#verlagebesuchen 2018

Eine schöne Aktion rund um den Welttag des Buches wird 2018 wiederholt: #verlagebesuchen

Die Idee dahinter ist das Konzept der Offenen Tür. Vom 20.-23. April 2018 öffnen Verlage aus ganz Deutschland ihre Türen und gewähren der breiten Öffentlichkeit Einblicke in ihre Arbeit. Ob Verlagsführung, Lesung, Werkstattgespräch oder einfach Kaffee und Kuchen mit dem Verleger. Überall kann man sich beteiligen und erhält an diesem Wochenende Einblicke hinter die Kulissen.

Eine tolle Aktion, die ich im letzten Jahr schon einmal genutzt habe. Damals habe ich mich nach München aufgemacht, um dem Piper-Verlag einen Besuch abzustatten. Ein kleiner Bericht mit Eindrücken findet sich an dieser Stelle.

Das gesamte Programm von diesem Jahr findet sich auf der Homepage #verlagebesuchen. Viele unterschiedliche Aktionen, nach Veranstaltungsorten gebündelt lassen sich dort schon entdecken.

Ich wünsche euch auch schon einmal viele spannende Aktionen und Erlebnisse – vielleicht sieht man sich ja bei einer Veranstaltung?

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Anthony Horowitz – Die Morde von Pye Hall

Bei diesem Buch freut sich jeder Sparfuchs – denn statt einem Krimi erhält der Leser von Die Morde von Pye Hall gleich zwei Krimis in einem Buch. Da lohnt sich die Lektüre gleich doppelt!

Anthony Horowitz bleibt nach seinem Holmes-Pastiche Das Geheimnis des weißen Bandes und Der Fall Moriarty dem klassischen Krimi treu. Im Kern von Die Morde von Pye Hall steckt nämlich ein waschechter Landhauskrimi des fiktiven Bestsellerautoren Alan Conway. Dieser hat seinem Detektiv Atticus Pünd schon eine ganze Reihe von Fälle auf den Leib geschneidert. Auch der neueste Fall ist ganz althergebracht: Im verschlafenen Dörfchen Saxby-on-Avon ist die Haushälterin von Sir Magnus Pye umgekommen. Ein Mord, so mutmaßen einige, ein Unfall, so die offizielle Verlautbarung. Im Dörfchen schießen die Verdächtigungen schon ins Kraut – doch der weltberühmte Detektiv Atticus Pünd tritt erst auf den Plan, nachdem nun auch Sir Magnus Pye umgekommen ist. Denn die Todesart des Hausherren von Pye Hall ist mehr als spektakulär. Er wurde mit einem Schwert aus einer im Haus befindlichen Ritterrüstung geköpft. Wer hatte eine Motiv für den Mord an Pye? Und eventuell an dessen Haushälterin?

Über diese Frage grübelt auch Susan Ryeland, die Lektorin von Alan Conway. Denn dieser hat ein unvollständiges Manuskript abgeliefert. Dem schön gemütlichen cozy Krimi fehlt die Auflösung – das letzte und damit entscheidende Kapitel ist spurlos verschwunden. Sue macht sich an die Nachforschung, wo Conways Kapitel abgeblieben sein könnte. Doch mitten in ihre Nachforschungen hinein platzt eine Nachricht wie eine Bombe – Alan Conway ist tot, verstorben bei einem Unfall, wie es heißt. Bei Susan klingeln alle Alarmglocken – und plötzlich findet sie sich selbst in einem waschechten Krimi wieder. Was ist Wahrheit, was ist schriftstellerische Fiktion?

Mit Die Morde von Pye Hall hat Anthony Horowitz einen echten Meta-Krimi abgeliefert. Doppelbödig erzählt er zunächst einen klassischen Whodunnit-Landhauskrimi aus den 40er Jahren,  in den er raffiniert Falltüren einbaut. Denn die Nachforschungen Susans und die Handlung aus Die Morde von Pye Hall treten in Wechselwirkung. Aus dem Text extrahiert die Lektorin immer wieder neue Erkenntnisse, muss selbst wie weiland Atticus Pünd die Alibis aller Verdächtiger überprüfen und damit zum weiblichen Gegenstück des Gentleman-Detektivs werden.

Horowitz Buch ist eine gelungene Verbeugung vor dem Whodunnit, wie ihn Agatha Christie und Arthur Conan Doyle großgemacht haben – und bietet mit zahreichen Anspielungen und Verweisen allen Krimifans großes Rätselvergnügen. Dass Horowitz unter anderem Drehbücher für die britische Serie Inspector Barnaby geschrieben hat, das merkt man Conways Buch im Mittelpunkt des Buchs immer wieder an. Ein aus der Zeit gefallenes und trotzdem durch die Meta-Ebene sehr aktuelles Buch.

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Emily Ruskovich – Idaho

Mit dem Debütroman Idaho der jungen Autorin Emily Ruskovich (Deutsch von Stefanie Jacobs) ist es ein bisschen wie mit dem Basteln eines Würfels. Wohl jeder hat schon einmal im Mathematikunterricht oder bei ähnlichen Gelegenheiten einen solchen Würfel entwerfen müssen. Zunächst wird der Grundriss auf Papier gezeichnet, die Laschen vorbereitet und ausgeschnitten. Anschließend wird das platte Gebilde gefalzt, geklebt und Stück für Stück zusammengefügt, sodass aus dem planen Grundriss am Ende ein dreidimensionales Objekt entsteht. Mit Ruskovich‘ Buch verhält es sich ähnlich, denn ähnlich wie beim Basteln muss auch hier im Buch der Leser einige Arbeiten erledigen, ehe sich das Kunstwerk ganz entfaltet.

Dabei sind die Grundflächen des erzählerischen Würfels bei Emily Ruskovich verschiedene Jahre und Figuren. Sie entscheidet sich nämlich gegen eine chronologische Erzählweise und die Fokussierung auf eine Person – stattdessen erzählt sie multiperspektivisch und deckt eine Zeitspanne von 1973 bis 2025 ab. In deren Mittelpunkt steht Wade, ein Mann aus Idaho, der bei einer Katastrophe alles verloren hat, was man verlieren kann.

Während des Holzmachens ermordet seine Frau Jenny aus heiterem Himmel seine Tochter May mit einem Beil. Wades zweite Tochter June kann fliehen und entkommt in die dichten Wälder Idahos – und bleibt verschwunden. Aufgerollt wird diese Katastrophe, das Davor und Danach durch mehrere Figuren; mal forscht Wades zweite Ehefrau Ann in der Geschichte ihres Mannes, mal wird die Geschichte aus Sicht einer Zellengenossin in Jennys Gefängnis erzählt. Stück für Stück puzzelt sich für den Leser so die Wahrheit über jenen schicksalhaften Tag in der Natur Idahos zusammen.

Vergessen und Erinnern

Das Großartige an Idaho ist nun die doppelte Erzählweise, die Ruskovich wunderbar zur Anwendung bringt. Denn neben der Katastrophe ist das zweite bestimmende Thema des Buchs die Erinnerung. Nach dem Schicksalsschlag entgleitet Wade nämlich allmählich die Erinnerung. Er rutscht in eine Form der Demenz ab. Seine zweite Frau Ann muss mitansehen, wie er immer wieder Aussetzer erleidet und zunehmend die Kontrolle über sein Leben und seine Vergangenheit verliert:

„Aber dann spürt sie in seinen verletzlichsten, würdelosesten Momenten ab und zu, dass die Ereignisse seines Lebens noch nicht ganz verloren sind, dass jener eine Nachmittag, an den sich nicht mehr erinnert, immer noch in in ihm ist, ihn ausfüllt. Verschwunden ist nur die konkrete Textur seiner Erinnerungen, nicht das Gefühl. Allmählich vermischt sich alles, verschwimmen die Linien, bleibt nur ein Gedankenort ohne Gestalt. Aber es gibt immer noch einen Mittelpunkt, ein Datum und eine Zeit, um die herum sich das zunehmend Gleichförmige sammelt und anordnet. Manchmal weiß er alles. Kennt die Namen von May und June. Weiß vom Brennholz und vom Pick-Up. Manchmal erwischt ihn die Erinnerung selbst wie eine herabsausende Axt, so scharf und präsent, dass er glaubt, es wäre erst gestern geschehen.“

Ruskovich, Emily: Idaho, S. 264

Die junge Amerikanerin zollt diesem Vergessen und Erinnerung nun Tribut, indem sie ihren Roman so erzählt, wie auch die Erinnerung funktioniert – nämlich nicht chronologisch, sondern in Schlaglichtern. Immer wieder kommen Fragmente aus der Vergangenheit ans Tageslicht und bilden so langsam das erzählerische Ganze.

Neben den Figuren und der behutsamen Annäherung an die Geschichte weiß auch die im Buch omnipräsente Natur zu überzeugen. Gelungen fängt Emily Ruskovich das Gefühl ein, was es bedeutet, in den Bergen und in der rauen Natur ein Leben zu verbringen. Ihre Charaktere sind überlebensgroß, besitzen psychologische Tiefe und bewegen sich in einem Umfeld, das erzählerisch gut funktioniert. Ein starkes Debüt von einer Autorin, von der man noch einiges erwarten darf!

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Jan Weiler – Kühn hat Ärger

Nach Kühn hat zu tun legt Bestsellerautor Jan Weiler nun den zweiten Roman um den so durchschnittlichen und genau deshalb so fabelhaften Kommissar Martin Kühn vor. Doch auch wenn die Hauptperson ein Kommissar ist, im Buch eine Leiche vorkommt und viel ermittelt wird – ein Krimi ist das Buch von Jan Weiler deshalb noch lange nicht. Auch sein neuer Hausverlag Piper hat das erkannt und das Buch deshalb mit der allumfassenden Bezeichnung Roman versehen. Doch was macht das Buch jetzt zu einem guten Roman und wenn dann höchst mittelmäßigen Krimi? Dieser Frage soll in der Besprechung nun nachgegangen werden.


Der Inhalt des Buchs ist dabei recht schnell umrissen. Kühn und sein Kollege Steirer werden zu einem Tatort an der Tramhaltestelle Großhesseloher Brücke im München gerufen. Ein junger Mann mit Migrationshintergrund wurde zu Tode geprügelt – und das in München, der weltoffenen Isarmetropole. Die Spuren, denen Kühn nachgeht, führen ihn schnell ins benachbarte Villenviertel Grünwald. Dort hatte sich das Mordopfer entgegen aller Wahrscheinlichkeiten in ein junges Mädchen aus einem gutbetuchten Haushalt verliebt. Kühn versucht diese Liebesgeschichte zu ergründen und taucht dabei in eine Welt der oberen 10.000 ein, die von seiner Durchschnittsexistenz genauso weit entfernt ist, wie Kühn manchmal von seinen eigenen Mitmenschen. Wie können diese Menschen so unbeschwert leben, wo sich Kühn selbst doch einem Berg aus Sorgen gegenübersieht: sein Sohn droht ihm zu entgleiten, die Beziehung zu seiner Frau erkaltet, die Bausubstanz des Eigenheims verseucht, die finanzielle Situation mehr als angespannt? All das steht in krassem Kontrast zum täglichen Brot des Martin Kühn – und genau deshalb übt die Grünwalder Hautevolee und ihre Lebensweise einen so großen Reiz auf den Hauptkommissar aus.

Die Ausgangslage ist somit klar: Kühn muss sich der Suche nach dem Täter widmen, Zeugen vernehmen, Spuren auswerten und seiner eigenen Nase folgen. Grundlagen also für einen klassischen Ermittler-Krimi, wie es ihn zuhauf in den Bücherregalen der Republik gibt. Allerdings ist dieser Krimi, der das Grundgerüst des Romans ist, auch der schwächste Aspekt dieses Buchs. Man könnte bei der Lektüre stellenweise gar den Eindruck bekommen, Jan Weiler habe gar keine Lust auf einen Krimi, so lieblos baut er diesen in seinen Roman ein. Der Leser muss sich nicht viele Gedanken über mögliche Täter machen, denn Weiler präsentiert nur ein kleines Figurentableau, bei dem den routinierten Krimileser schnell klar wird, wer als Mörder infrage kommen könnte. Er verschleiert die Spuren in dem Fall dilettantisch, in einem anderen Subplot im Buch verrät er den Täter gleich zu Beginn. Das nimmt von vornherein viel Spannung aus dem Buch und lässt mich als Krimifan manchmal ratlos zurück.

Schlechter Krimi, guter Gesellschaftsroman

Auch gleicht sein Roman stellenweise einem Joghurt (der im auch reichlich unmotiviert eingebundenen Subplot eine große Rolle spielt), der aber schlecht gerührt wurde und eine entsprechend klumpige Konsistenz aufweist. Ein erzählerischer Fluss ergibt  sich im Buch nämlich auch nur bedingt: mal schreibt Weiler dutzende von Seiten aus der Sicht des Opfers, um dann diese Vorgeschichte mitten im Geschehen abzubrechen, dann widmet er einen Exkurs Kühns Wohnort, der Weberhöhe. Anstelle dann bei seinem Kommissar zu bleiben und daraus eine stringente Entwicklung abzuleiten, unterbricht Weiler den Fortgang der Handlung mal mit einem seitenlangen Exkurs über Bonsai-Parkett, dann konterkariert er seine Beschreibung mit einer über mehrere Seiten erstreckenden „schönen“ Liebesszene, die auch den Schriftsetzer überrascht haben dürfte. Die wild wuchernden Gedanken des Kommissars tuen ihr übriges zur bröckeligen Erzählstruktur – doch warum ist das Buch dann trotzdem gelungen, wenn es so viele kritikable Punkte an dem Buch gibt?

Porträt eines Durchschnittsmenschen

Wenn man Kühn hat Ärger nicht als Spannungsroman liest, sondern als Studie eines Durchschnittsmenschen, dann läuft der Roman und sein Autor zu Höchstform auf. Dass die Hauptfigur zufällig ein Kommissar ist und dementsprechend notgedrungen ermitteln muss, um so die Erwartungen zu erfüllen, das ist für Weiler eher eine Pflichtaufgabe, die er nicht besonders gut löst. Aber immer wenn es um Martin Kühn, seine Gedanken und seine vielschichtige Persönlichkeit geht, dann hat das Buch Tiefe. Wohl jeder dürfte sich in Kühns zahlreichen Grübeleien und Problemen wiederfinden. Egal ob es Fragen sind wie diese, warum vom Einkommen am Ende des Monats so wenig überbleibt oder die Frage, wie man den Begriff der ehelichen Treue definiert die den Hauptkommissar Kühn umtreiben – Weiler schafft es einfach unglaublich gut, die Sorgen und Nöten eines Durchschnittsmenschen zu schildern. Gerade auch wenn Kühns Leben in der Münchner Vorortsiedlung mit Familienwagen vor der Haustür und verseuchten Wänden im Keller auf den Lebensstil der sorglosen und im Geld schwimmenden Familien trifft, bei denen Koiteiche und ein extra Handschuh zum Knacken der Austern existiert, dann ist dieses Buch richtig stark.

Empathisch und nuanciert schildert Weiler unterschiedliche Lebensentwürfe und zeigt einen Menschen, der sich inmitten seiner eigenen Gedanken und Grübeleien zu verrennen droht. Das macht diesen Martin Kühn so sympathisch und lebensnah. Und diese Lebensnähe versöhnt dann schlussendlich auch etwas mit dem dürftigen Krimi. Ein Hauptkommissar, der sich jüngst erst in Therapie wegen Burn Out begeben hat, der sein Privatleben nicht immer sauber von seinem Job trennen kann: hier ermittelt kein genialer Analytiker, kein raubeiniger Macho mit Intuition und kein Sherlock. Hier steht einfach ein ganz normaler Mensch mit Stärken und Schwächen im Mittelpunkt. Und das ist es, das Kühn hat Ärger ausmacht.

Fazit

Als Krimi eine Enttäuschung, als Roman eines Durchschnittsmenschen große Klasse!

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Tom Hillenbrand – Hologrammatica

Mehr Schein als Sein

Die Welt im Jahr 2088: alles ist zusammengewachsen, Strecken über Kontinente können innerhalb von Stunden zurückgelegt werden, auch das Weltall dient als Rohstoffquelle und Refugium. Kaum ein Auto hat mehr ein Lenkrad, die Technologie übernimmt. Und die dunklen Seiten des Fortschritts werden einfach mit jeder Menge Hologrammatica überdeckt, einer Art Tünche, die alle Flächen überzieht und verschönert. Straßenschilder, Werbung, Häuserfassaden, Animationen – alles übernehmen nun die Hologramme und bieten damit eine perfekte Illusion.

Hinter die Abgründe hinter der Hologrammatica schaut Tom Hillenbrand in seinem zweiten futuristischen Krimi nach Drohnenland. Denn auch wenn das Buch einem Sci-Fi-Auto mit Hollogrammtica-Lack gleicht – der Motorblock dieses Gefährts ist immer noch ein Noir-Krimi, wie er klassischer nicht gebaut sein könnte. Schon auf den ersten Seiten geht es damit los: eine Dame betraut den Ich-Erzähler und Quästor (Anfang des 21. Jahrhunderts hätte man wohl auch noch Privatdetektiv oder Kopfgeldjäger gesagt) Galahad Singh mit einem Auftrag. Die Programmiererin und Entwicklerin Julien Perrotte ist verschwunden. Für ihren Arbeitgeber arbeitete sie an der Verschlüsselung digitaler Gehirne, die dazu dienen, einfach seinen Geist in einen Körper, genannt Hülle importieren zu können. Dinge wie Geschlechts- oder Ethniengrenzen gehören damit ein für alle Mal der Vergangenheit an, denn der Wechsel in eine andere Hülle funktioniert in Sekundenschnelle. Sogar Quantencomputer ersetzen 2088 bereits teilweise die althergebrachten Gehirne. Ein großes Spannungsfeld also, in dem sich Perrotte bewegte. Galahad Singh macht sich von Paris ausgehend daran, den Spuren der verschwundenen Computerexpertin zu folgen. Wer hätte ein Interesse daran, Perrotte zu entführen? Oder führt die Programmiererin gar selbst etwas im Schilde?

Hologrammatica bietet ganz großes Kino. Neben dem klassischen, an Autoren wie Raymond Chandler oder Dashiell Hammett geschulten Krimi überzeugt auch die unglaublich detailverliebte und in ihrer erdachten Größe schier überbordende Welt des Jahres 2088. Hillenbrands Einfälle und Kreationen sind teilweise erschreckend nahe, mal wünscht man, sie würden nie Realität. Begriffe wie Knossos-Anomalie, Google-Stripper, Deather, Milchtüten, Turing-Zwischenfall oder Brain-Crash begegnen dem Leser beinahe auf alle Seiten – worauf man sich natürlich auch einlassen muss. Hilfe bietet da das Register im Anhang, das bei kurzzeitigem Informations-Overload des Cogits Abhilfe schafft. Detailgesättigt ist sie, diese Welt der Hologrammatica. Allerdings wirft Hillenbrand seine Leser nicht zu abrupt ins kalte Wasser, seine Vision entfaltet er Stück für Stück, auch führt er die einzelnen Erzählelemente gut ein und verbindet sie dann zu einem stimmigen Ganzen.

Am stärksten ist Hologrammatica immer dann, wenn der Autor unsere gesellschaftlichen Konventionen weiterentwickelt und damit Reflektionspotential bietet: welchen Sinn hat beispielsweise eine Orientierung an Geschlechtern und Äußerlichkeiten, wenn man sich sein Äußeres einfach selber aussuchen kann und nach Lust und Laune seinen Verstand in einen beliebigen Körper pressen kann? Wozu führt diese neue Unverbindlichkeit, wie entwickeln sich Gesellschaften weiter, gerade auch wenn äußere Einflüsse wie etwa die dramatischen Folgen des Klimawandels immer mehr an Bedeutung gewinnen?

Auch ist es erfrischend zu lesen, einmal mit den Augen eines homosexuellen, an Depression leidenden Privatdetektivs durch eine Ermittlung geführt zu werden. Angesichts der Hologramm-Hochglanzoptik allenorten bietet dieser Kniff einen schönen Bruch. Dass Galahad Singh mit Fortschreiten des Buchs etwas an Kontur verliert und dagegen der immer größer werdende Plot in den Vordergrund tritt, verzeiht man angesichts dessen Ambition und Komplexität gerne.

Man muss Tom Hillenbrand größten Respekt zollen für seine Akribie und Fantasie, mit der er eine Welt an der Schwelle zum 22. Jahrhundert gezeichnet hat. Dass das Buch in manchmal leicht überladen wirkt und kleinere Schwächen in der Figurenzeichnung aufweist – geschenkt. Hier schreibt ein höchst innovativer Autor, auf dessen nächste literarische Erfindungen man mehr als gespannt sein darf!

 

[Beitragsbild: Pixabay]

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