Deniz Utlu – Vaters Meer

Wie dem eigenen Vater nahekommen, wenn dieser nur noch mit dem Lid eines seiner beiden Augen kommunizieren kann? Der Erzähler Yunus versucht in Deniz Utlus Roman Vaters Meer ganz einzutauchen in den Lebensstrom seines Vaters, der diesen einst aus Mardin in der Türkei bis nach Hannover führte.


Ich bleibe bei dem, was ich weiß, vertraue den Bildern, die mir mein Vater geschenkt hat, von denen ich dachte, es seien wenige, aber dann war da ein Meer der Bilder und Momente: Geschenke meines Vaters an mich, der Ursprung.

Deniz Utlu – Vaters Meer, S. 251

Dieses Meer an Bildern und Momenten, Yunus taucht darin ganz tief ein. Er, dessen Namen im Türkischen Delfin bedeutet, und der damit das Meer schon im Namen trägt, spürt in Deniz Utlus Roman seinem Vater nach und dem, was diesen zu jenem Mann machte, der heute zurückgeworfen auf eine minimale Mitteilungsmöglichkeit durch Blinzeln im Pflegeheim ans Bett gefesselt liegt.

Er will ihm nahekommen und seinen Weg von Mardin inmitten der türkischen Provinz bis nach Deutschland nachzeichnen, der ihn – natürlich – mit einem Schiff übers Meer nach Hamburg und von dort später nach Hannover brachte. Die Ehe mit Yunus‘ Mutter, die acht Jahre Einsamkeit vor der Begegnung mit ihr, Jugend, Ankommen in Deutschland, eine erste Ehe, das Studium, Krisen und andere entscheidende Momente lässt der Erzähler im Laufe dieses Buch achronologisch passieren. Unterbrochen wird der Text von Reflektionen über das Verhältnis von Sohn und Vater – und Gutachten und Korrespondenzen, die den bürokratischen Kampf um das medizinische Wohl des kranken Vaters dokumentieren.

Der zweimalige Fall des Vaters

Deniz Utlu - Vaters Meer (Cover)

Er, der einst im Gespräch mit seinem Sohn schon die Gewissheit äußerte, wenn es um den Eingang ins Paradies ginge, würde er von der haudünnen Linie stürzen, über die man den Zutritt dorthin erhalte, er ist nun wirklich gefallen – und das gleich zweimal. Ein erster Infarkt in seiner Heimat in der Türkei folgte dann ein zweiter Fall, der ihn nun als das körperliche Wrack zurücklässt, der nur noch mit einem Augenlid kommunizieren kann. Ähnlich wie der auch im Buch Erwähnung findende Jean-Dominique Bauby, der in Schmetterling und Taucherglocke ebenfalls seine Lebenserinnerungen als Locked-In-Patient per Morsecode über das Augenlid diktierte, kann sich der Vater nun nur noch per Buchstabentafel in kleinen Sätzen und Anweisungen äußern.

Und so ist Utlus Text der Versuch, den Verfall des Vaters des Erzählers mit dessen Leben zu verbinden, all die kleinen und großen Abzweigungen nachzuvollziehen, die ihn aus der Türkei nach Deutschland und nun bis ins Krankenbett brachten – und um ihm nahezukommen, das eigene Leben und Werden mit dem des Vaters zu vergleichen.

Ich will mich nur an das erinnern, was mir mein Vater mitgegeben hat, wenn ich über ihn nachdenke. Mein Vater, als Erzähler, der er war , beschrieb die Dinge, wie sie sich angefühlt haben, und nicht zwingend, wie sie geschehen waren – gerade darin fühlte ich mich ihm nah, im Erzählen und Erinnern.

Deniz Utlu – Vaters Meer, S. 248

Das Meer als treffende Metapher

Das Meer ist dabei eine großartige Metapher, kann es doch verbinden und trennen. Kostbar sind Yunus Momente wie etwa ein gemeinsamer Urlaub in Vaters Heimat in Kizkalesi, in dem das gemeinsame Schwimmen im Meer zum verbindenden Element zwischen Vater und Sohn wird. Ebenso wie das Meer aber auch Menschen Kontinente und Menschen trennt, so sind es immer wieder auch Szenen der Distanz und der Fremdheit, sowohl im Leben des Vaters in der Fremde in Hannover als auch Distanz zwischen Vater und Sohn.

Deniz Utlu gelingt es, dieses Verbindende und Trennende gut herauszuarbeiten. Vaters Meer steht dabei in der Traditionslinie gleich zweier Genres oder literarischer Formen, die in den letzten Jahren zunehmend populär wurden. Da ist zum Einen die Tradition des migrantischen Blicks auf das Leben in Deutschland, in die sich neben großartigen Erzählungen wie Fatma Aydemirs Dschinns jüngst auch durch den Büchnerpreis an Emine Sevgi Özdamar und den Preis der Leipziger Buchmesse an Dinçer Güçyeter für dessen Deutschlandmärchen nun auch Deniz Utlus Erzählung einfügt. Den gesellschaftlichen Neuanfang in der Fremde in Hannover, die Verbindung mit der türkischen Heimat, die stete Sehnsucht und Verbundenheit mit dem eigenen Erbe, sie ist Vaters Meer eingeschrieben.

Zum anderen steht Utlus Buch auch in der Tradition der zahlreichen Vaterschaftsbücher, die von Christian Dittloff über André Hille bis zu – thematisch ähnlich gelagert und auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stehend – Necati Öziri, der in Vatermal einen ähnlichen Komplex auf etwas reduzierte Art und Weise bearbeitet. Die Prägung durch den Vater, die Kontinuitäten oder die Emanzipation von tradierten Rollenbildern und Verhaltensweisen, all das sind Themen von Vaters Meer, ebenso wie diese Buch natürlich auch die neue Beziehung zwischen Mutter und Sohn ohne die Gestalt des Vaters zeigt.

Divergierende Wertungen

Ebenso wie man diese zwei Traditionslinien ausmachen kann, so gibt es auch in der Bewertung des Romans zwei Richtungen in Form sehr divergierende Pole, die mich noch einmal neugieriger auf das Buch gemacht haben. So nahm Deniz Utlu mit einem Romanauszug am Bachmannpreises 2023 teil, bei der er als letzter Teilnehmer aus seinem Manuskript zum Buch las. Die Urteile der Jury waren dabei überwiegend ablehnend, die Sprachlosigkeit des Vaters würde nicht auf sprachlicher Ebene sondern nur auf inhaltlicher Ebene verhandelt, die Konventionalität des Erzählens und die Monotonie waren dort geäußerten Vorwürfe an den Text, die den Romanauszug damit aus dem Feld der Wettbewerber schlugen.

Ganz anders nun die Bewertung angesichts des abgeschlossenen Textes, der viel Lob in den Feuilletons hervorruft und sogar für den Bayerischen Buchpreis nominiert wurde. Und auch ich neige in meinem Urteil über Vaters Meer deutlich letzterer Position zu. In meinen Augen ein wirklich gelungener Roman, der deutsch-türkische Biografien ebenso wie das Zusammenkommen und Auseinanderdriften einer Familienkonstellation neben der Sprachlosigkeit und dem Abschied einer prägenden Vaterfigur verhandelt – und das auf literarisch überzeugende Weise, indem Deniz Utlu immer wieder starke Bilder für seine Erzählung findet und seinen Roman in verschiedenen Erzähltraditionen verortet.


  • Deniz Utlu – Vaters Meer
  • ISBN 978-3-518-43144-3 (Suhrkamp)
  • 384 Seiten. Preis: 25,00 €
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Rachel Yoder – Nightbitch

Zwischen Bücherbabys, künstlerischer Selbstverwirklichung und ungewöhnliche Erziehungsansätze. Rachel Yoder schreibt in Nightbitch über die Anforderungen an eine junge Mutter – und ihre Metamorphose zu einer Hündin.


Alles beginnt zunächst noch recht gewöhnlich mit ein paar Haaren. Diese finden sich allerdings an Stellen, an denen sie nicht hingehören. Zudem macht das Volumen ebenjener Haare der namenlosen Protagonistin in Rachel Yoders Roman Sorgen, denn so ganz normal scheint diese neue Haarpracht nicht zu sein:

Zugegebenermaßen wirkte sie haariger als sonst. Ihre widerspenstige Mähne stand ihr um Kopf und Schultern wie ein Wespenschwarm, die Brauen schoben sich in ungehemmten Wachstum über ihre Stirn wie Raupen. Am Kinn hatte sie sogar zwei schwarze Bosten entdeckt, und im entsprechenden Licht – ehrlich gesagt, in jedem Licht – schimmerte dort auf ihrer Oberlippe, wo die Haare nach der letzten Laserbehandlung nachwuchsen, ein Bartschatten. Waren ihre Unterarme immer schon so buschig gewesen? Hatte der Haaransatz immer schon bis an ihren Kiefer gereicht? Und waren dunkle Büschel auf den Zehen eigentlich normal?

Rachel Yoder – Nightbitch, S. 10

Von einer Mutter zur Hündin

Von ihrem Mann belächelt nimmt die nur als „Die Mutter“ bezeichnete Frau immer mehr Veränderungen an sich wahr. Die Zähne werden spitzer und länger, es wächst ihr plötzlich Fell – nur ihr Mann will es nicht wahrhaben. Er tut sämtliche Veränderungen ab und pflegt weiterhin seine Haltung der Ignoranz, die er gegenüber seiner Frau und ihrer Rolle als Mutter an den Tag einnimmt.

Rachel Yoder - Nightbitch (Cover)

Obwohl er zusammen mit der Protagonistin einen jungen Sohn hat, glänzt er tagelang mit Abwesenheit und überlässt sämtliche Erziehungsaufgaben und Care-Arbeit seiner Frau. Verständnis für seine Partnerin gibt es bei ihm nicht, weder für ihre Erschöpfung noch für die Schwierigkeiten, die das Hineinfinden in die neue Rolle als Mutter bedeutet.

Derweil droht die junge Mutter zunehmend an ihrer neuen Rolle als Mutter zu verzweifeln. Eine Karriere als Künstlerin hat sie trotz vielversprechender Ansätze aufgegeben, stattdessen bestimmen nun Muttermilch und eintönige Tage zuhause das Leben der jungen Frau. Durch Zufall besucht sie in der lokalen Stadtbücherei die Gruppe der Bücherbabys – mit den anderen Müttern dort aber fremdelt die Künstlerin sehr. Sie sucht sich einen anderen Weg aus der neuen Isolation, die das Dasein als Mutter für sie bedeutet. Nightbitch heißt ihr Alter Ego, das sie sich erschafft – und das sich bald auf haarige Weise verselbstständigt.

Mein hündisches Herz

Ähnlich wie bei einem Werwolf wird auch in der Mutter der animalische Trieb immer stärker. So übt das rot glänzende Fleisch in der Kühltheke plötzlich einen immer stärker werdenden Reiz auf die junge Frau aus. Gierig schleppt sie es kiloweise nach Hause. Vor der Haustür tauchen nächtens Hunde aus der Nachbarschaft auf. Sie selbst verwandelt sich auch in Tier, reißt plötzlich Kaninchen und übt mit ihrem Sohn den Gang auf allen vieren und lässt diesen dann schon mal in einer Hundehütte übernachten.

Nightbitch erzählt von der Verwandlung in eine Hündin und vom Animalischen, das wir in unserem Alltag zu unterdrücken versuchen. Rachel Yoder erzählt plakativ, manchmal geradezu grell, von überforderten Müttern, Selbsthilfekursen und diesem unersättlichen Verlangen nach Fleisch und Tod. Das klingt in seiner theoretischen Anlage zunächst reichlich plump, entwickelt dann aber einen Sog, der auch viele Einsichten über Mutterschaft und Überforderung beschert.

Fazit

Mit Nightbitch sortiert sich die Autorin irgendwo zwischen Sarah MossSchlaflos, Mareike Fallwickls Die Wut, die bleibt und Doireann Ní Ghríofas Ein Geist in der Kehle ein. Yoder gelingt ein Roman, der von den Schwierigkeiten erzählt, die es bedeutet, Mutter zu werden und seine eigenen Bedürfnisse unterzuordnen. Partnerschaftliches Unverständnis, überhandnehmende Anforderungen und die Potentiale, die plötzlich in einer tierischen Metamorphose lauern.

Das beleuchtet ihr Buch auf unterhaltsame Art und Weise, das sich von der Komik bis zum Horror unterschiedlichster Stilelemente bedient, die Yoder tatsächlich zu einem überzeugenden Ganzen zusammenführt.


  • Rachel Yoder – Nightbitch
  • Aus dem Englischen von Eva Bonné
  • ISBN 978-3-608-98687-7 (Klett-Cotta)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
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Wolf Haas – Eigentum

Was bleibt vom Leben nach dem Tod? Und wie ist das mit dem alten Versprechen, jeder könne sich ein Eigentum verschaffen, wenn er sich nur anstrengt und spart? Wolf Haas macht in autofiktionale Manier Inventur und betrachtet das Leben seiner Mutter – und das was am Ende bleibt.


Sie ist an ihrem eigenen Ende angekommen, die Mutter des Erzählers, der auf den Namen Haas hört. Er hat sich ins Altersheim zu ihr begeben, um ihr auf den letzten Metern Gesellschaft zu leisten. Sie, die sie sich in ihren eigenen Erinnerungen verirrt, ihrem Leben und ihrer Lebensleistung will Haas nachspüren, oder wie er es in seinem typischen Stil schildert, den man so auch von seinen Brenner-Romanen oder Werken wie Das Wetter vor 15 Jahren kennt:

Dafür muss ich jetzt ihr Leben nachstricken. Aus einem inneren Zwang heraus. Bis zum Begräbnis bin ich fertig, und dann bin ich es los, die Erinnerung und alles. Ein schneller Text. Und weg damit. Ein Text, der davon lebt, dass er mit dem Tod um die Wette rennt (nur noch zwei Tage). Keine Zeit für Formulierungen. Oder Selbstzensur. Gratuliere, super Idee.

Wolf Haas – Eigentum, S. 9

Und so springt Haas immer wieder hin und her, zwischen den Lebenserinnerungen seiner Mutter, die einst aufgrund ihres Intellekts die Schule und anschließend einen Servierkurs besuchen durfte, ehe der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs alle geplanten Lebensläufe zerstörte. Er selbst reist den Orten ihres Lebens nach, besucht ein Hotel in der Schweiz, in dessen Zwillingsgebäude seine Mutter nach einem Dienst beim Flugwachkommando diente und versinkt während des Besuchs im Altersheim und an prägenden Lebensstationen immer wieder in eigenen Erinnerungen und gedanklichen Abschweifungen, sollte er eigentlich doch auch sein Programm einer Poetikvorlesung langsam zu Ende bringen, von dem aber nichts außer der Titel steht.

Ein typischer Wolf Haas-Roman

Eigentum ist ein typischer Wolf Haas-Roman, auch wenn hier keine eigentlicher Plot im Sinne eines seiner Krimis um Simon Brenner im Mittelpunkt steht. Aber der Plot, um ihn ging es Wolf Haas ja erkennbar wenig in seinen bisherigen Büchern. Vielmehr zelebrieren seine Titel ja schon immer das Abschweifen der Gedanken und das Ausweichen vor allzu dicken roten Erzählfäden.

Wolf Haas - Eigentum (Cover)

Wie schon beim Interview, das den Rahmen seines Romans Das Wetter vor 15 Jahren bildete und in dessen Verlauf sich erst langsam die Handlung herausschälte oder bei seiner phlegmatischen Kultfigur Simon Brenner geht es auch hier ähnlich umständlich zu. Haas‘ Sätze stehen für sich bisweilen markant schief und krumm da und enteilen der erzählten Gegenwart immer wieder in die Erinnerung (was er ja in der Einleitung seines Romans selbst schon so als literarisches Konzept formuliert und absolut einhält).

Es ist auch der Humor, der typisch für das Schreiben des österreichischen Autors ist. So weckt etwa das greise Wegschlummern vor den vollen Suppentellern im Altersheim beim Erzähler Assoziationen zu einer alten Werbekampagne aus England, in der gewarnt wurde: „Vorsicht, die meisten Menschen ertrinken in seichten Gewässern!“

Oftmals erscheint der schwarze Humor als Bewältigungsmittel der eigenen Hilflosigkeit, um das absehbare Sterben der eigenen Mutter irgendwie zu verarbeiten. Bisweilen erfährt Haas als Erzähler sogar die Gültigkeit von Friedrich Nietzsches Worten der Tragödie, die sich als Farce wiederhole, etwa wenn er im noblen Schweizer Hotel auf Spuren seiner eigenen Mutter mit den vom Mund abgesparten Schweizer Franken zahlen möchte, nur um festzustellen, dass diese nach einer Währungsreform gar nicht mehr gültig sind.

Ein Mutterbuch aus Sohnperspektive

In solchen Momenten verbinden sich Humor, Lebenserinnerung und Einfühlen in die eigene Mutter ganz großartig. Überhaupt: Eigentum ist ein Mutterbuch aus Sohnperspektive, das die Fülle der Vaterschaftsbücher in letzter Zeit gut kontrastiert. Haas spürt hier dem Leben einer Frau nach, die beständig im Clinch mit anderen Menschen ihres Dorfes dort irgendwo in der Mitte Österreichs lag. Und deren Lebensmotto eines war, nämlich Sparen, Sparen, Sparen – stets mit dem großen Ziel des Erwerbs von Immobilieneigentum vor Augen.

So sammelte sie schon während ihrer Zeit als Servierkraft in der Schweiz beständig Franken, um sie nach Hause zu schicken, wo von dem Geld ein Haus errichtet werden sollte. Immer wieder war die Wohnsituation Thema, war die Wohnung mit achtundzwanzig Quadratmetern zu klein für die vierköpfige Familie, schrieb Haas‘ Mutter an Behörden, rackerte und sparte sich ab, um wie Sisyphos immer wieder die Unmöglichkeit ihres Traums vor Augen gestellt zu bekommen, schon etwa durch die Erfahrungen der Hyperinflation in ihrem eigenen Geburtsjahr 1923, die für eine Entwertung sämtlicher Vermögen sorgte.

Der Quadratmeterpreis ist immer einen Schritt voraus

Wenn es eine Erkenntnis gibt, die dem Leben dieser Frau innewohnte, dann der, das man sich mühen und eilen kann, wie man möchte, der Quadratmeterpreis, er ist einem stets einen Schritt voraus. Das zeigt Wolf Haas in den Erinnerungen, in der dieses Phantasma eines eigenen Heims immer wieder Thema war und an dessen Ende tatsächlich die eigene Immobilie steht. Nur befindet sie sich jetzt auf dem Friedhof in Form von circa 1,7 Quadratmetern, dafür mit unverstellter Bergsicht, wie der Erzähler in einem dieser Momente hilflos-schwarzen Humors feststellt

Was bleibt am Ende? Dokumente und Formulare, Geldnoten und das letzte Eigentum sind es, die dem Erzähler von seiner eigenen Mutter bleiben und die sich in diesem Wettlauf zwischen Text und Tod herauskristallisieren. Die Schreiben und das Geld entwerten sich und das Eigentum, es ist auch ein flüchtig Ding, frühestens, wenn die Bank zur Räumung der Immobilie auffordert, spätestens, wenn es ans Sterben geht. Eigentum ist möglich, aber nicht für „einfache“ Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. Nicht damals, nicht heute. Das ist die bittere Erkenntnis, die Eigentum innewohnt.


  • Wolf Haas – Eigentum
  • ISBN 978-3-446-27833-2 (Hanser)
  • 160 Seiten. Preis: 22,00 €
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Thomas Willmann – Der eiserne Marquis

Zehn Jahre. So lange hat Thomas Willmann nach seinem Sensationsdebüt Das finstere Tal nichts mehr von sich hören lassen. Nun ist er zurück und legt mit Der eiserne Marquis einen innerlich wie äußerlich wuchtigen Roman vor, angesiedelt irgendwo zwischen sprachlichem Barock, Opulenz, Horror und Frankenstein-Neuinterpretation, der von der alten Sehnsucht erzählt, die eigenen Grenzen mithilfe der Technik zu überwinden.


Es ist die erste Begegnung mit dem Stahl eines Messers, die im Erzähler von Thomas Willmanns zweitem Roman die Faszination für alles Metallene und Mechanische weckt. So erzählt er in Form einer Beichte von jenem Zeitpunkt, als einst ein Messer in den Bauch seiner Mutter drang, um ihn per Kaiserschnitt auf die Welt zu befördern. Der Urgrund jener Faszination war gelegt, die ihn zeitlebens nicht mehr loslassen soll und die ihn in letzter Konsequenz in jene deprivierte Lage bringt, aus der heraus er in einem Kerker seine Lebensbeichte vor ein paar Ratten ablegt.

Ja, vor euch sitzt ein Mörder – und leugnet es nicht. Oder, genauer, denn lasst mich nicht jetzt schon wortbrüchig werden und halbe Wahrheit nur auftischen: Vor euch sitzt einer, der zwei Leben hatte. Und im ersten davon zum Mörder ward. Der aber – und drum gesteh ich’s frei, ohne mich um Eure Verdammnis oder Absolution zu scheren – in seinem weiten die Buße auch tat. Dem in seinem zweiten Leben dann alles genommen, gemordet ward. Dass er nun nichts mehr zu verlieren hat, nichts mehr zu erwarten.

Also kommt her, wenn Ihr mögt, und hört mich an. Lasst Euch nieder auf dem speckigen Stein, oder scharrt Euch ein genehmes Plätzlein, im Staub, da vor mir.

Kommt her, meine Ratten und lauscht.

Ich will euch meine Geschichte erzählen.

Thomas Willmann – Der eiserne Marquis, S. 8

Dieses Leben, in dem der Erzähler zum Mörder wurde, sich neu erfand, um schlussendlich als Beichtender vor den Ratten im Kerker zu enden, Willmann erzählt es als groß angelegten Bilderbogen und Sprachrausch, der sich, ganz wie es der Erzähler in seinen vorausgeschickten Worten ankündigt, in zwei Teile stellvertretend für die zwei Leben aufteilt.

Aus der Provinz in die Kaiserstadt

Dieses Leben führt ihn im Jahr 1753 aus der Provinz nach Wien, wo er auf Initiative seines Oheims zum Lehrling eines Uhrmachers wird. Die Uhrmacherei, ihre filigrane Mechanik und die Technik faszinieren ihn ja schon seit der ersten Episode mit dem Messer, die er uns zu Beginn präsentiert. Erfüllung fand er im kleinen Dörfchen in K— an der T—- aber nicht. Dort gingen die Uhren noch sprichwörtlich anders, waren es doch „ungeschlachte Instrumente, die man hier baute, ihr Werk mit den derb-eckigen Holzzähnen offen entblößt im unverkleideten Eisenrahmen: In grobe Stundenbrocken und Minutenfetzen hackten und rissen sie Gottes ungeteilte Zeit mit hinkenden Ticken.“ (S. 25).

Thomas Willmann - Der eiserne Marquis (Cover)

In Wien hingegen findet er bei einem geduldigen Uhrmacher und dessen Frau Aufnahme. Während er sich in seiner Freizeit mit der Anfertigung von filigranen Spielereien und Versuchen beschäftigt, fasziniert ihn auch das Leben in der Kaiserstadt, das so viel schneller, lauter und bunter ist als jenes in der Provinz, der er entstammt. Nicht nur technische Verfeinerung seiner Fertigkeiten erfährt er dort in Wien, auch die Liebe findet er dort – allerdings in Form eines mehr als deutlichen Klassenunterschieds.

So entflammt er für Amalia, die Tochter eines Grafen aus dem Umfeld des Königshofs. Obwohl diese Liebe natürlich nicht sein darf, finden die beiden jungen Menschen Mittel und Wege, um sich für diverse Rendezvous zu treffen und zu begegnen.

Doch wie es klassischerweise mit einer solchen nicht standesgemäßen Liebe im historischen Roman ein Ende nimmt, so auch hier. Die Amour fou endet in einer Katastrophe und der Erzähler erfindet sich als „Jacob Kainer“ neu. Nach einer Episode als Eremit und Soldat im Dienst des Königs von Preußen macht er nach einer Kriegsverwundung auf dem Krankenlager die Bekanntschaft mit einem französischen Marquis, dem das Talent des Erzählers für alles Technische sowie dessen Faszination fürs Filigrane nicht verborgen bleibt.

Der eiserne Marquis als Bruder Frankensteins

Jenes zweite Leben wird zu einem, das man als einer Art französischer Variante von Mary Shelleys unsterblichen Klassiker Frankenstein oder Der moderne Prometheus lesen könnte. Denn wie einst Götz von Berlichingen, als der sich der Marquis auf einem rauschenden Ball einmal passend verkleidet, weist auch der französische Adelige eine Prothese anstelle seines Arms auf. Bei dieser handelt es sich allerdings um eine ungleich feinere und durchdachtere Variante, für die der Marquis Ersatz benötigt. Denn sein Arm verfällt immer mehr und schneller – und nun soll ihm der Erzähler eine neue hochfunktionale Hand aus Eisen anfertigen.

Doch das technische Projekt wächst sich bald zu einem aus, das schon bald keine Grenzen mehr kennt. So ist der mechanische Arm nur der Anfang, denn schon bald reißen der Marquis, sein Victor Frankenstein Jacob plus der Gehilfe Mael in ihrem Streben nach technischer Vervollkommnung und Überwindung des Todes sämtliche ethische Barrieren nieder.

Der eiserne Marquis erzählt vom Vertrauen auf die Technik als Lösung aller irdischen Unzulänglichkeiten. Wandelt Willmann in der ersten Hälfte des Romans noch auf recht klassischen (um nicht zu sagen hinlänglich bekannten) Pfaden in Sachen Bildungsroman und Liebe gegen alle zeithistorischen Widerstände, so schält sich in der eindrucksvolleren zweiten Hälfte des Buchs die Technologiegläubigkeit als großes Thema heraus, dem der Erzähler und der Marquis verfallen sind.

Ein historischer Roman mit Anleihen der Horrorliteratur

Da werden seltene Zitteraale importiert (die man aus den Beschreibungen Alexander von Humboldts kennt), Experimente an Mensch und Tier durchgeführt, die mesmerisierend Vorrichtungen und damit frühe Vorläufer der Elektrik getestet. In ihrem Drang nach Erkenntnis und Überwindung der menschlichen Beschränkungen in Sachen körperlicher Fähigkeiten und Sterblichkeit kennen die Beteiligten kein Einhalten mehr. Damit positioniert Willmann seinen eisernen Marquis sowohl inhaltlich als auch zeitlich zu als einen frühen Vorläufer der Horrorliteratur, der in Verwandtschaft zu Klassikern des Genres wie Mary Shelleys Frankenstein oder E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann steht.

Was im ersten Teil noch etwas handelsüblich und im zweiten dann zunehmend spannend wird, ist auch in seiner ganzen erzählerischen Anlage als rückschauende Lebensbeichte ebenfalls recht konventionell angelegt. Somit wäre das Ganze eigentlich ein historischer (Schauer-)Roman, wie man ihn in Ansätzen schon kennt – wäre da nicht diese Sprache, die Der eiserne Marquis weiter über das Gros ähnlicher Bücher hinaushebt und die auch Assoziationen zu Patrick Süskinds Das Parfum weckt.

Willmann gelingt es, über die ganze Lauflänge von über 900 Seiten einen geradezu barocken Sprachstil an den Tag zu legen, den er bravourös durchhält. Sprachburlesk sind die Schilderungen, die durch die literarische Veredelung Willmanns im zeittypischen Sound aus dem Rahmen fallen. Hier nähert sich ein Autor mit stimmigen Sprachmitteln der beschriebenen Zeit an, geht mit seinen im Roman verhandelten Themen aber auch weit über die Zeit des 18. Jahrhunderts hinaus.

Fazit

Die Fragen nach Potentialen und Grenzen der Technik, das Streben nach immer mehr Erkenntnis und technischer Abhängigkeit, das alles scheint hinter dem eisernen Marquis und dessen Streben deutlich auf. Sprachlich klar im 18. Jahrhundert verhaftet, gelingt Willmann ein ebenso unterhaltsamer wie nachdenklich machender Beitrag über Wissenschaftsgläubigkeit, Fanatismus und menschliche Hybris.

Das hätte dieses literarisch ambitionierte Werke auch durchaus zu einem würdigen Kandidaten für die Longlist des Deutschen Buchpreises gemacht – es bleibt nun nur zu hoffen, dass sich Willmanns zweiter Streich trotz der herausfordernden Länge zu einem ebensolchen Überraschungshit entwickelt, wie es Das finstere Tal vergönnt war.

Weitere Meinungen zu Willmanns barockem Sprachrausch gibt es auch bei Bookster HRO.


  • Thomas Willmann – Der eiserne Marquis
  • ISBN 978-3-95438-165-4 (Liebeskind)
  • 928 Seiten. Preis: 36,00 €
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Lauren Groff – Die weite Wildnis

Mit Die weite Wildnis fügt Lauren Groff ihrer Riege großartiger Frauenfiguren eine weitere unvergessliche Figur hinzu, die sie im Kampf gegen die Natur zeigt. Das Mädchen Zett flieht aus einem Fort der englischer Siedler in die amerikanischen Wildnis- und entwickelt schier übermenschliche Kräfte im Kampf gegen Hunger, Naturgewalten und Tiere. Wilde, archaische Literatur von eindringlicher Schönheit – und ein Gegenentwurf zur verklärenden Siedler-Romantik.


Lauren Groff ist ein Phänomen. Buch um Buch legt sie Erzählungen vor, die durch die Genauigkeit der darin entworfenen Welten wie auch die Gestaltung ihrer Figuren überzeugen. Zuletzt beschrieb sie in Matrix kraftvoll das Leben der Nonne wider Willen, die als uneheliche Schwester der Eleanor von Aquitanien in ein Kloster verbannt dieses als Bastion gegen die übergriffige Männlichkeit ausbaute.

Nun, gerade einmal ein Jahr später gibt es Neues von der Autorin zu lesen. Für Die weite Wildnis schreitet Groff etwas in der Zeit voran und wechselt für den Schauplatz ihres Romans von England zurück nach Amerika, wo der Großteil ihrer bisherigen Romane spielt.

Es ist der Weg über den Atlantik, den auch die junge Lamentatio, nun Zett getauft, zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts angetreten hat. Zusammen mit ihrer Herrin und deren Mann, dem lokalen Pfarrer, ist sie aus der englischen Heimat nach einer traumatisierenden Schiffsreise in der Neuen Welt am River James angekommen. Doch so verheißungsvoll, wie sich ihre Herrin das Leben dort ausgemalt hat, ist es mitnichten. Kälte, Entbehrung, Hunger kennzeichnen das Leben der Siedler dort irgendwo im späteren Bundesstaat Virginia. Und dann sind da auch noch die indigenen Einwohner der Region, der Stamm der Powhatan, mit dem die Siedler in einem mehr als angespannten Verhältnis leben, um es diplomatisch auszudrücken.

Ein Mädchen flieht in die Wildnis

Lauren Groff - Die weite Wildnis (Cover)

Groffs Roman setzt mit der Flucht der jungen Zett aus dem Fort ein. Wie es dazu kam, welche Erfahrungen das Mädchen bereits machen musste, all das entfaltet sich erst im Lauf ihrer Flucht aus dem Fort. Zunächst ist da einfach der schier wahnsinnig machende Hunger und die Kälte, die die waghalsige Flucht aus dem Fort als lohnenswerte Alternative erscheinen lassen. Ohne große Kenntnisse zum Überleben in der Natur entwickelt Zett schon bald einen überragenden Sinn für Gefahren und die notwendigen Schritte, die es braucht, ihrem Körper und Geist den Fortbestand zu sichern.

Manchmal geradezu halluzinierend vor Hunger ist sie, wenn sie die Wälder und Flüsse dort in der Wildnis durchstreift. Begegnungen wie die mit einem Einsiedler, der schon ganz tief in den Abgrund des Wahnsinns geblickt hat, Bären, Hagelattacken oder Jäger der indigenen Stämme fordern eine findige Überlebensstrategie der jungen Frau, die Lauren Groff als ebenso geschicktes wie verzweifeltes, hungriges wie widerständiges Mädchen zeichnet, das sich manchmal dem Tode nahe durch die Wälder schleppt.

Wo das Überleben in der Natur heute für viele als Grenzerfahrung des eigenen Selbst dient und als Austesten der eigenen Grenzen zelebriert wird, ist es für Zett eine schiere Notwendigkeit, bei der dem ihr oftmals nicht einmal Ekel bleibt, um sich Nahrung zuzuführen, die irgendwie ihren eigenen Fortbestand sichert.

Der Kampf gegen und mit der Natur

Großartig gelingt es Groff, die Kämpfe gegen den eigenen Körper, das Ringen um mentale Stabilität und die dazwischen aufblitzende Schönheit der unberührten Natur dort in der Weite Amerikas zu schildern. Die weite Wildnis ist ein Survival-Thriller, eine Beschwörung der Schönheit der Schöpfung, die mit dem Vordringen der Siedler schon bald ihr Ende finden sollte – und das Porträt einer Frau, die im Kampf gegen und mit der Natur Kräfte entwickelt, die nur staunen lassen.

Wer diesen Roman liest, erhält einen ungeschönten Eindruck, wie es damals war, als die ersten englischen Siedler ihren Fuß auf amerikanischen Boden setzten. Lauren Groff schreibt mit einem großen Talent, was die Schilderung dieser und der hinter sich gelassenen Welt in England angeht. Das ist dunkel, düster, erinnert manchmal an eine weibliche Variante von The Revenant, ist aber auch erhebend und schön, etwa wenn sie von Bären und Bienen, Sonnenstrahlen und der Behaglichkeit einer Erdhöhle erzählt (einmal mehr toll übersetzt von Stefanie Jacobs).

Fazit

Gut gemachtes und hervorragend erzähltes Breitwandpanorama eines Überlebenskampfes – und ein Blick auf ein Amerika, dessen unberührte Natur in der Beschreibung Lauren Groffs nur staunen lässt. Auch mit Die weite Wildnis baut Lauren Groff ihren Erzählerinnenthron noch ein ganzes Stück höher. Ein schonungsloser Blick auf die Anfangstage der Siedlerbewegung, den ich für seine literarische Kunstfertigkeit nur bewundern kann!


  • Lauren Groff – Die weite Wildnis
  • Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs
  • ISBN 978-3-546-10035-9 (Claassen)
  • 288 Seiten. Preis: 25,00 €
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