Percival Everett – James

In Mark Twains Die Abenteuer des Huckleberry Finn blieb für ihn nicht viel Platz im Rampenlicht – dafür holt ihn der US-amerikanische Schriftsteller Percival Everett nun umso eindrücklicher nach vorne auf die ganz große literarische Bühne: die Rede ist vom Sklaven Jim, der in Everetts Roman James seine Lebensgeschichte erzählen darf und so literarische Würde und Würdigung erhält.


Es ist eine Szene, die Leserinnen und Leser aus Mark Twains Die Abenteuer des Huckleberry Finn gut kennen. Zu Beginn verstecken sich Tom Sawyer und Huckleberry Finn wie weiland Max und Moritz giggelnd vor dem Sklaven Jim, dem sie einen Streich spielen wollen. Der tumbe Mann bekommt zwar mit, dass sich da irgendetwas draußen in den Büschen vor der Veranda versteckt, aber statt der Sache auf den Grund zu gehen, schläft er ein und erwacht wenig später desorientiert und ist ein billiges Opfer des juvenilen Unsinns von Tom und Huck. So zumindest, wenn man Twains Variante der Ereignisse Glauben schenken darf.

Ganz anders ist es, wenn man nun James von Percival Everett liest. Auch er steigt mit der Szene ein, lässt sie aber durch die Augen von Jim selbst erleben, wie auch das gesamte Buch einen literarischen Gegenschuss zu Twains Klassiker darstellt.

Ein literarischer Gegenschuss zu Mark Twain

Hier ist es nun ein intelligenter und alerter Mann, der durchaus die Urheber des Streichs auszumachen vermag und der sich über seine zugedachte Rolle in dem ganzen Mummenschanz nur allzu bewusst ist – der diese Rolle aber spielt, weil er sie spielen muss.

Percival Everett - James (Cover)

Denn eigenes Denken und eigenmächtiges Tun sind Dinge, die einem Sklaven wie Jim in den Südstaaten der USA alles andere als gut zu Gesicht stehen. Er ist stets Verfügungsmasse seiner weißen Besitzer – wird im Lauf des Buchs aber zu seinem eigenen Herr und verwandelt sich vom unterwürfigen Diener zum Herren seiner selbst, der in einem letzten Akt der Selbstermächtigung schließlich auch seinen verstümmelten Sklavennamen ablegt und zu James wird sich damit als Individuum aus seiner Fremdbestimmung löst.

Auslöser dieses Prozesses ist der Umstand, dass Jim verkauft werden soll. Seine Besitzerin Miss Watson möchte ihren Sklaven veräußern, wovon er Kenntnis erlangt und in den Norden zu fliehen beschließt, um später seine Familie zu sich holen zu können.

„Was heißt das, Miss Watson will dich den Fluss runter verkaufen?“

„Ich bin’n Sklave, Huck. Sie kann mich verkaufm, wenn sie will. Un scheints will sie. Un eh sie das macht, musstich weglaufm.“

„Aber du hast ne Familie.“

„Heißt gar nix, wenn du n Sklave bist“

Percival Everett – James, S. 42

Auf der Flucht durch den Süden der USA

Beistand auf seiner Flucht erhält er von Huckleberry Finn, der sich dem flüchtigen Sklaven anschließt. Mal zusammen, mal getrennt erleben die beiden Abenteuer, wobei das Wort Abenteuer eigentlich zu positiv konnotiert ist für das, was den beiden widerfährt. So wird Jim verkauft, findet sich in der Gegenwart zweier Lügner und Betrüger wieder, muss auf einem Schaufelraddampfer oder einem Sägewerk Dienst tun und wird als Höhepunkt aller Täuschungen und Scharaden als hellhäutiger Schwarzer Teil einer Minstrel-Gruppe, in der sich Weiße per Blackfacing als Schwarze ausgeben, um sich über diese lustig zu machen.

Ähnlich wie auch Colson Whitehead in Underground Railroad ist auch James eine Reise durch den rassistischen Süden und dessen allgegenwärtiger Gewalt. Eine Reise, die immer wieder schaudern macht, wenn man mit James dessen Unterdrückung und Verfügung über seine Existenz miterleben muss, vor allem da dieser James alias Jim ein durchaus hellsichtiger Erzähler ist, der des Lesens und Schreibens mächtig ist, im Kopf mit Voltaire debattiert und sein eigenes Martyrium schließlich zu Papier bringt, auch wenn der Preis dafür ein unmenschlicher ist.

James ist für mich eine Lektüre, die auch den Vorgängerroman Die Bäume zumindest für mich noch einmal deutlich zugänglicher machte, wo ich zuvor mit Everetts nachtschwarzer und reichlich überdrehter Racheburleske haderte. Aber wie er hier den Rassismus, die allgegenwärtige Gewalt gegen Schwarze, die Unterdrückung und die weithin etablierte Abwertung von Leben beschreibt, daraus folgt die Gewalt und Wut, die sich in Die Bäume Bahn bricht.

Sklaverei, Rassismus und die Macht der Sprache

Zudem – und vor allem ist James aber auch ein Roman, der die Kraft der Sprache und des geschriebenen, zuvorderst aber die Macht des gesprochenen Worts eindrücklich vor Augen führt. Denn während Jim für die Weißen die Rolle des tumben Schwarzen spielt, dessen Diktion wie im obigen Zitat verwaschen und ungebildet klingt, verfügt er doch über eine Gabe, die den Weißen völlig fehlt. Wie den anderen Sklaven ist es auch ihm möglich, zwischen den Sprachen hin- und herzuwechseln, seine Besitzer im Unklaren über seine wahre Geisteskraft zu lassen – und sich blitzschnell von Beredsamkeit und Belesenheit zu stammelnder Hilflosigkeit zu verwandeln. Es ist eine Mehrsprachigkeit, deren bedachter Einsatz Leben retten, in unbedachten Momenten aber auch für große Gefahr sorgen kann.

Das führt der im Buch angewandte Kunstdialekt vor Augen, für den Übersetzer Nikolaus Stingl eine eigene deutsche Sprachversion voller Verschleifungen und phonetischer Nachbildung von Wörtern gefunden hat, um so dem speziellen Südstaatenslang von Twains und damit auch Everetts Welt eine Entsprechung zu verleihen.

Könnte man auf den ersten Blick Everetts Vorhaben, einem der wichtigsten Klassiker der amerikanischen Literatur und einen der zentralen Schlüsseltexte in der Geschichte dieses Landes eine literarische Antwort oder Gegenperspektive gegenüberzustellen, als vermessen abtun, zeigt James aber doch, welche neuen Räume und Sichtweisen ein solches Vorhaben durch eine gelungene Ausführung eröffnen kann.

James bleibt einerseits im historischen und literarischen Rahmen, weitet damit aber auch die Geschichte um die entscheidenden historischen und sozialen Aspekte, die in Twains Roman durch die gewählte Perspektive der beiden Jungen Tom Sawyer und Huckleberry Finn nicht in dem Maße offenbar werden, wie sie es hier tun.

Fazit

Percival Everett gelingt sein großes Vorhaben bravourös. James ist eine Reise in die brutale und zutiefst rassistische Geschichte der Südstaaten. Dennoch scheint auch Hoffnung hier gleich in zweierlei Form auf. Zum einen im Leben James‘, der sich der Fremdbestimmung entgegenstellt – und in der Geschichte des Landes, da der Roman auch die Anfänge des US-amerikanische Bürgerkriegs schildert und der sich anschickt, eines der dunkelsten Kapitel der US-Historie zu überwinden.

Ein literarischer Gegenschuss zu einem Klassiker, der trotz alles historischem Rahmens doch auch in die Gegenwart hineinweist und eine der großen Bruchlinien der US-Gesellschaft auf fiktional höchst spannende Weise vermisst. Große Literatur!


  • Percival Everett – James
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-446-27948-3 (Hanser)
  • 336 Seiten. Preis: 26,00 €
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Julia Jost – Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht

In diesem Frühjahr haben die langen Buchtitel Hochkonjunktur. Nach Owen Booth im vergangenen Jahr fordern heuer etwa Cho Nam-Joo , Saša Stanišić oder Slata Roschal die Tippfähigkeiten von Buchhändlern und Bibliothekarinnen heraus. Nun auch noch Julia Jost, die mit ihrem Debüt Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht einen modernen Heimatroman vorlegt, der den Mikrokosmos eines kärntnerischen Dorfs in einen großen Spielplatz der Sprache und Themen verwandelt.


Tu felix austria kann man nur immer wieder ausrufen. Die Alpenrepublik schafft es in erstaunlich hoher Schlagzahl, immer wieder neue und vielversprechende Autor*innen hervorzubringen, die sich sprachmächtig mit ihrer Heimat befassen und eine neue Form der Heimatliteratur schreiben, die sich mit dem Althergebrachten, der Region, ihren Menschen beschäftigt, dabei aber auch die Verstrickung in die Vergangenheit und die dunklen Seiten der Heimat nicht vergisst.

Raphaela Edelbauer, Leander Fischer, Valerie Fritsch, Helena Adler, Vea Kaiser oder Johanna Sebauer sind nur einige Namen in dieser Riege junger österreichischer Autor*innen, die sich in den letzten Jahren mit dörflichen Gemeinschaften und dem Miteinander unterschiedlichster Figuren auseinandersetzten.

Auch Julia Jost reiht sich nun mit ihrem wirklich außergewöhnlich betitelten Debütroman in diese Riege ein. Denn ihr gelingt mit Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht ein Roman, der vielleicht nicht ganz so sprachverliebt wie die Edelbauer, Fritsch oder Fischer, dafür aber erstaunlich reichhaltig an Themen und Setzungen ist.

Den erzählerischen Rahmen bildet ein Umzugstag, den die junge Erzählerin im heimischen Garten des Gratschbacher Hofs neunzehnhundertvierundneunzig erlebt. Dieser in Kärnten gelegene Gasthof befindet sich in der Nähe der Karwanken, die sich in der Entfernung von gut vierzig Kilometer auftürmen. Mit der Zeit dort auf dem Hof ist es eigentlich schon vorbei, als der Roman einsetzt, denn die Familie will umziehen.

Ein Umzug steht an

Und so schleppen Umzugshelfer Kiste um Kiste, aus dem Zuhause dort, das die Mutter mit Möbeln an- oder besser gesagt schon überfüllt hat. Alle kommen sie noch einmal zum Abschied um beim Umzug zu unterstützen, vom Dorfpfarrer Don Marco bis zu der Generation der Großeltern, die den Hof dort am Fuß der Karawanken begründet haben und den Umzug partout nicht verstehen können. Es ist ein großes Hallo, das die Erzählerin aus der Distanz unter einem LKW heraus beobachtet, wo ihr nur ein schnüffelnder Rauhaardackel Gesellschaft leistet.

Julia Jost - Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht  (Cover)

Durch die Fülle an Gestalten, die sich auf dem Hof die Klinke in die Hand geben entsteht ein erzählerischer Reigen, der die Figuren, den biografischen Hintergrund der Erzählerin und damit auch die Gegend, in der Josts Geschichte spielt, näher definiert und ausgestaltet.

Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht ist reich an Themen. Die Vergangenheit einer Figur als Partisanenkämpfer im slowenischen Teil des Karawankengebirges ist ebenso Thema der Erzählung wie der kaum verborgene Faschismus, der sich auch im Jahr 1994 noch als erstaunlich widerstandsfähig und hartnäckig erweist.

Von der Zeit des Zweiten Weltkriegs bis in die erzählte Gegenwart hinein bildet dieser Faschismus ein Kontinuum, das von alkoholgeschwängerten Besäufnissen, Gedenken an die gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkriegs und Weltkriegsdevotionalien bis zu einem Foto von Kurt Waldheim im Klassenzimmer der Erzählerin reicht. Es ist ein Kontinuum, das man von dem von Jost gezeichneten Bogen mühelos auch bis hinein in die Gegenwart weiterspannen könnte, in der die rechtsextremistische FPÖ kurz vor ihrem Wahlsieg bei den diesjährigen Nationalratswahlen steht.

Partisanen, Rechtsextremismus und Tod im Dorf

Aber auch der Tod als Thema ist präsent in diesem Roman. Das Erwachen der eigenen Sexualität, die den landläufigen Vorstellungen entgegensteht, das Verhältnis zur Tochter des bosniakischen Kustos des Gratschbacher Hofs, die Volksfrömmigkeit, die Konzentration auf das Wirtshaus als mindestens der Mittelpunkt des Dorfs, wenn nicht gar der Welt, von all diesen Themen erzählt Julia Jost in ihrem Debüt, das die Fülle an Themen und Figuren durch den engen erzählerischen Rahmen des einzelnen Tages gut eingebunden bekommt.

Verliert dieser so hochtourig beginnende Roman vielleicht grob aber der Hälfte des Buchs auch etwas an erzählerischer Spannkraft, ist Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht dennoch ein famoses Debüt, das zeigt, wie moderne Heimatliteratur aussehen kann und mit dem sich Julia Jost einen Platz in der vorderen Reihe der österreichischen Erzähltalente sichert.

Weitere Stimme zu Josts Debüt gibt es auch bei Juliane vom Blog Poesierausch und dem Blog Bücheratlas, die sich ebenfalls dem Buch gewidmet haben. Auch Alexander Carmele widmet auf dem Blog Kommunikatives Lesen Julia Josts Roman eine vertiefende Analyse.


  • Julia Jost – Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht
  • ISBN 978-3-518-43167-2 (Suhrkamp)
  • 231 Seiten. Preis: 24,00 €
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Maria Leitner – Hotel Amerika

Ihr Roman Hotel Amerika zählte zu einem der ersten Werke, das die Nationalsozialisten 1933 im Zuge ihrer Bücherverbrennung in die Flammen warfen. In einer Neuausgabe lässt sich nun der einst verfemte Roman Maria Leitners aus dem Jahr 1930 wiederentdecken und zeigt eine scharfsichtige Autorin, die vom Klassenkampf in einem megalomanischen Luxushotel im New York der Roaring Twenties erzählt.


Das Hotel steht jetzt vor ihnen wie eine riesenhafte, ungeheuere, hellerleuchtete Schachtel, in die unzählige Menschen, unzählige Schicksale gepfercht sind, Menschen aus allen Klassen und aus allen Teilen der Welt, Reiche und Arme, Glückliche und Elende. Hier ist alles angehäuft, Hölle und Himmel, Trauer und Glück, Krankheit und Übermut.

Maria Leitner – Hotel Amerika, S. 218

Das Hotel als Schmelztiegel der Klassen, Schicksale und Hoffnungen, Maria Leitner erzählt in ihrem 1930 erschienenen Debütroman davon, indem sie verschiedene Figuren als erzählerische Ankerpunkte in ihre Geschichte setzt. Sie alle eint, dass ihr Romanpersonal tatsächlich fast durch die Bank weg eben das ist: Personal. Ihre Figuren sind Menschen, die man in den Zimmern des luxuriösen Hotels allerhöchstens antrifft, wenn sie dieses putzen. Menschen, die hinter den Kulissen für den reibungslosen Ablauf des Betriebs im Hotel Amerika schuften müssen.

Menschen im Hotel, die arbeiten

Da ist die irische Waschfrau Shirley, die zusammen mit ihrer Mutter Celestina unter elenden Bedingungen im Hotelkomplex haust und selbst nur die löchrigsten abgelegten Textilien erhält, die aus dem Bestand des Hotels ausgesondert wurden. Das schwedische Zimmermädchen Ingrid, das unter den strengen Augen der Etagendame putzt und feudelt und Badewannen scheuert. Da ist der deutsche Küchenjunge Fritz, der überwältigt die gigantische Küchenmaschinerie im Bauch des Hotels kennenlernt. Schwarze Spüler*innen, hocheffiziente Arbeitsteilung, Schränke für das stets wohltemperierte Geschirr und inmitten des Ganzen der stellvertretende Küchenchef, der per Rohrpostanlage und Rundumblick die Maschinerie antreibt.

Maria Leitner - Hotel Amerika (Cover)

Pagen, Aufzugführer, Nachtwächter, Kellner, sie alle stehen im Mittelpunkt dieses Romans, der sich damit grundlegend von anderen Romanen aus dieser Zeit wie etwa Menschen im Hotel von Vicki Baum oder Joseph Roths Leben im Hotel unterscheidet, was angesichts des Lebens und der Beschäftigung von Maria Leitners nicht verwundert, wie es Katharina Prager in ihrem Nachwort zu Hotel Amerika herausarbeitet.

Denn Maria Leitner war eine unermüdlich reisende Beobachterin und Journalistin, die sich aus einer dezidiert linken Perspektive heraus für den Klassenkampf interessierte. Durch ihre Brüder erlebte sie den Versuch einer sozialistischen Räterepublik in Ungarn hautnah mit, ehe sie nach der blutigen Niederschlagung dieser Republik nach nur vier Monaten aus Ungarn fliehen musste.

Das engagierte Leben einer weitgereisten Journalistin

Als Tochter jüdischer Eltern im heutigen Kroatien in Varaždin geboren, berichtete Leitner als Korrespondentin für eine ungarische Zeitung als Stockholm. Für den KPD-Politiker und Verleger Willi Münzenberg schrieb sie, im Auftrag des Ullstein-Verlages reiste sie jahrelang durch die USA.

Stets vom großen Interesse für die Arbeiterfrage geleitet lernte sie New York ebenso wie Haiti, Aruba oder das Leben im Mittleren Westen kennen. Mit ihren investigativen Sozialreportage wurde sie zu einer Vorreiterin dieser Disziplin, reiste gar inkognito fünfmal nach Hitlerdeutschland, um direkt vor Ort von den Veränderungen unter den neuen Machthabern zu berichten.

Es war ein wirkliches spektakuläres Leben, das Maria Leitner lebte und das mit nur 50 Jahren sein Ende fand, als Maria Leitner auf ihrer Flucht nach Marseille trotz der Bemühungen ihres Bekannten Theodore Dreisers und Varian Frys vom ERC keine Ausreisegenehmigung erhielt. Völlig verausgabt, mittellos und verzweifelt starb die weitgereiste Journalistin und Autorin den Hungertod.

Katharina Prager kommt in ihrem umfangreichen und kenntnisreichen Nachworts in Bezug auf das Leben und das Schreiben Maria Leitners zu folgendem Schluss:

Zwischen Ullstein und Münzenberg, zwischen Neuer Sachlichkeit und proletarischer Linkskultur, zwischen Arbeiterbewegung und Feminismus überschritt Maria Leitner durchgehen institutionelle, literarische und politische Grenzen und fand dabei ganz neue Perspektiven.

Katharina Prager in ihrem Nachwort zu Maria Leitner – Hotel Amerika, S. 246

Der Klassenkampf wird geprobt

Hotel Amerika zeigt die linken Lebensthemen Maria Leitners ganz deutlich. Neben der Fokussierung auf das Proletariat in Form des in unwürdigen Zuständen hausende Hotelpersonal ist auch das Wagnis eines Arbeitskampfs eines der zentralen Themen in ihrem Roman.

Abseits einer etwas umständlich erzählten Erpressungsgeschichte einer reichen Erbin, deren bevorstehende Hochzeit den erzählerischen Rahmen des Romans bildet, sind es vor allem die Schilderungen der krassen Ausbeutung der Arbeiterschicht, der die Lektüre von Hotel Amerika so eindrücklich machen (und die die Antipathie der Nationalsozialisten gegen Leitners dezidiert linkes Erzählen anschaulich belegt).

Denn während die Hotelgäste in Luxus schwelgen, das Personal nach Lust und Laune malträtieren und den Takt der Arbeit vorgeben, hausen die Arbeitenden in engen Verschlägen und müssen zeitlich eng getaktet ihr Essen einnehmen, gegen das sogar Gefängniskantinen in Sachen Qualität und Ambiente beneidenswert erscheinen. Die Ausbeutung von Persons of Color, Frauen und den anderen Bediensteten ist das Fundament, auf dem dieses Hotel gegründet ist. Bis es den Arbeiter*innen reicht und sie mit ihrem Arbeitskampf die etablierte Ordnung und den Ablauf des Tages fast ins Wanken bringen, folgt man diesen Erkundungen des Hotelbetriebs von unten doch sehr gerne.

Fazit

Mit Hotel Amerika bringt der Reclam-Verlag ein erzählerisch interessantes Buch einer ebenso interessanten Autorin wieder zurück auf den deutschen Buchmarkt. Wie Maria Leitner von der Ausbeutung des einfachen Hotelpersonals berichtet und den Arbeitskampf im Luxushotel proben lässt, das ist eindrücklich gelungen. Gerade in Verbindung mit dem informativen Nachwort Katharina Pragers ist diesem Buch zu wünschen, dass es mitsamt seiner einst verfemten Autorin wieder ins öffentliche Bewusstsein rückt!


  • Katharina Prager – Hotel Amerika
  • Mit einem Nachwort von Katharina Prager
  • ISBN 978-3-15-011476-6 (Reclam)
  • 255 Seiten. Preis: 25,00 €
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Alex Hay – Mayfair House

Während im Haus der Ball der Saison gegeben wird, räumt eine Truppe um die ehemalige Haushälterin das Herren – oder besser Damenhaus leer. Alex Hay transferiert in Mayfair House den klassischen Heist-Novel in die edwardianische Ära und macht damit erfreut damit die Herzen aller Downton Abbey-Nostalgiker.


Die Park Lane in London im Jahr 1905: hier befindet sich das spektakuläres Herrenhaus der de Vries‘. In Sachen Status ist dieses Haus ganz weit vorne. Eine Vielzahl an Zimmern, eine Bibliothek, ein Bakkaratzimmer, Kapelle, Vestibül und ein repräsentatives Treppenhaus. Dieses Anwesen hat alles, was sich der standesbewusste und mehr als wohlhabende Londoner zur Beginn des 20. Jahrhunderts nur vorstellen kann.

War in London jemals ein Haus mit einem solchen Übermaß an Prunkt, Protz und Pracht verziert gewesen? Wüsten aus eiskaltem Marmor, Öden aus glänzendem Parkett. Die Wände mit französischer Seide bespannt, im Rokokostil vertäfelt und durch Pilaster gegliedert. Und alles elektrifiziert: Spannung, die in den Wänden pulsierte, elektrische Kronleuchter, so groß wie Windmühlen. Monumentale Gaskamine. Unendliche Glasflächen, die stechend nach Essig rochen.

Und in allen Räumen echte Schätze: atemberaubende van Dycks, kolossale Kristallschalen, überquellend von Nelken. Kunstgegenstände aus Gold, Silber und Jade, Putten mit Augen aus Rubinen und Zehennägeln aus Smaragden. Mit Zebrafellen bezogene Sofas im Empfangssalon, Bakkarat-Tische aus Elfenbein und Nussbaum, rosa- und onyxfarbene Flamingos vor den Bädern. Die Bibliothek mit der teuersten privaten Büchersammlung in Mayfair. Das Rosenholzzimmer, der Rote Salon, der Ovale Salon, der Ballsaal. Ein Raum wie der andere mit Pfauenfedern und Lapislazuli verziert und einem unerschöpflichen Lilienvorrat geschmückt.

Nichts davon konnte Mrs King heute noch beeindrucken.

Alex Hay – Mayfair House, S. 14 f.

Nein, Mrs King ist wirklich nicht mehr zu beeindrucken. Denn ihr, die als emsige Haushälterin den Laden zusammenhielt und für die Bewirtschaftung des prunkenden Gebäudes sorgt, wurde soeben gekündigt. Ein nächtlicher Besuch im männlichen Dienstbotentrakt wurde ihr zum Verhängnis – weswegen sie nun auf eine Rache sinnt, die es in sich hat.

Verlobungsball und Raubzug in einem

Denn während sich die Erbin Miss de Vries mit dem Gedanken trägt, einen Ball zu geben, legt Mrs King derweil eine erstaunliche kriminelle Energie an den Tag. Sie schart eine Gruppe von Frauen um sich, darunter die Schauspielerin Hephzibah und die Unterweltgröße Mrs Bone. Sie alle wollen gemeinsam das luxuriöse Anwesen leerräubern, während Miss de Vries gleichzeitig im Haus einen Ball gibt, auf dem ihre Verlobung bekanntgegeben werden soll.

Alex Hay - Mayfair House (Cover)

Diese unterschiedlichen Stränge verknüpft Alex Hay nach einem schnellen Einstieg mit einem Countdown, der die Kapitel einleitet und der die vierundzwanzig Tage in rascher Folge herunterzählt, ehe Ende Juni 1905 die allesentscheidende Nacht stattfindet. Dabei zeigt May die mannigfachen Vorbereitungen für den Ball und den Coup die sich widersprechen und bei denen sich – ganz genrekonventionell – Interessen, Pläne und Beteiligte gegenseitig in die Quere kommen, was der Brite mit viel Lust am Pomp und dem Clash der vielen weiblichen Figuren inszeniert.

Hat das Genre Genre des Heist-Movies oder des Heist-Plots nicht erst seit Eric Amblers Topkapi oder der vor einem knappen Vierteljahrhundert erschienen Oceans-Reihe Reihe von Steve Soderbergh immer wieder neue Interpretationen erlebt (man denke nur an die höchst erfolgreiche Netflix-Serie Haus des Geldes), so verschmilzt Hay mit großer Lust den Herrenhausroman (oder hier vielmehr Damenhausroman) mit dem leichtgängigen Krimiplot, bei dem Männer wirklich nur eine Randerscheinung darstellen.

Das ist unterhaltsam gemacht, hat durch die beiden konträren Abendplanungen Drive und wurde von Regina Rawlinson in ein passend altmodisches Deutsch gekleidet. Hier ist von Schmu und Kalamitäten die Rede – und man beaugapfelt sich gar. All das lässt das historische Flair dieser überwiegend im Mayfair House spielenden Geschichte wirklich aufleben.

Fazit

Insgesamt gelingt Alex Hay mit diesem Roman ein historischer Roman, der einerseits im Herrenhaus-Ambiente schwelgt, auf der anderen Seite aber mit den Dienstmädchen und den anderen am Clou beteiligten Frauen jene Figuren in den Blick nimmt, die in zeitlich ähnlich gelagerten Romanen eher nur am Rande vorkommen. Das macht aus Mayfair House einen kurzweiligen Lesespaß, der nicht nur England-Nostalgiker gut unterhalten dürfte!


  • Alex Hay – Mayfair House
  • Aus dem Englischen von Regina Rawlinson
  • ISBN 978-3-458-64440-8 (Suhrkamp)
  • 405 Seiten. Preis: 20,00 €
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Stephanie Bishop – Der Jahrestag

Menschliche Beziehungen, insbesondere die Ehe, sie können durchaus komplex sein. Stephanie Bishop stellt in ihrem Roman Der Jahrestag eine solche Beziehung in den Mittelpunkt und blickt ganz tief hinein in ein kompliziertes Gefüge aus Nähe und Abstoßung, großer Entwicklungsbogen inklusive.


Es hätte die Gelegenheit sein sollen, um die angespannte Beziehung wieder in sprichwörtlich ruhigeres Fahrwasser zu führen. Zusammen mit ihrem Mann Patrick will die Schriftstellerin Lucie anlässlich des bevorstehenden Hochzeitstags eine Schiffsreise von Australien nach Japan unternehmen. Dabei plant sie als Überraschung einen Zwischenstopp in den USA ein. Denn Lucie, die unter ihrem Zweitnamen Joy-Beth alias J.B. Blackwood publiziert, hat es nach Jahren des unterdurchschnittlichen literarischen Erfolgs mit ihrem neuesten Buch geschafft. Sie ist für einen großen, prestigeträchtigen Preis nominiert und soll diesen in den Staaten erhalten.

Mit diesem Preis und der ganzen Kreuzfahrt sollen die Wogen geglättet werden, die sich in letzter Zeit zwischen den beiden nicht nur in Sachen Alter weit auseinanderliegenden Partnern aufgetürmt haben. Denn während Lucie mit ihrem neuen und so ganz anderen Roman reüssiert, ist ihr Mann Patrick zunehmend ausgebrannt. Als Regisseur und Dozent feiert er immer größere Erfolge, was aber nicht ohne einen Tribut an seine Freizeit und seine Kraftreserven abgeht. Immer eingeengter fühlt er sich, was auch auf die Beziehung zu seiner Frau durchschlägt. Und nun also die Reise nach Japan, ein neuer Start, Zeit für Erholung und Zweisamkeit.

Ehemann über Bord

Stephanie Bishop - Der Jahrestag (Cover)

Doch damit ist es in Stephanie Bishops Roman nicht weit her. Denn während der Überfahrt kommt es zu einem großen Streit zwischen Lucie und Patrick. Inmitten eines Sturms geht ihr Mann über Bord und wird kurze Zeit darauf tot aus dem Meer gefischt. Eine Tragödie, die Lucie völlig aus der Bahn wirft, fällt doch der Moment ihres größten schriftstellerischen Triumphs mit dieser Tragödie zusammen, die aufgrund Patricks Prominenz für viel öffentliche Aufmerksamkeit sorgt.

Um wieder zu sich zu kommen, fliegt die Schriftstellerin zu ihrer Schwester in Australien, wo sie auf Ruhe und Abstand hofft. Während sie den Verlust zu verarbeiten sucht, erinnert sie sich in zunehmend Maße der komplexen Beziehung zu Patrick, die alles andere als leicht war. Der Beginn der Romanze zwischen ihr, der jungen Studentin, und ihm, dem arrivierten Dozenten, die unvergesslichen Momente, aber auch die erlittenen Verletzungen sind Thema der Rückschau, die uns Stephanie Bishop Stück für Stück serviert.

Je weiter Lucie in dieses Gespinst namens Ehe vordringt, umso desillusionierender wird das Ganze, bis sich sogar Fragen am Unfallverlauf Patricks stellen…

Die Sezierung einer Ehe

Ähnlich wie Lauren Groff in Licht und Zorn oder Claire Fuller in Eine englische Ehe ist auch Der Jahrestag ein Roman, der eine Ehe, deren Verlauf und Abgründe mit genauem Blick seziert und dekonstruiert. Stück für Stück zertrümmert die australische Professorin für Kreatives Schreiben die heile Welt von Lucie und Patrick und zeigt zwei facettenreiche Figuren im Ringen miteinander. In den richtigen Momenten nicht ganz konkret, dann wieder sehr detailliert und wenig schmeichelhaft ist diese Porträt Lucies, das Stephanie Bishop in Der Jahrestag zeichnet.

Besonders schön ist die Tatsache, dass Bishop diese genaue Introspektion der Ehe mit einer wirklichen Entwicklung ihrer Heldin zu verknüpfen weiß. So hält der über 450 Seiten lange Roman eine Schlusspointe bereit, der als in puncto Charakterentwicklung und Handlungsbogen die zuvor vielleicht etwas statisch erscheinende Innensicht hinter sich lässt. Souverän hält die Autorin die Fäden in der Hand und serviert ein intensives Ende, das in Verbindung mit der gekonnten Dekonstruktion dieser Ehe dafür sorgt, dass Der Jahrestag neben ähnlich gelagerten Romanen aufs Beste bestehen kann.

Fazit

Die Verzweiflung einer Frau, der Kampf um Abstand von Erlebtem und die Aufrechterhaltung einer wie auch immer gearteten Ordnung, all das sind Themen, mit denen sich dieser von Kathrin Razum aus dem Englischen übersetzten Roman beschäftigt. Ein genauer Blick auf ein kompliziertes Verhältnis, ein großer Handlungsbogen, ein Ehemann über Bord – Der Jahrestag hält psychologisch fein ausgearbeitete Unterhaltung bereit, die für mein Empfinden durchaus etwas mehr Aufmerksamkeit auf dem Buchmarkt verdient hätte. Neben den schon erwähnten Autorinnen Claire Fuller und Lauren Groff reiht sich Stephanie Bishop als souveräne Erzählerin hervorragend ein!


  • Stephanie Bishop – Der Jahrestag
  • Aus dem Englischen von Kathrin Razum
  • ISBN 978-3-423-28346-5 (dtv)
  • 464 Seiten. Preis: 26,00 €
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