Das Literarische Quartett und ich

Warum nicht selber einmal Literarisches Quartett spielen? Vor zwei Wochen war es soweit und ich durfte im Rahmen der Frankfurter Buchmesse an einer besonderen Ausgabe des Quartetts mit Gastgeberin Thea Dorn teilnehmen. Was ich dabei so erlebt habe:


Es war ein Aufruf auf der Internetseite des Literarischen Quartetts, den ich zufällig beim Surfen entdeckte und der mich neugierig machte. Dort wurde dazu aufgerufen, sich beim ZDF zu melden, wenn man als Zuschauer selbst einmal beim Literarischen Quartett mitmachen möchte. Neben aufgezeichneter Sonderausgaben wie dem U21-Quartett gab es schon auf der vergangenen Buchmesse in Leipzig zwei solcher Runden, einmal mit Zuschauer*innen und einmal mit Buchhändler*innen, die in der Glashalle mit Gastgeberin Thea Dorn über diverse Neuerscheinungen diskutieren durfen.

Nun also das Ganze in Frankfurt, wohin ich mich sowieso begeben hätte. Die Bewerbung ans ZDF sollte man gleich mit einem Titel flankieren, über den man gerne auf der Bühne diskutieren wollte. Zur Auswahl standen die Bücher der beiden letzten Ausgaben des Literarischen Quartetts, von denen ich mir Damenopfer von Steffen Kopetzky zum Wunschbuch erwählte (damals vorgestellt von Cara Platte aus der U21-Ausgabe, die mit Adam Soboczynski, Juli Zeh und Gastgeberin Thea Dorn über das Buch diskutierte).

Auf der Bühne in Frankfurt

Pass für die Literaturbühne des Literarischen Quartetts
Pass für den Auftritt auf der Literaturbühne in Frankfurt

Zwei Anrufe und eine Mail später herrschte Gewissheit: ich darf in Frankfurt als literaturkritischer Laie mit auf der Bühne diskutieren. Das Ganze war war allerdings noch mit einer Umentscheidung verbunden, da mir nun vonseiten der Redaktion die Titel V13 von Emmanuel Carrère oder Vaters Meer von Deniz Utlu zur Auswahl gestellt wurden, die ich zwei Wochen später in Frankfurt präsentieren sollte. Unbesehen entschied ich mich für Utlu, bei dem mich die auseinanderklaffende Kritik reizte, die das Buch seit dem Vortrag eines Textausschnitts bei den diesjährigen Tagen der deutschsprachigen Literatur erfuhr. Dort fiel der Text in weiten Teilen der Jury durch, nach Veröffentlichung des Buchs mehrten sich aber die lobenden Stimmen, gar eine Nominierung für den Bayerischen Buchpreis heimste das Buch ein. In meinen Augen also gutes Diskussionsmaterial, weshalb ich mich blind für Utlus Text entschied.

Spannend blieb auch die Frage der Mitdiskutierenden. Außer der Auswahl der weiteren Bücher (Sinkende Sterne von Thomas Hettche und Gittersee von Charlotte Gneuß) und der Mitteilungen von Zeit und Ort, an denen ich mich vor der gemeinsamen Bühne von ARD, ZDF und 3sat einzufinden hatte, gab es keine Informationen. Bewusst hatte ich im Vorfeld darauf verzichtet, mir die Diskussionen zu den drei Titeln in den regulären Ausgaben des Literarischen Quartetts zu Gemüte zu führen, um möglichst unvoreingenommen und frei von Argumentationsfiguren oder Fremdinterpretationen in die Diskussion zu gehen.

Diskussion unter Zeitdruck

Gespannt traf ich also Freitag Nachmittag vor Ort im Foyer der Buchmesse ein, wo es dann in die Maske ging und ich anschließend Gastgeberin Thea Dorn und die weiteren Mitstreitenden kennenlernte. Ich durfte die Bühne mit der Wuppertaler Deutschlehrerin und Aron Broks teilen, der neben seinen Texten für die taz jüngst auch mit seinem Buch Nackt in der DDR – Mein Großvater Willi Sitte und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat reüssierte. Nachdem die Reihenfolge der Titel festgelegt wurde und die Zeit für die Diskussion zunehmend schrumpfte (schließlich musste auf der Bühne passgenau an den nächstfolgenden Gesprächspart inklusive Umbau übergeben werden), konnte es dann losgehen.

Wir stürzten uns in die Diskussion zu den drei Werken und waren uns mal weniger einig (im Fall Thomas Hettches), mal gab es einen größeren Konsens (wie im Falle von Charlotte Gneuß). Auch die Diskussion zu meinem an letzter Stelle vorgestellten Patenbuch von Deniz Utlu arbeitete interessante Aspekte heraus und stand für eine reizvolle Diskussion, die Thea Dorn gut zu steuern wusste. Natürlich war die gnadenlos herabzählende Zeit definitiv zu kurz, um vertiefend in Debatten einzusteigen und verschiedene Aspekte an den Büchern eingehender zu beleuchten – einen großen Spaß hat es aber trotzdem gemacht, mit meinen beiden Mitdiskutant*innen und Thea Dorn als Moderation zu streiten und für die Titel zu werben.

Was bleibt?

Die Diskutant*innen, leider ohne Aron Broks

Was bleibt von dem Abend im Foyer auf der Buchmesse? Leider keine bleibende Erinnerung außer ein paar Fotos im Backstage und einem gemeinsamen Eintrag in das Frontispiz unsere Diskussionstitel – denn diese Ausgabe des Literarischen Quartetts wurde vom ZDF zwar professionell gefilmt und übertragen, aber eben nicht archiviert und ist damit leider nicht nachschaubar. Das ist wirklich schade, war das Diskussionsniveau für mein Empfinden doch durchaus vorzeigbar und stand hinter manch anderer regulären Ausgabe des Quartetts nicht nennenswert zurück.

Was ich aber für mich mitnehme, ist die Erkenntnis, wie viel Spaß mir es macht, coram publico über Bücher, Bewertungen, literarische Motive und subjektive Leseeindrücke zu diskutieren. Sollte sich die Möglichkeit ergeben – ich wäre auf alle Fälle gerne wieder mit von der Partie!


Bildquelle Titelbild: Lichtbildforum.de

Diesen Beitrag teilen

Lot Vekemans – Der Verschwundene

Lost in den Rockys. Die niederländische Dramatikerin Lot Vekemans lässt in ihrem Roman Der Verschwundene einen jungen Mann in den Rocky Mountains in Kanada verlorengehen – und blickt auf seine Angehörigen, die der Verlust auseinanderbringt.


Die Rockys, dieses Ziel hat der junge Daan klar vor Augen, als er seinen Onkel Simon in Calgary besuchen kommt. Besuchen ist für den Hintergrund seiner Reise allerdings glatt das falsche Wort. Denn vielmehr gleicht der Besuch dem Versuch einer Abschiebung oder Resozialisierung, der Daans Mutter mit der Reise zu seinem Onkel nach Calgary vorschwebt. Denn Daans Eltern kommen mit ihrem sechzehnjährigen Jungen nicht mehr zurecht und sehen nun in Simon einen rettenden Ausweg, um den Jungen wieder auf den Pfad der Tugend zurückzuführen.

Aus den Niederlanden nach Kanada

Dabei gibt es allerdings ein kleines Problem: Simon und seine Schwestern haben sich schon lange nicht mehr gesprochen. Simon floh einst vor seiner Familie in den Niederlanden nach Kanada, wo er sich verwirklichen wollte. Seitdem herrscht nun Funkstille zwischen den Parteien, ehe Simons Schwester der verlorene Sohn in Calgary wieder in den Sinn kommt, der damals mit der Familie brach und über den Atlantik nach Kanada aufbrach, um dort Karriere zu machen.

Von einer Erfolgsgeschichte dort in Kanada kann aber wahrlich nicht die Rede sein. Körperlich malade schlägt sich Simon mit Aushilfsjobs und kleineren Tätigkeiten durchs Leben und werkelt in seiner kleinen Wohnung vor sich hin. Mit der Ankunft seines Neffen kommt dieses fragile Gleichgewicht seiner Existenz aber gehörig ins Wanken. Denn wo er sich einigermaßen mit sich und seinem Lebensstil arrangiert hat, bricht nun der Junge unverhofft ins Leben, daddelt den ganzen Tag am Handy und strapaziert die Nerven des an seine Einsamkeit gewöhnten Simon, den er zudem mit seiner Forderung nach einem Besuch der Rocky Mountains malträtiert.

Verloren in den Rockys

Lot Vekemans - Der Verschwundene (Cover)

Nachdem Vekemans die Störung und Neufindung der Balance zwischen Simon und seinem jungen Neffen schildert, gibt sie die Drängen des Jungen nach und schickt diese auf der halben Strecke des Romans dann tatsächlich in die Rockys. Aber auch dort finden die beiden Männer nicht wirklich zu einem Miteinander, im Gegenteil. Trotz der Erfüllung seiner Forderung erweist sich Daan als unnachgiebig und es kommt zu einem Streit und Handgreiflichkeiten. Am nächsten Morgen ist der Junge verschwunden und eine Zeit der Suche und der Unsicherheit beginnt.

Hängt das Verschwinden mit einem anderen Vater/Sohn-Duo zusammen, das Simon und Daan vor kurzem auf ihrer Wanderung in den Bergen kennenlernten? Oder ist Daan etwas zugestoßen, hat er seine Flucht gar geplant? Simon beschließt, neben einer Kontaktierung der örtlichen Polizeibehörde auch Daans Eltern zu kontaktieren, die schnell Richtung Kanada aufbrechen.

In der Folge beobachtet Lot Vekemans das Auseinanderdriften der verschiedenen Parteien. So brechen die alten Gräben zwischen Simon und seiner Schwester wieder auf, die ihm schwere Vorwürfe angesichts des Verschwinden ihres Sohns macht. Für die Polizei rückt zunehmend Simon in den Verdächtigenkreis, nachdem sich die Spuren um das andere Vater/Sohn-Gespann nicht wirklich gut verfolgen lassen. Eine kostenintensive Suche nach dem Jungen im Berggebiet setzt ein – und alle misstrauen sich gegenseitig.

Lot Vekemans zweiter Roman

Lot Vekemans ist niederländische Dramatikerin und erfolgreiche Theaterautorin, deren Stücke auch auf hiesigen Spielplänen stehen. Nach Ein Brautkleid aus Warschau handelt es sich bei Der Verschwundene um den zweiten Roman der Autorin, der von Andrea Kluitmann aus dem Niederländischen ins Deutsche übertragen wurde und der abermals bei Wallstein erscheint.

Es ist ein Buch, das sich sehr schnell wegliest. Der Beginn mit der atmosphärischen Störung in Simons Leben, der zunächst durch den Kontakt mit seiner Schwester und dann durch die Ankunft des Jungen verursacht wird,

Alle Figuren verharren in ihrem Roman etwas statisch. Die Affäre, die sich aus der Suche nach dem Jungen heraus entwickelt, die Hintergründe zum Verschwinden, alles bleibt ein bisschen behauptet und erzählerisch nicht unbedingt sauber herausgearbeitet und begründet. Es ist mehr der Drift der Figuren, der Lot Vekemans interessiert. Die Geschichte selbst löst sich am Ende in sich selbst auf, es bleibt nichts zurück – und auch die Figuren sind als Funktionsträger an die Geschichte gebunden, ohne ein vertieftes Eigenleben zu entwickeln, das über das Buchende hinaus beschäftigen würde.

Es ist wahrlich kein schlechtes Buch, lässt Vekemans Talent zum Spiel mit ihren Figuren immer wieder durchscheinen. Und doch ist es auch ein Buch, das neben seinem letzten Endes banalen Fall des verschwundenen Jungen zu keinen weiteren Themen findet. Man geht auseinander, kommt nach der Ausnahmesituation wieder bei sich an, der Junge fliegt zurück in die Niederlande und Simon kann sich wieder entspannen. Hier fehlt es an einem bemerkenswerten Momentum, an einer Idee, die über die Beschreibung der Ausnahmesituation und der anschließenden Auflösung in Wohlgefallen hinausweist.

Fazit

Von daher ein Buch, das sich gut weglesen lässt, das genau auf soziale Dynamiken eines Duos wider Willen und später auf die Schuldzuweisungen infolge des Verschwindens des Jungen blickt. All das das ist wahrlich nicht schlecht gemacht – von dem Ganzen bleibt aber zumindest bei mir nicht allzu viel Bemerkenswertes zurück.


  • Lot Vekemans – Der Verschwundene
  • Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann
  • ISBN 978-3-8353-5534-7 (Wallstein)
  • 266 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen

Jenifer Becker – Zeiten der Langeweile

Wie sieht es aus, wenn man die Forderung der Münchner Kapelle Moop Mama ernst nimmt, die einst forderte: Lösch das Internet? Jenifer Becker exerziert es in ihrem Roman Zeiten der Langeweile durch, in dem sie ihre Protagonisten immer mehr Abschied von der (digitalen) Welt nehmen lässt. Ein Roman, der die Frage nach dem „echten“ Raum stellt und der davon erzählt, was passiert, wenn man nicht passiv sondern ganz bewusst durch die gesellschaftlichen Raster fällt. Und nicht zuletzt gelingt Becker eine präzise Kartierung unserer digitalen Gegenwart.


Fast jeder von uns pflegt ein zweites Ich in Form einer digitalen Repräsentanz im Internet. Das kann man in ausgeprägterer Form auf diversen Plattformen in aktiver Form stattfinden, ebenso kann man sich aber auch dem digitalen Raum kaum entziehen, wenn man passiv bleiben möchte. Wohl jeder von uns hat eine eigene Mailadresse, taucht in Sucheinträgen oder Online-Artikeln auf und ist damit irgendwie auffindbar. Gar nicht vorhanden ist wohl kaum jemand von uns – schon alleine, wer diese Zeilen hier liest, hat irgendwo Spuren im Netz hinterlassen. Und doch versucht Jenifer Beckers Protagonistin Mila Meyring eben das – sich so gut es geht elbst aus dem Internet zu löschen. Sämtliche Spuren im Internet zu beseitigen und so der digitalen Welt abhanden zu kommen, das ist ihr Ziel.

Während ihr Bruder zur Hochphase der Corona-Pandemie, zu der dieser Roman spielt, das Zuhause seiner Großmutter mit Maschendraht gesichert und seine Großmutter und sich so in einer Art Festung eingesperrt hat, lebt Mila zunächst noch das gegensätzliche Leben. Sie trifft sich mit Freunden, lässt sich impfen und bewegt sich in ihrem Neuköllner Kiez. Die Zeit an der Universität geht für sie zu Ende, angesichts des baldigen Ausscheidens aus dem akademischen Betrieb hält sich ihr Engagement in nunmehr digitalen Besprechungen in sehr überschaubarem Rahmen.

Von Digitalverweigerinnen und Querdenkern

Jenifer Becker - Zeiten der Langeweile (Cover)

Mit ihrem Bruder streitet sie über dessen Impfskepsis und das Querdenkertum, in das sich dieser sukzessive verabschiedet hat. Aber auch Mila wird gleich zu Beginn des Romans einen eigenen Weg in die Isolation und die Verabschiedung aus der Gesellschaft antreten. Zunächst ist es die Computerkamera, die sie bei Meetings deaktiviert, bald folgen Apps und soziale Plattformen. Immer mehr löscht sich Mila aus dem Internet und entwickelt eine an Paranoia grenzende innere Notwendigkeit, nicht mehr auffindbar zu sein. Das geht soweit, dass sie sich sogar aus einem verwaisten Literaturblog löschen lassen will, in dem sie früher einmal Textbeiträge veröffentlicht hatte.

Immer mehr kapselt sie sich von der Welt ab, löscht App um App, schränkt ihre Kontakte mit Freund*innen immer weiter ein, geht vermehrt nurmehr nachts aus dem Haus, sucht die analoge Selbstbestimmung.

War der Zusammenbruch nicht schon gewesen? Ich hatte Instagram, Facebook, TikTok gelöscht. Ich hatte beschlossen, keinen Content mehr zu posten. Meine Vergangenheit aus dem Netz zu löschen. Aus der Wissenschaft auszusteigen. Erst mal keine Dates zu haben oder keine schädlichen Kurzzeitbeziehungen zu priorisieren, die mich immer wieder aus meinem Alltag rauswarfen, weil sie entweder zu euphorisch waren oder ich regelmäßig anfing, needy zu werden, und dann früher oder später abserviert wurde.

Jenifer Becker – Zeiten der Langeweile, S. 70

Verloren im Tunnel

Während sie sich im Tunnel der digitalen und zunehmend auch weltlichen Isolation verliert, sind es andere Aussteiger, Asketen und Ermit*innen, denen sie bei ihrer Beschäftigung begegnet, angefangen bei Emily Dickinson über Hildegard von Bingen bis hin zu Christopher McCandless, dessen Rückzug aus der „Normalität“ auch der Philosoph Jürgen Goldstein in seinem Buch Die Entdeckung der Natur beleuchtete.

Jenifer Becker beobachtet ihre Heldin auf ihrer Reise in die Isolation, die sie folgerichtig bis in die Einsamkeit Norwegens führt. Doch ist es wirklich Freiheit, die sie durch ihre Digital-Diät erlangt? Und was macht uns überhaupt aus, wenn wir auf das Internet und die damit verbundenen Darstellungsformen und Möglichkeiten verzichten? Diese Fragen thematisiert Zeiten der Langeweile en passant, während Becker Milas sukzessiven Ausstieg aus der Gesellschaftsordnung beschreibt und ihr bewusstes Schlüpfen durch das gesellschaftliche Raster intensiv verfolgt.

Dabei gelingt der am Literaturinstitut Hildesheim lehrenden Autorin durch die Beschreibung der Wegnahme der digitalen Möglichkeiten eine Art des Negativ-Drucks, der durch die Skizzierung des Wegfalls der Dinge eben auch zeigt, was vorher vorhanden war. Sie entwirft auf diese Art ein Panorama der Vielfalt des Digitalen, das von der Frühform Sozialer Medien wie etwa StudiVZ bis hin zu den neuesten süchtig machenden Entwicklungen wie TikTok oder Beziehungsapps wie Tinder reicht.

Es sind auch die scheinbar unentrinnbaren Verflechtungen von analogem Leben mit digitaler Welt, die Beckers Buch offenlegt, sei es auch nur bei der Buchung eines Coronatest-Termins der ohne eigene Mailadresse so gut wie nicht möglich ist. Immer wieder scheint die Frage auf, was überhaupt noch real ist und was man an Mechanismen und Entwicklungen auch hinterfragen könnte, wenn es etwa auf einer Party realer scheint, mithilfe einer regulatorischen App namens BeReal das Feiern auf der Party im Digitalen zu inszenieren, denn die Party im Realen zu feiern.

Fazit

Das macht aus Zeiten der Langeweile einen sehr zeitgemäßen Roman in dem Sinne, dass er unser digitales Leben in all seiner Fülle und Ausprägungen zeigt, die Welt der Apps und Plattformen in die Literatur holt und darüber hinaus die Frage nach dem Entzug dieser Möglichkeiten aufwirft. Die Lebenswelt der Generation Y zwischen Neukölln und Frankfurt fängt Jenifer Becker ebenso gut ein, wie sie auch den Geist der Corona-Pandemiejahre mit all seinen Ausformungen treffend in Worte gießt. Von daher ein wirklich spannender und sehr heutiger Roman, zu dem auch Katharina Herrmann auf ihrem Blog Kulturgeschwätz bemerkenswerte Lektüreeindrücke notiert hat.


  • Jenifer Becker – Zeiten der Langeweile
  • ISBN 978-3-446-27804-2 (Hanser Berlin)
  • 240 Seiten. Preis: 23,00 €
Diesen Beitrag teilen

Andreas Pflüger – Wie Sterben geht

Der beste deutsche Thrillerautor ist zurück – und wie. In Wie Sterben geht lässt Andreas Pflüger die Hochphase des Kalten Kriegs wieder auferstehen und erzählt von toten Briefkästen, hochrahmigen Quellen und einer jungen Frau zwischen den Fronten von BND und KGB. Ganz großes Kino!


Es ist eine „hochrahmige“ Quelle, die beim Bundesnachrichtendienst große Aufregung und Hektik verursacht. Denn die Quelle namens Pilger ist ein KGB-Agent in obersten Führungskreisen, der dem Nachrichtendienst in Pullach Einblicke in den russischen Machtapparat liefern könnte. Das Problem bei der Sache: die Quelle ist führerlos und hat sich ausgerechnet die junge Nina Winter als Führungsoffizierin ausbedungen.

Nina, die bislang als Analystin in Pullach arbeitet und vor einigen Jahren mit ihrer Mutter aus der DDR flüchtete, verfügt über keine nennenswerte Geheimdiensterfahrung, geschweige denn Wissen, wie man eine derart wichtige und sensible Quelle führt und abschirmt – und doch bleibt ihr fast keine Wahl, als in Moskau den Kontakt mit Pilger aufzunehmen.

Denn der BND mit seinem Präsidenten drängt auf die weitere Führung von Pilger, der seine Unverzichtbarkeit mit einem Hinweis auf die Enttarnung Günther Guillaumes als Spion der DDR eindrücklich unter Beweis stellte. Die Quelle muss gehalten werden und so ist es an Nina, die Zusammenarbeit mit der Quelle in Moskau fortzuführen. Damit gerät sie mitten hinein in den Konflikt der Großmächte und Geheimdienste, der Spionage und Gegenspionage. Es ist ein Spiel, das keine Fehler verzeiht, will man in diesem Kampf überleben.

Eine weitere Glanztat Andreas Pflügers

Andreas Pflüger - Wie Sterben geht (Cover)

Andreas Pflüger ist der große Spezialist, was die Welt der Geheimdienste, der Spionage und der hochtourigen Action anbelangt. Das stellte er in der Trilogie um die blinde Jenny Aaron unter Beweis, das zeigte er im trotz seines Alters von knapp zwanzig Jahren immer noch lesenswerten Thriller Operation Rubikon und das bewies er auch im zuletzt erschienen historischen Roman Ritchie Girl. Wie Sterben geht setzt diese eindrucksvolle Publikationsreihe fort, wenn sie sie nicht noch einmal auf ein neues Niveau hebt.

Denn vom actionreichen Beginn mit einem im wahrsten Sinne des Wortes explosiven Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke bis zur Beschreibung des winterlichen Moskaus, in dem Nina unter der Bewachung durch KGB und Milizen irgendwie mit Pilger kommunizieren und verkehren muss, gelingt es Andreas Pflüger, große Szenen mit einer Sprache auszukleiden, die ebenso originell wie präzise, poetisch wie stimmungsgenau ist. Er zeigt Nina Werdegang von einer zielstrebigen Analystin bis hin zu einer abgebrühten Agentenführerin als durchdacht konzipierte Heldenreise. Ebenso ist es ganz Pflüger-typisch die Welt der Geheimdienste, die auch hier wieder einen Schwerpunkt bildet und die durch die Geschehnisse in Wie Sterben geht gehörig durcheinandergewirbelt wird und die Welt schlussendlich bis an den Rand einer Katastrophe bringt.

München, Moskau, Berlin

Das Ganze ist höchst abwechslungsreich gestaltet und entspinnt sich in der Handlung zwischen München, Moskau und Berlin, blickt auf die große Welt der Politik ebenso wie auf die überlebensnotwendige Symbiose zwischen Pilger und Nina, hat Raum für Romantik ebenso wie Verfolgungsjagden und besticht durch Spannung und Atmosphäre.

Neben der genau getakteten Action und dem vielschichtigen Spiel um Verrat und Vertrauen sind es auch diverse Geheimnisschichten, die Pflüger in Wie Sterben geht langsam entblättert. So sind Geheimnisse eines fiktiven Bildnisses von Anna Achmatova und in Gedichten versteckte Hinweise nur eine Facette dieses Romans, der bis zu potentiellen Verflechtungen von RAF, KGB und der Machtclique um Helmut Kohl reicht. Die Geschichte der Nachrichtendienste in der Zeit des Kalten Kriegs bekommt man hier ebenso erklärt wie das Spionage-Handwerk und die geheimdienstliche Paranoia, die den Kalten Krieg prägte und die Nina am eigenen Leib erfahren muss.

Besonders frappant sind dabei natürlich auch die Parallelen zwischen der Vergangenheit und der scheinbar nahezu identischen Lage, in der wir uns nach dem Beginn des Überfalls Russlands auf die Ukraine befinden. Dass Nina Winter als Analystin mit dem sogenannten „Erdgas-Röhrengeschäft“ befasst ist, dass die BRD im Jahr 1982 gegen den Willen der Alliierten mit der Sowjetunion abschloss und die den Grundstein für die heutige Abhängigkeit von russischem Erdgas darstellt, ist nur eine Pointe dieses trotz seines historischen Sujets erschreckend aktuellem Roman.

Fazit

Hervorragend komponiert zwischen Rückblenden auf den Werdegang und die aktuelle Situation nach dem gescheiterten Gefangenenaustausch auf der Glienicker Brücke gibt dieser Roman zu keinem Zeitpunkt Ruhe, jagt hochtourig vor sich hin und verstrickt seine Hauptfigur Nina immer tiefer in das Geheimdienstgeflecht zwischen Zarizyno, Pullach, Boxkämpfen, Elvishits und Patriarchenteich.

Ein großer Wurf, der weder vor Komplexität noch vor spannungstechnischem Anspruch und Ambition zurückschreckt und alle Versprechen einlösen kann. Wieder einmal stellt Andreas Pflüger seine ganze kriminalliterarische Klasse unter Beweis und liefert mit Wie Sterben geht einen der besten Thriller des Bücherherbstes, wenn nicht des ganzen Jahres ab!


Weitere Infos zum Tagebuch Andreas Pflügers, geografischen, inhaltlichen und historischen Informationen gibt es auf der Spezialseite, die der Suhrkamp-Verlag für den Roman eingerichtet hat. Man findet ihn an dieser Stelle. Und auch das Interview, das Alf Mayer mit Andreas Pflüger führte, sollte an dieser Stelle noch Erwähnung finden.


  • Andreas Pflüger – Wie Sterben geht
  • ISBN 978-3-518-43150-4 (Suhrkamp)
  • 448 Seiten. Preis: 25,00 €
Diesen Beitrag teilen

Anne Serre – Die Gouvernanten

Ein Herrenhaus und dessen illustre Bewohnerinnen, Die Gouvernanten, sie stehen im Mittelpunkt von Anne Serres kurzem, aber eindrücklichen Text, der sich irgendwo zwischen Märchen, Erotik und schwebend feministischer Fantasie verortet.


Da ist dieses Herrenhaus, das wie einem Märchen entsprungen scheint. Hinter einem abgeschlossenen Zaun liegt es, eine Allee führt zum Haus, Wiesen, Wälder, ein Park und ein Teich umgeben das Heim, das etwas der Zeit Enthobenes versprüht. Und auch seine Bewohner wandeln auf dem Grat zwischen Traumwelt und Wirklichkeit.

Die Gouvernanten im Herrenhaus

Denn neben einer ganzen Riege von Kindern und den Hausherren, dem Ehepaar Austeur, sind es vor allem die Gouvernanten, die in Anne Serres Roman im Mittelpunkt stehen. Mal gelb, mal rot gekleidet, geistern sie im Haus und der Umgebung umher und erweisen sich als wahre Sirenen. Ab und an erliegt ein Mann den Reizen der drei Frauen Laura, Éléonore und Inès und kann dem Locken nicht widerstehen. Wie eine Fliege, die sich zu nah an eine fleischfressende Pflanze heranwagt, so klappt dann auch das Tor hinter dem Fremden zu, der von den drei Frauen in einem Akt der Wollust dann – metaphorisch gesprochen – ebenso verschlungen wird wie die Fliege von der fleischfressenden Pflanze.

Heute Abend kommt Inès. Sie werden eine Patience legen. Sie werden über Männer reden. Und morgen, in einem Monat, in einem Jahr vielleicht wird ein anderer Fremder in ihre Sphäre treten, in diese nachtsüße Falle hinter dem goldenen Tor, das sich plötzlich wie durch Zauberhand auftut.

Anne Serre – Die Gouvernanten, S. 23

Von Fasan in Aspik und manchmal von Männern ernähren sich die Gouvernanten, wie es an einer Stelle des Romans heißt. Das tun sich auch zur großen Freude des gegenüber des Herrenhaus wohnenden Alten. Dieser beobachtet das wollüstigen Treiben der Frauen im Park dort durch sein Fernrohr aus dem Haus gegenüber und sinkt abends beglückt ins Bett danieder, wenn sich die Gouvernanten wieder einmal ganz schambefreit im Garten vergnügt haben.

Tun und Treiben rund um das Herrenhaus

Anne Serre - Die Gouvernanten (Cover)

Ähnlich wie der Alte dürfen auch wir über ein Jahr lang das Tun und Treiben dort rund um das Herrenhaus verfolgen. Anne Serre gesteht uns weit über den anfänglichen Sommer hinaus zu, Gast dort zu sein und das Miteinander der Gouvernanten sowie des übrigen Romanpersonals zu verfolgen.

Der Winter kommt, die Frauen verwandeln sich, es gibt einen Empfang und es kommt sogar zu einer Geburt – aber so etwas wie ein „normales“ Leben kommt für die Gouvernanten nicht in Frage. Sie leben ein Leben, das von ihrem Begehren und dem Gang der Natur gesteuert wird, nicht von den Regeln einer Gesellschaft, die in Anne Serres Buch sowieso mit Abwesenheit glänzt.

Vielmehr konzentriert sich die französische Autorin auf die atmosphärischen Schilderungen des verzauberten Anwesens, dessen genaue Verortung zeitlich und räumlich unterbleibt. Vielmehr zeigt sie die Gouvernanten als irgendwo zwischen Sirenen, Hekaten, Erinnyen und Evelyn de Morgans berühmten Gemälde The Sea Maidens. Mal schrumpfen sie, mal scheinen sie älter, dann wieder jünger. Sie entziehen sich einer eindeutigen Bestimmung – ebenso wie Anne Serres Roman selbst.

Ein Roman, der sich einer Einordnung entzieht

Wollte man den mit nicht einmal hundert Seiten recht knappen, aber umso eindrücklicheren Text in ein klares Genre pressen, stellt sich dieses Unterfangen als schwierige Aufgabe heraus. Das hedonistische und selbstbestimmte Leben der Frauen dort lässt sich als feministische Utopie ebenso wie als modernes Märchen deuten. Die Stimmung und Setzung dort im Haus sortieren sich irgendwo zwischen Neo-Romantik und Nicholson Bakers Das Haus der Löcher ein. Der Eros ist stets zugegen, der Leser, er ist ratlos – und folgt doch gebannt dem Treiben dort.

Patricia Klobusiczky übertrug diesen Text ebenso wie den ersten, ebenfalls im Berenberg-Verlag erschienen Roman Im Herzen eines goldenen Sommers aus dem Französischen ins Deutsche. Prickelnd, märchenhaft, feministisch, erotisch und mit einem starken naturrealistischen Einschlag kommt dieses kleine Buch daher – davon kann man sich gerne auch einmal verschlingen lassen!


  • Anne Serre – Die Gouvernanten
  • Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky
  • ISBN 978-3-949203-67-1 (Berenberg)
  • 96 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen