autoren eine Plattform bieten? Warum nicht einmal einen überraschenden, neuen Blick auf die Männlichkeit auch aus weiblicher Sicht werfen? Warum nicht einmal einer jungen Autorin und ihren Männerfiguren Aufmerksamkeit schenken, wie etwa Jackie Thomae oder Adelle Waldman? Warum nicht einmal Frauen lesen oder auch Women of Color einen prominenten Platz einräumen? Haben diese schließlich keine Weltliteratur geschrieben? Ich denke dabei nur an Stimmen wie etwa Maryse Condé oder Toni Morrison, die ich bislang noch in keinem solchen Schuber gesehen habe. Stattdessen gibt es die 500. Ausgabe des Großen Gatsby, die gefühlt eh in jedem zweiten Schuber steckt.

Dieser männlichen Monothematik etwas überdrüssig hat Nicole Seifert vom jünst ausgezeichneten Blog Nacht&Tag eine Gegenaktion gestartet. Unter dem Schlagwort #autorinnenschuber sind Lesende aufgerufen, einfach ihren eigenen Schuber mit interessanten Stimmen von Autorinnen zu kuratieren. Diese Gelegenheit wollte ich mir natürlich auch nicht entgehenlassen und habe aus meinem Regal zehn Bücher zusammengestellt. Diese reichen von bekannten und gehypten Titeln bis hin zu Entlegenem und kaum Besprochenen. Konkret sieht mein Schuber so aus:

Die meisten Bücher aus diesem Schuber habe ich bereits hier über die Jahre auf dem Blog rezensiert und vorgestellt. Man findet sie ganz leicht per Suchfunktion oder im Archiv. Der Übersichtlichkeit halber führe ich sie hier noch einmal auf – vielleicht ist ja für ein paar der Lesenden hier etwas Inspiration dabei?

Allesamt Bücher, die mir neue Perspektiven eröffnet , mich gut unterhalten und mir auch stilistisch neue Zugänge zur Literatur gezeigt haben. Meine momentane Top10 an weiblichen Stimmen. Und in meinen Augen allemal interessanter als so ein reiner männlicher Helden-Schuber. Davon gibts in meinen Augen schon mehr als genug.


Wie sähe denn euer Schuber aus? Welche Bücher von Autorinnen würdet ihr in einen solchen Schuber packen? Wer dürfte bei euch auf keinen Fall fehlen? Über Kommentare unter dem Artikel würde ich mich freuen!

Christoph Poschenrieder – Der unsichtbare Roman

Das Notizbuch [Gustav Meyrinks] ist auch deshalb interessant, weil darin Ideen und Entwürfe für andere (nicht realisierte) Romane festgehalten sind, darunter ein „Freimaurerroman“ – ein Projekt, an dem Gustv Meyrink wahrscheinlich in den Jahren 1917/18 arbeitete, das er aber schließlich wieder verwarf (…) die Informationen darüber sind spärlich …

Theodor Harmsen, in: Der magische Schriftsteller Gustav Meyrink

Das unvollendete und wahrlich apokryphe Romanprojekt von Gustav Meyrink steht im Mittelpunkt von Christoph Poschenrieders neuem Roman. Nachdem der Münchner Romancier mit seinem letzten Werk enttäuschte, legt er nun ein hochspannendes Buch vor. Ein Buch, bei dem die Form fast noch interessanter als sein Inhalt ist.

Das Buch kreist um jenen titelgebenden unsichtbaren Roman, den Gustav Meyrink 1917 produzieren soll. Der Schöpfer des Golems und anderer zumeist satirischen Werke gilt den Machthabern in Berlin als der richtige Mann. Er soll für das Kriegsministerium einen Roman verfassen, der eindeutig die Schuldfrage am Ersten Weltkrieg klärt. Propaganda, Deutungshoheit, Spin Doctors sind keine Erfindung unserer Tage. Auch schon im Großen Krieg wollte man die Deutungshoheit über die Geschehnisse behalten. Und so soll Meyrink eben ein Buch verfassen, das einer bestimmten Partei die Schuld für den Kriegsbeginn in die Schuhe schiebt. Der Vorschlag aus dem Kriegsministerium: die Freimaurer würden sich doch anbieten.

Eingedenk seiner finanziellen Situation (ein Bankrott in Prag liegt hinter ihm, der Starnberger See vor der Haustür seiner jetzigen Immobilie) willigt Meyrink ein. Doch dann das: völlige Schreibblockade. Das Einzige, das Meyrink gut von der Hand geht, ist die kreative Vertröstung seiner Auftraggeber. Doch ansonsten bleiben die Seiten weiß. Keine Ideen, kein Zugriff aufs Thema, keine Vision, was er mit dem Buch anstellen soll.

Von diesen Schreibblockaden erzählt Poschenrieder durchaus humorvoll. In einer eleganten Sprache, den hohen Ton wie zuletzt in seinem Buch Das Sandkorn suchend, wirft er einen Blick in Meyrinks Seele. Doch nicht nur von den Schreibblockaden erzählt Meyrink – auch das Leben und Schaffen dieses heute schon wieder fast vergessenen Autors erzählt Poschenrieder.

Meyrinks Werdegang ist genauso ein Thema wie die Münchner Räterepublik mit all ihren turbulenten Verwicklungen. So spielt neben Meyrink auch Erich Mühsam eine wichtige Rolle sowie sein Gegenspieler- der spätere erste bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner, der den Freistaat Bayern proklamierte.

Eine Möbiusschleife als Vorbild

Ein spannendes Leben ist es, das Christoph Poschenrieder da schildert. Doch noch spannender scheint mir die Konstruktion seines Romans. Denn diese hat es in sich. So gibt es zum Einen erst einmal die in der 3. Person geschilderten Erlebnisse von Meyrink und seine Versuche, den vermaledeiten Roman zu Schreiben. Zum Anderen gibt es dann aber auch noch Erzählungen von Meyrink selbst, die dieser in der 1. Person aus der Ich-Perspektive schildert.

Dann ist Der unsichtbare Roman aber auch voll von Recherchenotizen und Trouvaillen, die sich während der Entstehung des Schreibprojekts angesammelt haben (so suggeriert es Poschenrieder zumindest in meinen Augen). Sie sorgen für so etwas wie Struktur im Roman, auch wenn die Verbindung von Recherenotiz und dem nachfolgenden Kapitel manchmal etwas versteckt erscheint.

Eine Erzählung wie eine Möbiusschleife

Und dann ist da zuvorderst natürlich das Ende des Romans, das eigentlich wieder den Anfang des Buchs bildet. Denn plötzlich gelingt es Poschenrieder, die vorher gelesenen circa 260 Seiten in neuem Licht erscheinen zu lassen. Wie bei einem Möbiusband verdrillt und verdrahtet er höchst geschickt die einzelnen Erzählstränge seines Buchs zu einem neuem Roman, der alles davor Gelesene in einen anderen Bezug setzt. Plötzlich ergibt zuvor scheinbar Sperriges oder Widersprüchliches einen neuen Sinn. Das ist schlau gemacht und erfordert nach der Lektüre eigentlich gleich einen zweiten Durchgang des Romans. Da Capo in Romanform könnte man sagen.


Hier findet Christoph Poschenrieder endlich wieder zu Spielfreude und einer tollen Montagetechnik zurück, die durch einen wirklich eleganten Erzählton zum Vergnügen wird, wenn man sich darauf einlassen möchte. Ein Buch, das an vorherige Glanzzeiten (hier sei Das Sandkorn und Die Welt ist im Kopf genannt) anschließt.

Ruth Lillegraven – Sichel

Literatur geht ihre ganz eigenen Wege – und das gilt auch für ihre Vermittlung. Viele Bücher hätte ich nicht entdeckt, wäre ich nicht ziellos durch Buchhandlungen gewandert oder hätte mich ebenso ziellos durch Blogs geklickt oder durch Rezensionen gelesen. Serendipität nennt es der Fachmann, beglückende Zufallsfunde nenne ich es.

Auch Ruth Lillegravens Buch Sichel wanderte auf verschlungenen Pfaden auf meinen Lesestapel. Es war auf der Frankfurter Buchmesse, wo ich dem sogenannten Kaffeslabberas beiwohnen durfte. Sechs norwegische Autor*innen stellten sich und ihre Werke vor. Eine dieser Autorinnen war Ruth Lillegraven. Ganz bescheiden und zurückhaltend sprach sie von ihrem Schreiben, ihrer Poetik und dergleichen mehr.

In der Runde fiel sie mit ihrem Auftritt neben so bekannten Autorinnen wie Asne Seierstad oder dem Showman Simon Stranger nicht sehr stark auf. Aber mein Interesse war geweckt. Worüber schrieb sie? Wie liest sich ihre Prosa? Was sind ihre Themen?

Am Ende der Veranstaltung bekam jeder der teilnehmenden Blogger*innen eine Tüte mit einige zufällig zusammengestellten Werken der Kaffeslabberas-Teilnehmer*innen in die Hand gedrückt. Und in meiner Tüte: Sichel von Ruth Lillegraven. Stand mir hier wieder so ein Zufallsfund und literarischer Treffer bevor? Die Antwort lautet eindeutig ja.

Lyrik oder Roman?

Bereits die Gattungsfrage von Lillegravens Werk ist hochspannend. Denn in meinen Augen entzieht sich Lillegravens Buch ein jeder Einordnung. Am ehesten würde ich es der Lyrik zuschlagen. Dann gibt es aber auch eine Geschichte, die sich wie in einem Roman langsam vor den Augen der Leser*innen entfaltet. Diese führt ins Jahr 1877 zurück, wo wir Endre kennenlernen.

Der ist ein junger Bauer, der den heimischen Hof in Norwegen bewirtschaftet. Er verliebt sich in Abalone, heiratet und ist eigentlich dazu ausersehen, die nächste Generation zu begründen, für die der Hof Auskommen liefert. Doch dann erkrankt Endre an der Gicht und ist dazu verdammt, in der heimischen Stube zu liegen. Nur Bücher aus dem fernen Amerika werden zur Möglichkeit, der Enge der Stube und seinem geplagten Körper zu entfliehen. Und diese Möglichkeit nutzt er ausgiebig und findet auch in der Sprache Heimat.

Um ihre Geschichte zu erzählen, nutzt Lillegraven (auch formal sehr spannend) die ganzen Gestaltungsmöglichkeiten der Lyrik. So sind manche Passagen in Pfeilform gestaltet, andere Gedichte gleichen Klecksen, die sanft auf die Seite hingetupft werden. In mehrere Teile aufgeteilt erzählt Lillegraven ihre Geschichte, die der Verlag Edition Rugerup als Langgedicht betitelt.

Überzeugend in allen Belangen

Doch nicht nur die Gestaltung von Lillegravens Geschichte besticht. Auch die Art und Weise, wie sie erzählt ist großartig. Denn wenn jemand die Kunst beherrscht, zwischen den Zeilen zu erzählen und mit wenig Worten viel Atmosphäre heraufzubeschwören, dann ist das Ruth Lillegraven.

Wie sie dieses einfache Bauernleben einfängt, die Vorstellungswelt der damaligen Zeit, den Lebenshorizont der Menschen, dann ist das mehr als beachtlich. Sie schafft es präzise (oder das was ich dafür halte), die Tradition der oral history der Bauern abzubilden. Wie dort in der Stube Märchen und Legenden geschildert werden, wie das Erlebte der Generationen zuvor die eigene Welt prägt, das vermittelt Ruth Lillegraven auf faszinierende Art und Weise.

Ihre Gedichte sind mal ganz still und ruhig, dann wieder von einer ergreifenden Schönheit und sehr eindringlich. Sie weiß um das Vergängliche – und das spürt man in ihrer Prosa.

Dass dem so ist, ist natürlich nicht nur Ruth Lillegraven geschuldet. Denn auch ihr Übersetzer Klaus Anders macht einen fantastischen Job. Für mich als Laie ist Lyrik-Übertragung sowieso die Königsdisziplin der Übersetzung. Denn die Metrik und Sprachbilder einer Sprache in eine andere einigermaßen unfallfrei zu überführen, das ist schon selbst ein wahres Kunstwerk. Und Anders gelingt das mit seiner Übertragung aus dem Neunorwegischen ganz hervorragend.

Auch im Deutschen funktioniert diese sanfte, reduzierte und zielgenaue Lyrik eindrucksvoll, die Spielereien mit dem Satz und Typographien gehen auf. So macht Lyrik Spaß und ist für mich eine echte Entdeckung.


Ich weiß um die Schwierigkeit von Lyrik und ihrer Vermittlung – auch ich vernachlässige sie hier auf dem Blog sträflich. Aber hiermit möchte ich wenigstens einmal den Versuch unternehmen, um diesem Buch etwas mehr Bekanntheit zuteil werden zu lassen. Denn Ruth Lillegravens Buch Sichel hat es mehr als verdient. Das sah auch die Jury für der Hotlist so, die dieses Buch als eines der besten aus unabhängigen Verlagen nominierte. Zu recht wie ich finde, denn Sichel ist ein wirklich poetisches kleines Kunstwerk.

Ein denkwürdiger Abend

Das gab es auch noch nie. Beim Bayerischen Buchpreis wird auf offener Bühne ein nominiertes Buch zurückgezogen – und ein kleiner Skandal ist perfekt. Über einen mehr als denkwürdigen Abend.


Alles begann eigentlich wie immer. Eine Jury auf der Bühne (Sandra Kegel als Vorsitzende, Svenja Flaßpöhler und Knut Cordsen), drei nominierte Titel in der Kategorie Sachbuch und drei in der Kategorie Belletristik. 30 Minuten pro Sparte, um einen oder eine Siegerin zu ermitteln. Jede*r der Juror*innen brachte einen Vorschlag in jeder Kategorie ein. Dann die öffentliche Debatte, um so einen Siegertitel zu ermitteln. Klar nachvollziehbare Entscheidungsprozesse, offen ausgetragene Argumente und Debatten – größtmögliche Transparenz also.

Dass diese Transparenz auch ihre Schattenseiten haben kann, wurde am gestrigen Abend in der Allerheiligen-Hofkirche aber auch klar. Denn bereits beim ersten Buch in der ersten Kategorie „Sachbuch“ kam es zu einem noch nie dagewesenen Ereignis. Man könnte es auch Eklat nennen. Denn neben Jan-Werner Müllers Essay Furcht und Freiheit, in dem er für einen neuen Liberalismus plädiert, und Dieter Thomäs Warum Demokratien Helden brauchen war auch Cornelia Koppetsch nominiert. Sie betrachtet in ihrem Buch Die Gesellschaft des Zorns den Aufschwung des Rechtspopulismus als Antwort auf die Globalisierung. So weit so spannend – aufgrund des aktuellen Themas und ihres Ansatzes war das Buch für mich auch der heißeste Anwärter auf den Bayerischen Buchpreis. Doch dann das.

Nach der ersten Vorstellung des Buches wandte Sandra Kegel als Patin des Buchs ein, das man nun nicht über den Inhalt des Buchs diskutieren könne. Erste Irritationen bei mir und meinen Bloggerkolleginnen Marina Müller und Katharina Herrmann. Es hatte bislang in allen Jahren, denen wir dem Preis beiwohnten, ja auch funktioniert, über die Inhalte der Bücher zu diskutieren. Warum denn nicht jetzt?

Zweifel an Koppetschs Werk

Die Antwort folgte schnell. Denn über Koppetschs Buch schweben starke Zweifel. Es geht um übernommene und nicht kenntlichgemachte Passagen in ihrem Werk, die von anderen Denker*innen stammen. Einige der Passagen stammen – jetzt wird es durchaus delikat – aus Andreas Reckwitz‚ Buch Die Gesellschaft der Singularitäten. Jenes Buch, das vor zwei Jahren ebenfalls für den Bayerischen Buchpreis nominiert und dann an selber Stelle ausgezeichnet wurde. So stammt etwa der Begriff der Neogemeinschaften, den Koppetsch in ihrem Werk einführt, eigentlich aus Reckwitz‘ Buch. Dies merkte Juror Knut Cordsen an, der einige weitere Stellen aus Koppetsch’s Monographie zitierte, deren Übernahme aus anderen Werken nicht kenntlichgemacht wurde. Cordsen stellte am Ende seines Statements auch die Frage nach Koppetschs Ethos – ein etwas insinuirender Anwurf, da das Verfahren über Koppetschs Werk jetzt ja erst beginnt und Vorverurteilung nicht angebracht sind.

Aber dennoch ist es ein denkwürdiger Vorgang, dass die Jury dieses Buch dann zurückstellte. Im Vorfeld war Cornelia Koppetsch angeboten worden, das Buch aus dem Wettbewerb zurückzuziehen, doch die Autorin beließ ihr Buch im Wettbewerb. Alles andere hätte wahrscheinlich auch wie ein vorzeitiges Schuldeingeständnis gewirkt – doch nun schwebte ein Hauch von Tribunal coram publico durch die Allerheiligen-Hofkirche, gerade da auch die nominierten Autor*innen ja allesamt im Publikum saßen. Eine ungute Situation, die auch der spätere Gewinner Jan-Werner Müller kritisierte.

https://twitter.com/KulturGeschwtz/status/1192530870911021057

In der Folge stellte sich die einmalige Situation dar, dass nun nur noch aus zwei Büchern ausgewählt werden konnte. Aus der Suche nach dem besten Sachbuch des Jahres war eine Art Hornberger Schießen geworden, bei dem man auch den Eindruck hatte, dass sich die Jury aus zwei durchaus kritikwürdigen Werken nun zu einem Siegertitel durchringen musste. Alles andere als optimal das Ganze und wirklich einmalig. Auch der Sieg von Müllers Furcht und Freiheit trat für mein Empfinden völlig in den Hintergrund der Causa Koppetsch, deren Schockwellen in der Allerheiligen-Hofkirche noch lange nachzuspüren waren.

Diskussionswürdige Belletristik

Doch – the show must go on. Auch in der Allerheiligen-Hofkirche. Denn nun waren die 30 Minuten der Belletristik angebrochen. Hier standen die Werke Levi von Carmen Buttjer, Propaganda von Steffen Kopetzky und Der vergessliche Riese von David Wagner zur Auswahl. Der Tod und das Vergehen sind Themen, die alle drei Bücher verbinden. Doch mit Gemeinsamkeiten war es das dann schon. Denn so etwas wie satisfaktionsfähig war rasch nur noch ein Titel.

Zwei der drei Juror*innen sahen sich schon recht bald der Situation ausgesetzt, dass sie ihre Bücher auf verlorenen Posten verteidigen mussten. Svenja Flasspöhler merkte bei Buttjers Debüt (unter Klarnamen) an, dass sie um die Schwächen des Buchs wisse, die Autorin aber schon bald die Versprechen einlöse werde, die sie mit diesem Buch gebe.

Und auch Knut Cordsen konnte sich bald nur noch auf die guten alten Christine-Westermann’schen Kriterien à la Habe ich gerne gelesen berufen. Denn Svenja Flaßpöhler und Sandra Kegel zerpflückten Kopetzkys Buch immer mehr, bis am Ende nur noch ein gerupftes Häuflein Literatur übrigblieb (Keine interessanten Frauenfiguren! Forrest-Gump-Haftigkeit! Verpatzte Sprachbilder! Alberne Dialoge!). Auch Knut Cordsen konnte diesem Buch keine große Ehrenrettung mehr angedeihen lassen. Wenngleich ich glaube, dass dem Buch hier Unrecht getan wurde, da es deutlich besser ist, als die Diskussion den Anschein erweckte, muss ich auch sagen, dass an Propaganda wohl eher Männer ob der Thematik und Erzählweise ihre Freude haben werden.

Und so blieb Knut Cordsen dann auch nur noch die Ironie, in die er sich flüchtete ob der Frage, welches Buch denn nun wohl gewinnen werde. Denn das war nach den zuvor zerpflückten Titeln mehr als deutlich. Sandra Kegel fand nur lobende Worte für David Wagners Der vergessliche Riese. Und die beiden Jurykolleg*innen schlossen sich diesem Urteil unumwunden an. Die Zartheit, die Reduziertheit von Wagners Prosa und sein gelungener Zugriff auf das Thema lösten Begeisterung aus. Und so war es dann auch der Riese, der zur abschließenden Abstimmung dreimal in die Luft gereckt wurde. David Wagner freute sich sichtlich (oder sollte man sagen riesig?), als er dann den Löwen aus Nymphenburger Porzellan entgegennehmen durfte.

Ein strahlender Sieger: David Wagner

Meyerhoff in Bestform

Der einzige Ausgezeichnete, der schon im Vorfeld des Preises feststand, war der Preisträger des Ehrenpreises des Ministerpräsidenten. Dieser trug in diesem Jahr den Namen Joachim Meyerhoff, worüber ich mich zweifach freute. Erstens, da seine Bücher toll auf dem Abgrund zwischen Komik und Trauer wandeln. Und zweitens, da relativ sicher war, dass Meyerhoff auch eine Dankesrede halten würde. Und da ich ihn als Schauspieler sehr schätze, war meine Vorfreude sehr groß.

Zurecht, wie sich dann zeigte. Denn wenn einer eine hochkomische, mitreißende um mich über eine Minute in einen Lachkrampf zwingende Rede halten kann – dann Joachim Meyerhoff. So schilderte er seine Überlegungen, ob Ministerpräsident Söder überhaupt seine Bücher gelesen habe, wenn er ihn schon auszeichnet. Genauso erzählte er von seinem ersten Preis, den er jemals errang (ein Vogelhäuschen). Oder er nahm die Zuhörer*innen mit zurück zu seinem ersten Engagement am Gärtnerplatztheater. Eine mit Verve vorgetragene Episode mit einem betrunkenen Bass in Mozarts Entführung aus dem Serail folgte. Wenn einer weiß, wie man Pointen setzt, das Traurige im Komischen nicht vergisst und sein Publikum in den Bann zieht, dann ist das Joachim Meyerhoff. Dass er dafür den Ehrenpreis erhielt, das geht in meinen Augen mehr als nur in Ordnung. Und auch schön, dass er mit seiner Performance die negative Stimmung nach der Causa Koppetsch endgültig austreiben konnte.

Fragen über Fragen

Dass hier am gestrigen Abend beste Bücher brachial beschädigt worden wären, wie es ein etwas albern alliterarischer Artikel artikuliert, davon kann keine Rede sein. Aber dennoch bleiben auch bei mir ob dieser Transparenz und dem Umgang der Jury mit der Causa Koppetsch Fragen – auf die ich auch noch keine Antworten gefunden habe.

Wie sollte man beim nächsten Mal bei einer Diskussion auf der Bühne agieren? Wie kann man einen solchen Eklat unterbinden? Wie kann man eine Unwucht in der Diskussion verhindern und sollte man sich schon vorab über Bücher abstimmen, die auf einem ungefähr gleichen Niveau zu diskutieren sind? Und welchen Preis kann man für Joachim Meyerhoff noch aus dem Hut zaubern, damit er noch mehr solcher großartigen Dankesreden hält?

Ein Bayerischer Buchpreis, der Fragen aufwirft und der mir auf alle Fälle im Gedächtnis bleiben wird. Eben ein denkwürdiger Abend. Fand auch Arnd Stroscher, der diesmal als Buchblogger den Bayerischen Buchpreis begleitete.


Bildmaterial: Presseseite des Bayerischen Buchpreises