Hans Pleschinski – Der Flakon

Vom Elbflorenz nach Pleiße-Athen. In seinem neuen Roman Der Flakon schickt der Münchner Schriftsteller Hans Pleschinski eine Adelige auf eine waghalsige Mission zur Zeit des Siebenjährigen Kriegs. Dabei muss sich das Buch mit dem Vergleich mit einem anderen historischen Roman stellen, bei dem Pleschinskis neues Buch leider den Kürzeren zieht.


Sachsen, 1756. In Leipzig und an vielen anderen Orten kommt die Epoche der Aufklärung zu ihrer großen Blüte. Christian Fürchtegott Gellert schreibt Fabeln, Gottsched und seine Frau reformieren das Theater und die Sprache. Man musiziert, pflegt Freundschaften, sucht in Vorhaben wie dem Zedler’schen Lexikon das Weltwissen zu bündeln. Während im Pleiße-Athen aufgeklärt wird, wird im Elbflorenz Dresden fleißig gesammelt. So kauft Carl Friedrich Heineken als bevollmächtigter Stellvertreter des Premierministers unentwegt Kunstschätze für die königliche Sammlung an, darunter Dürer, Tizian und Holbein. Im Grünen Gewölbe funkeln und strahlen die Geschmeide, dessen Erbauung einst August der Starke veranlasste. Kunst und Kultur allenorten – aber auch der Siebenjährige Krieg steht bereits vor der Tür.

Kampf um Sachsen

Den Startschuss dafür hat Friedrich II. von Preußen im August 1756 gegeben. Mit seinen Truppen überschritt er kurzerhand die Grenzen Sachsens. Er marschiert auf Dresden und Leipzig zu. Reichsminister Brühl ist zusammen mit seinem Herrscher Friedrich August aus Dresden nach Warschau geflohen. Seine Frau Maria Anna Franziska Reichsgräfin von Brühl hat er in seinen Brühlsche Herrlichkeiten geheißenen Prunkbauten zurückgelassen. Sie hofft ebenso wie ganz Sachsen auf eine Intervention der Verbündeten. Österreich unter Kaiserin Maria Theresia, der russischen Zarin Elisabeth Petrowna oder der eigentlichen französischen Staatenlenkerin, Madame de Pompadour. Sie alle sollen dem von Preußen so bedrohten Sachsen beistehen und militärische Unterstützung leisten.

Hans Pleschinski - Der Flakon (Cover)

Doch ein Befreiungsschlag der sächsischen Armee mithilfe der Unterstützung österreichischer Truppen am Königsstein misslingt (nebenbei – was für ein schöner Kofferbegriff aus Pleschinskis früheren Werken Königsallee und Wiesenstein) Die Sachsen werden von Friedrich II. aus dem Feld geschlagen, für die preußische Armee zwangsrekrutiert und dessen Truppen können in ihrem Tun fortfahren, um weiterhin Dresden zu verwüsten und die Stadt Leipzig um horrende Zahlungen zu erpressen.

Reichsgräfin Brühl beschließt in dieser aussichtslosen Lage zu handeln. Sie will von Dresden nach Leipzig aufbrechen, um dem Tyrannen Friedrich II. unter die Augen zu treten. Entscheidende Bedeutung kommt in ihrem Plan dem Mittel Tufania zu, den sie in einem Flakon auf ihrer Reise mit sich führen möchte:

Mit Tufania, vielleicht nur wenigen Tropfen, hatten vor allem im Süden, in Palermo, Frauen ihre grausamen oder greisen Ehemänner beseitigt, mit denen sie verheiratet worden waren. Eine Essenz der Erlösung. Eine bewährte Mischung aus Belladonna, Arsen und Blei. Geruchlos, rasch in der Wirkung und nahezu spurlos. Erst der unbedachte Gebrauch, ein Weiterreichen der Flüssigkeit und dann Bestattungen in Serie hatten auf Sizilien die Behörden alarmiert.

Ein feines Mittel.

Hans Pleschinski – Der Flakon, S. 104

Tyrannenmord als letzter Ausweg

Der Tyrannenmord als letzter Ausweg. Zusammen mit ihrer Kammerzofe Luise von Barnhelm bricht die Reichsgräfin im Winter auf und reist inkognito per Postkutsche. Dabei erfährt sie anschaulich die Verheerungen im Land, sieht Züge jüdischer Geflüchteter und kommt Leipzig auf Umwegen immer näher…

Wenn der Münchner C. H. Beck-Verlag in seiner Werbung und dem Klappentext des Buchs davon spricht, dass Hans Pleschinski hier endlich ein wenig bekanntes Kapitel deutscher Geschichte erzählt, dann stimmt das nur so halb. Mag man auch den preußischen Überfall auf Sachen als entscheidendes Initiationsereignis der Siebenjährigen Kriegs nach dem Geschichtsunterricht auch nicht mehr wirklich präsent im Kopf haben, so wurde dieses Thema literarisch doch erst im vergangenen Jahr behandelt und in diesem Jahr mit einer Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse geadelt. Die Rede ist vom famosen Werk Aufklärung von Angela Steidele.

Zwar legte sie ihren erzählerischen Fokus auf die Leipziger Frauen, die neben ihren Männern und Vätern wie Johann Sebastian Bach oder dem bereits erwähnten Johann Christoph Gottsched die Aufklärung entschieden voranbrachten. Aber gerade im letzten Teil der Aufklärung ist die Belagerung Leipzigs durch die Truppen Friedrichs II. großes Thema, das sie aus der Perspektive der Zivilbevölkerung schildert.

Setzt Hans Pleschinski nun auf die in Teilen gleichen Themen, in Teilen gleichen Handlungsorte und Personen, so provoziert das natürlich einen direkten Vergleich zwischen beiden Werken. Ein Vergleich, in dem Pleschinskis neuer Roman für mich zumindest leider unterliegt.

Hans Pleschinski oder Angela Steidele?

Denn wo Angela Steidele unangestrengt Wissen vermittelte, durch die Wahl der Bach-Tochter Doro als zentrale Erzählerin einen runden und logischen Erzählfluss kreierte und ein rundum überzeugendes Lese- und Bildungserlebnis im Sinne ihres Buchtitels schuf, da liegt bei Hans Pleschinski die Sache etwas anders.

Er hält sich mit vielen Schilderungen der militärischen Lage und zahllosen historischen Randnotizen auf, lässt seine Figuren durch die Gassen Dresdens eilen, ehe dann endlich das entscheidende Komplott der Reichsgräfin geschmiedet wird. Erst nach einhundert Seiten bricht diese dann tatsächlich zur zentralen Kutschfahrt auf, die im Mittelpunkt des Romans steht.

Auch diese wird wieder zum geistesgeschichtlichen Schaulaufen. Pleschinski lässt verschiedene Theorien und Disziplinen in Form von mitfahrenden Kutschgästen und Schenkengästen auftreten. Weltpolitik, Kunst, kulturelle Strömungen, Erfahrungen des Kriegsleids und der allgegenwärtigen Zerstörung, kleine Verweise auf die Gegenwart (etwa wenn die Leipziger auf der Straße mit dem Verweis auf die Einheit als ein Volk demonstrieren), historische Biografien und Wendepunkte wie die Katte-Tragödie – all das fließt in Der Flakon ein. Leider aber rumpelt das Ganze so unelegant und schwerfällig wie die Kutsche der Reichsgräfin auf den sächsischen Wegen.

Fazit

Vielleicht hätte mich Der Flakon ohne die Kenntnis von Angela Steideles in allen Belangen so viel eleganteren Erzählung mehr überzeugt. Auch eine Formung des ganzen als Novelle mit der Kutschfahrt als zentralen Motiv wäre hier vielleicht die bessere Wahl gewesen. So aber verbindet sich hier leider in vielen Passagen erzählerische Langeweile mit geschichtsinformatorischen Overkill, abschweifende Seitenepisoden mit wenig ausgestalteten Figuren. Dass es Pleschinski so viel besser kann, hat er ja etwa in seinem grandiosen Werk Wiesenstein ja bereits bewiesen. Hier hätte ein klarerer Fokus aber notgetan, um im Wettrennen um den überzeugenderen historischen Roman nicht von Angela Steidele abgehängt zu werden.


  • Hans Pleschinski – Der Flakon
  • ISBN 978-3-406-80682-7 (C. H. Beck)
  • 360 Seiten. Preis: 26,00 €
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Johanna Sebauer – Nincshof

Unser Dorf soll schöner werden – diesen Slogan kennt man nicht nur hier in Bayern, wenn man sich auf eine Landpartie begibt. Georg Ringsgwandl erhob einst im Song Dorf die gegenteilige Forderung, nämlich die gezielte Verschandelung des Lebensraums Dorf. Doch ein Dorf, das weder hässlicher noch schöner, sondern zum Verschwinden gebracht werden soll? Das ist wirklich mal etwas anderes. Johanna Sebauer probiert es in ihrem Debütroman Nincshof aus.


Nincshof heißt das beschauliche Örtchen, das sich im hintersten Zipfel Österreichs versteckt. Direkt am Neusiedlersee gelegen kann man mit einem kräftigen Steinwurf von dort aus schon ungarisches Staatsgebiet treffen. Wenig passiert hier, es gibt ein paar Straßen und einen Kanal, man konsumiert die legendären Pusztafeigen und lebt ein Leben im geruhsamen Takt.

Nincshof ist das Dorf. Auf den ersten Blick, wie jedes Dorf, in keiner Weise besonders. Auf den zweiten, wie jedes Dorf, einzigartig. Dort, wo man heute das östliche Ende von Österreich findet, wo man die Reste der Alpen nur an sehr klaren Tagen in der Ferne sehen kann, wie sie sich aufrichten, ein letztes Mal. Wo sonst keine Erhebung den Blick stört, wo der Horizont weit ist und die Sehnsüchte groß sind, dort, unweit des Neusiedler Sees, einer salzigen graubraunen Lacke, direkt neben dem Einser-Kanal, einem trägen Rinnsal, das die Grenze zu Ungarn markiert, duckt sich Nincshof mitten hinein ins Schilf. Ein paar Gassen, ein paar Häuser, Weingärten, Gurkenäcker und rundherum viel Nichts

Johanna Sebauer – Nincshof, S. 5

Ein Plan zum Vergessen

Doch im Hintergrund arbeiten drei Männer an einem Plan, der es in sich hat. Sie wollen, dass man Nincshof im Rest der Welt einfach vergisst. Ihr Vorhaben legen die Dorfbewohner auch der betagten Erna Rohdiebel vor, die seit Kindesbeinen an in Nincshof wohnt und die eines Abends recht rabiat von den Männern überfallen wird.

Der Bürgermeister holte tief Luft und sagte dann, langsam und übertrieben weihevoll wie ein Dompfarrer: „Wir wollen, dass man Nincshof vergisst. Daran arbeiten wir.“

Erna Rohdiebel blinzelte. Die Männer starrten sie an und wirkten, als hielten sie die Luft an.

„Vergisst?“, fragte sie vorsichtig.

Der Bürgermeister nickte energisch.

„Exakt! Vergisst“, sagte er strahlend.

Johanna Sebauer – Nincshof, S. 95

Die Überlegungen der Männer sind klar. Der Bürgermeister findet keinen Nachfolger, die Eingemeindung in ein anderes Dorf droht, die Weltpolitik, sie scheint nur noch Negatives hervorzubringen. Und so wagt man sich in Nincshof an eine ganz eigene Interpretation der biedermeierlichen Weltabgewandtheit, nämlich die des Vergessenwerdens.

Nincshof soll verschwinden

Johanna Sebauer - Nincshof (Cover)

Die Abspaltung vom Land Österreichs würde einen Straftatbestand darstellen – nicht aber die Tatsache, dass man einfach vom Rest der Welt vergessen wird und so wieder ungestört und ohne Einmischungen von Außerhalb seinem Tagewerk nachgehen könnte. Ein theoretisches Fundament namens Oblivismus zimmern sich die Männer um den Bürgermeister auch noch schnell zusammen und schon kann es losgehen, nachdem sie auch Erna Rohdiebel in ihre Pläne eingeweiht haben.

Straßenschilder verschwinden, Jauche wird gezielt ausgebracht, um Tagestouristen und die zahlreichen Radler rund um den Neusiedler See von einem Besuch Nincshofs abzubringen. Bang zählt das Komitee die Tage, die Nincshof nicht mehr in der lokalen Presse aufgetaucht ist.

Doch ein entscheidendes Hemmnis gibt es bei diesem Plan auch. Dieses Hemmnis ist die neuzugezogene Kleinfamilie von Silvano Mezzaroni und Isa Bachgasser. Sie eine ehemalige Filmemacherin aus Wien, er ein Ex-Architekt und nun passionierter Irrziegenzüchter. Ihr Zuzug und die damit verbundene Neugier Isas auf die Dorfhistorie und Silvanos Ambitionen auf Nincshof als Irrziegenmekka kollidieren entscheidend mit dem Projekt des Oblivismus. Und so müssen die Männer um den Bürgermeister und Erna Rohdiebel einige Kreativität an den Tag legen, damit Nincshof weiter verschwinden kann.

Zwischen Irrziegen und Pusztafeigen

Johanna Sebauers Debüt ist ein passabler Unterhaltungsroman, der ganz in der Tradition der humorvollen Dorfromane ihrer Landsfrau Vea Kaiser steht (hier wäre beispielsweise Blasmusikpop oder Rückwärtswalzer zu nennen). Die Idee eines Dorfs, das um jeden Preis vergessen werden will, ist ebenso schrullig wie Sebauers Personal, das Namen wie Frederika Liebzipfel, Sipp Sepp oder Armina Karnelli trägt, die hart an der Grenze zur Albernheit changieren.

Hätte die 1988 in Wien geborene und im Burgenland aufgewachsene Autorin nur auf diese Figuren gesetzt, so wäre der gefühlt zweihundertste Dorfroman entstanden, die momentan die Buchregale überfluten. Durch die Idee eines Dorfs, das ums Vergessenwerden kämpft, kreiert Sebauer aber ein eigenen Twist, der dem Buch Eigenständigkeit verleiht.

Und auch wenn sie die Idee des praktizierten Oblivismus im letzten Teil zugunsten eines rührseligen Irrziegen-Kidnapping-Romans etwas schleifen lässt und nicht alles wirklich zu Ende führt, so gelingt ihr doch ein unterhaltsames Debüt, das ebenso eigenwillige Figuren und Tiere in den Mittelpunkt stellt, wie sie auch Friedrich Rückerts bekannte Zeilen Ich bin der Welt abhandengekommen hier mit ganz eigenem Leben füllt.

Fazit

Johanna Sebauer hat einen unterhaltsamen Roman irgendwo zwischen Märchen, Dorf-Theater und liebevoller Schnurre vorgelegt. Nincshof weiß gut zu unterhalten und bietet skurrile Figuren, eigenwillige Pläne, Irrziegen und jede Menge Pusztafeigen. Ein nett zu lesendes Buch und eine Möglichkeit, diesen Sommer gedanklich in Nincshof am Neusiedlersee zu verbringen!


  • Johanna Sebauer – Nincshof
  • ISBN 978-3-8321-6820-9 (Dumont)
  • 368 Seitne. Preis: 23,00 €
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Daniel Glattauer – Die spürst du nicht

Die Bobos und der Pool. Ein eigentlich idyllischer Familienurlaub in der Toskana entwickelt in Daniel Glattauers neuem Roman Die spürst du nicht weitreichende Konsequenzen. Daraus entsteht ein Roman, der ein bisschen zu moralinsauer und zu harmlos ist, um wirklich zu überzeugen.


Die spürst du nicht – mit diesem Argument nehmen die befreundeten Familien Binder und Strobl-Marinek das Flüchtlingsmädchen Aayana mit in ihren Sommerurlaub in einer Villa in der Toskana. Besonders Sophie Luise, die große Tochter der Familie Strobl-Marinek hat sich die Begleitung des Urlaubs durch das Flüchtlingsmädchen ausbedungen.

Da kommt ihr das zarte dunkelhäutige Mädchen, das neben ihr kauert und ihr schüchtern über die Schulter schaut, wie gerufen. Aayana ist ein Flüchtlingskind aus Mogadischu. Vor vier Jahren, als Aayana zehn war, floh die somalische Familie aus einem Lager in Äthiopien durch die Wüste nach Libyen, wurde ein halbes Jahr später auf die italienische Insel Lampedusa geschleppt und gelangte schließlich nach Österreich, wo alle vier nach vergleichsweise kurzer Zeit Asyl bekamen, ihre Eltern, ihr zwei Jahre älterer Bruder Abdulaziz und Aayana selbst.

Daniel Glattauer – Die spürst du nicht, S. 8 f.

Nach viel hartnäckiger Überzeugungsarbeit erhält die Grünen-Nationalrätin und überzeugter „Gutmensch“ Elisa Strobl-Marinek schließlich äußerst widerstrebend die Erlaubnis von Aayanas Eltern, das Kind mit in das schicke Feriendomizil zu nehmen. Doch vor Ort kommt es zur Katastrophe, wovon Glattauer schon im ersten Kapitel seines Romans erzählt. In einem unbeobachteten Moment begibt sich Aayana abends an den Pool der italienischen Villa, wo das junge Mädchen ertrinkt.

Eine folgenreiche Tragödie im Sommerurlaub

Daniel Glattauer - Die spürst du nicht (Cover)

Es ist eine Tragödie, deren Auswirkungen Glattauer im Lauf der folgenden Kapitel ausführlich schildert und die Dynamiken, die aus dem Unglück erwachsen, in den Blick nimmt. Während man zunächst wie betäubt den Urlaub abbricht und sich wieder nach Österreich begibt, dringt die Kunde von dem Unglück besonders bedingt durch die Prominenz des aufstrebenden Polittalents Elisa Strobl-Marinek schnell an die Öffentlichkeit.

Die Presse berichtet, die Internetforen glühen, schnell schießen die Spekulationen ins Kraut. Zwar kann man dank der richtigen Kontakte der Hautevolee (oder eben „Bobos“, wie es der im Buch verwendete schöne Austriazismus ausdrückt) die Untersuchungen der italienischen Behörden schnell abhaken, doch ganz so einfach lässt sich die Affäre nicht abbinden. Denn plötzlich zieht Aayanas Familie vor Gericht und klagt auf eine Summe von 200.000 Euro für den Verlust ihrer Tochter und den dadurch erlittenen Schockschaden. Das befeuert die Berichterstattung rund um die private Tragödie der Nationalrätin noch einmal zusätzlich, die darüber die rätselhafte Verwandlung ihrer Tochter zu lange Zeit ignoriert – mit verhängnisvollen Folgen.

Ein gesellschaftskritischer Roman, der scheitert

Die spürst du nicht will ein großer gesellschaftskritischer Roman sein, der sowohl private Tragödie als auch gesellschaftliche Debatten in den Blick nehmen möchte. Dafür fehlen Glattauer aber die Mittel, obwohl er sich bemüht, die rund um den Fall entspinnenden Dynamiken und Bewegungen mithilfe verschiedener literarischer Gestaltungsmittel einzubinden.

So weist der Text Interviews, Frage- und Antwortspiele, Chats und eine begleitende Kommentierung eines fiktiven Forums auf. Aber hier wie im ganzen übrigen Text macht sich eine Überdeutlichkeit und Künstlichkeit breit, die Glattauers Text einiges von seiner Wirkung nimmt. Die Chats ähneln eher einem gekünstelten Gespräch am Marktstand denn einem wirklichen Internetforum.

Jeder, der in letzter Zeit zu einem beliebigen Aufregerthema (Heizdebatten, Asylrecht, Rammstein, etc) einen Blick in ein Forum oder eine Social Media-Plattformgeworfen hat, der wird wissen, dass man gerade im digitalen Raum längst nicht mehr auf eine derart gesittete, dialogische und dann auch noch orthografisch korrekten Variante miteinander kommuniziert, wie es der Österreicher in seinem Roman simuliert:

P37: Wieso werden die Namen im Bericht nicht geschrieben, wenn sie ohnehin schon bekannt sind?

A1: Weil es bei uns das Recht auf Schutz der Privatsphäre gibt.

A1a: Das gilt aber nicht für „Personen des öffentlichen Interesses“, also für Promis.

A1b: Blödsinn. Natürlich gilt das auch für die! Wenn das Ereignis nichts mit dem Job zu tun hat, ist und bleibt es Privatsache und muss geschützt werden.

A2: Manche Medien halten sich daran, manche nicht. Die sich daran halten sind die Depperten. Wenn ein Name einmal im Netz steht, dann ist es eh schon wurscht, dann wissen’s eh alle.

P133 Die Strobl-Marinek tut mir leid. Ich mag die. Sie ist eine der wenigen Echten bei den Grünen, mit Ecken und Kanten! Wäre interessant, was da genau passiert ist mit dem Flüchtlingskind.

A1: Machen überall Scherereien, die Flüchtlinge!! (Vorsicht: Ironie.)

A2: Die kann sich ihre politische Karriere jetzt abschminken.

A2a: Wieso? Das ist ein persönliches Unglück und hat nichts mit Politik zu tun.

A3: Von einer als zukünftige Umweltministerin gehandelten Person erwarte ich mir schon, dass sie ihre unmittelbare Umwelt so weit überblicken kann, dass nicht ein Kind quasi neben ihr im Swimmingpool ertrinkt.

A3a: Reden S’nicht so g’scheit daher. Wir wissen ja noch gar nicht, wie es dazu gekommen ist.

Daniel Glattauer – Die spürst du nicht, S. 45

Tell, don’t show

Alles in diesem Roman ist überdeutlich und weist klar auf die moralische Auslegung, zu der uns der Autor lenken will. Möchte man es auf einen griffigen Slogan bringen, dann liegt Die spürst du nicht das Motto Tell, don’t show zugrunde. Seine Charaktere werden weniger durch Handlung als durch eine klare Attribuierung gezeichnet und auch die Kapitel tragen in ihren Inhalt mit faden Überschriften wie Pierre versteckt sich, Mama kann weinen, Oskar kocht Curry oder Verfahren eingestellt demonstrativ zur Schau.

Auch die Pointe des zweiten Erzählstrangs um die durch eine Art von Cyber-Grooming immer weiter abstürzende Sophie Luise ist abgesehen vom künstlichen Chat-Ton zwischen zwei Jugendlichen in seiner ganzen Anlage zu deutlich überzeichnet, als dass die schlussendliche Aufklärung der Identität des mit der Politikertochter chattenden Pierre wirklich überrascht. Alles folgt einer klaren Erzählidee, die wenig Raum für Zwischentöne und authentische Dialoge der recht einfach gezeichneten Figuren lässt.

Wären die literarischen Mittel Glattauers raffinierter, hätte aus Die spürst du nicht ein gesellschaftskritischer, unbequemer und gut beobachteter Roman werden können. So ist dem Ganzen ein Gefühl der Überdeutlichkeit und offen zutage tretenden Moral zueigen, der spätestens im rechtschaffenen Schlussplädoyer vor Gericht meine Sympathien verspielt, wenn er allzu moralinsauer und mitleidheischend dem Leser oder der Leserin alles vorbuchstabiert, ohne auf die Mündigkeit der Leser*innen zu setzen. So wird für mich daraus leider eine enttäuschende Angelegenheit.


  • Daniel Glattauer – Die spürst du nicht
  • ISBN 978-3-552-07333-3 (Zsolnay)
  • 304 Seiten. 25,00 €
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Ulrich Woelk – Mittsommertage

Beim aktivistischen Protest von Gruppen wie der Letzten Generation oder Extinction Rebellion ist häufig von den Kipppunkten die Rede, die wir als Gesellschaft nicht überschreiten dürfen, um die schlimmsten Auswirkungen der sich abzeichnenden Klimakatastrophe abzumildern. In Ulrich Woelks neuem Roman Mittsommertage steht eine Frau vor einer ganzen Menge solcher Kipppunkte. Kipppunkte, die sie auch mit ihrer eigenen aktivistischen Vergangenheit in Berührung und an den längsten Tagen des Jahres gehörig ins Schwitzen bringen.


Ruth Leber, 54 Jahre, Philosophieprofessorin, wohnhaft in Berlin, steht kurz vor dem größten Triumph ihrer akademischen Karriere. Sie hat den Ruf in die Ethikkommission der Bundesregierung erhalten, jenem Gremium, das die Bundesregierung in komplexen Sachverhalten berät und Stellungnahmen zu ethischen Grundsatzfragen abgibt. Ruth Leber ist hierfür die perfekte Kandidatin. Zwar nicht parteipolitisch eingebunden, dafür aber der Partei der Grünen in ihren Positionen zugeneigt steht sie für eine profunde Auseinandersetzung in Fragen des Miteinanders, die sie in ihren Vorlesungen lehrt und die auch Student*innen zu ihr locken, die sie gerne für die Betreuung ihrer Promotionen gewinnen möchten.

Liiert ist sie mit Ben, einem aufstrebenden Architekten, dessen unkonventionelle Entwürfe irgendwo zwischen Bauhaus und Luigi Colani für Interesse sorgen. So blickt er zusammen mit seinem Architekturbüro in jenen Tagen des Juni 2022, in denen Mittsommertage spielt, ebenfalls ganz genau auf eine Kommission. In seinem Fallen handelt es sich bei der Kommission aber um ein Gremium, das über die Neuplanung der Siemensstadt in Berlin entscheidet, für die auch Ben einen Entwurf eingereicht hat.

Und dann ist da auch noch Jenny, die Tochter ihres Lebensgefährten, derentwegen sie sich Ruth fast selbst als Mutter fühlt, obschon keine biologische Verwandtschaft zwischen den beiden Frauen besteht. Als Studentin der Kommunikationswissenschaft wohnt Jenny mittlerweile fern von Ruth und Ben in Leipzig – und doch ist da eine Verbindung zwischen der Philosophieprofessorin und ihrer Ziehtochter.

Ein Hundebiss mit Folgen

Kurz vor dem entscheidenden Karriereschritt will Ruth nun mit einer Joggingrunde zu morgendlicher Stunde den Kopf freibekommen für die anstehenden Ereignisse. Dabei wird Ruth von einem freilaufenden Hund angefallen, der die Professorin beißt. Die Wunde scheint nicht allzu gravierend, sodass sich Ruth entschließt, angesichts der vor ihr liegenden ereignisreichen Woche auf eine Anzeige und eine ärztliche Untersuchung zu verzichten. Ein Fehler, wie sich noch herausstellen wird.

Ulrich Woelk - Mittsommertage (Cover)

Wie ein Vorgriff auf die kommenden Ereignisse wirkt dieser unerwartete Zwischenfall. Die Wunde beginnt im Lauf der nächsten Stunden zu schmerzen und kostet Ruth einiges ihrer Energie. Dabei wäre diese Energie an anderer Stelle deutlich dringender nötig. Denn nach einer Begegnung im Hörsaal und in der S-Bahn macht Ruth die Bekanntschaft mit einem alten Freund, den sie schon fast vergessen hatte. Dieser erinnert sie im Gespräch an ihre eigene aktivistische Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die mit Bildern und Erinnerungen verbunden ist, die Ruth jetzt eigentlich überhaupt nicht brauchen kann.

Gerade richtet sich das öffentliche Interesse angesichts der Berufung in die Ethikkommission sowieso schon auf Ruth, deren makellose Reputation entscheidenden Anteil an ihrer Berufung hatte. Nun fordert ihr alter Bekannter eine Entscheidung von Ruth ein, wie sie zu ihrer eigenen, nicht ganz so makellosen Vergangenheit steht.

So findet sich die Professorin gleich vor einem doppelten Kipppunkt wieder. Zum einen ist da die Entscheidung, wie sie mit ihrer eigenen Vergangenheit umgehen soll. Zum anderen ist da auch plötzlich wieder die Erinnerung an die Vergangenheit, in der es schon einmal einen Kipppunkt gab, der Ruths weiteren Lebensweg entscheidend beeinflusste. Eigentlich möchte sie in diesem Fall die gleiche Lösungsstrategie wie nach dem Hundebiss anwenden. Aber weder die Wunde noch die eigene Biografie mit all ihren Volten lassen sich so einfach ignorieren.

Aktivismus in verschiedenen Formen und Facetten

Mittsommertage ist ein Buch, das den Aktivismus in verschiedenen Formen und Facetten spiegelt. So legt Ulrich Woelk in den Figuren von Ruth und ihrer Ziehtochter Jenny die zwei unterschiedlichen Protestgenerationen ein, die doch mehr eint, als es zunächst den Anschein hatte. Während Ruth einst mit waghalsigen Aktionen in Frankfurt-Hoechst oder auf dem Land gegen das Ozonloch und die drohende Klimakatastrophe aufmerksam machen wollte, ist es nun der Protest auf Fahrbahnen, der Jenny angesichts der auch jetzt im Sommer 2022 unverändert dringlichen ökologischen Gesamtlage geboten erscheint, um die entscheidenden klimatischen Kipppunkte nicht zu überschreiten.

Während Ruth den Marsch durch die Institutionen angetreten hat und nun als theoretische Denkerin auf dem Gipfel ihres Erfolgs angekommen scheint, sind es doch auch die alten Bekannten und die eigene Familie, die sie an ihre Graswurzel-Vergangenheit und damit auch die eigene aktive Vergangenheit und ihren Wandel erinnern. Die heile und makellose Welt Ruths bekommt zunehmend Risse und erscheint immer unsicherer, während Ruth und Jenny beide für sich um einen eigenen Umgang mit dem aktivistischen Dasein ringen.

Protest, Corona-Nachwehen und steigende Temperaturen

Das führt zu vielen Dialogen und Abwägungen, die manchmal vom professoralen Dozieren auch zu sehr statischen Gesprächswechseln führen. Das gerät besonders in jenen Passagen zu trocken, die quasi-dokumentarisch die Zustände des Abflauens der Corona-Pandemie im vergangenen Sommer noch einmal aufgreifen. Könnte man Woelk zugutehalten, dass die sachliche und faktuale Erzählweise ganz dem rationalen Charakter Ruths nachspürt, rückt das Ganze in einigen Passagen wie der folgende für meinen Geschmack doch etwas zu nah an eine Dokumentation denn wirklich lebendiges Erzählen heran:

Die Stimmung im Büro ist entspannt, aber nicht mehr ausgelassen. Die Phase des Korkenknallens ist vorüber. Eine Maske trägt niemand, was bei einem Umtrunk verständlich ist. Es ist auch nicht mehr vorgeschrieben. Ben hat sich in den vergangenen zwei Jahren an alle Vorschriften gehalten, hat ein Hygienekonzept erstellt und seine Angestellten so weit wie möglich von zu Hause aus arbeiten lassen. Er hat Luftreinigungsgeräte angeschafft und ein neues Abluftsystem einbauen lassen. Jetzt ist es jedem freigestellt, eine Maske zu tragen oder nicht.

Ulrich Woelk – Mittsommertage, S. 67 f.

Obschon es erst ein Jahr her ist, liest sich das (gottseidank wie ich meine) schon wieder wie etwas Vergangenes – der eigenen selektiven Erinnerung sei Dank. Aber dennoch ist Mittsommertage auch höchst aktuell, indem Woelk den anschwellenden Protest der Klimabewegung in seinem Buch aufgreift, während nicht nur die Außentemperaturen in jenen Junitagen stark steigen.

Fazit

Hier schreibt ein Autor mit einem vitalen Interesse für persönliche und gesellschaftliche Verwerfungen, die die Debatten um die Klimakatastrophe und die Kipppunkte aufgreift und die Debatten unserer Tage um Moral, Ethik und gebotenes Handeln interessant verhandelt. Er rafft das ganze Leben Ruths mitsamt der entscheidenden Wendungen in die Form weniger Tage, in denen sich alles wandelt. Das ist in der Form und den erzählerischen Mitteln zwar nicht besonders neu oder innovativ – im Großen und Ganzen aber wirklich gut gemacht und ruft Erinnerungen wach an den Post-Corona-Sommer 2022.

Eine kleine Randnotiz zum Schluss: Besonders nett für Woelk-Leser ist die der kleine interreferenzielle Gastauftritt, den der Autor im Text versteckt hat. So dürfte Leserinnen und Lesern die Ärztin, die Ruth nach einem Schwächeanfall in einem Krankenhaus im Wedding behandelt, aus Woelks letzten Roman Für ein Leben bekannt vorkommen.


  • Ulrich Woelk – Mittsommertage
  • ISBN 978-3-406-80652-0 (C. H. Beck)
  • 284 Seiten. Preis: 25,00 €
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Aurora Venturini – Die Cousinen

Den Weg von einer „Schule für Minderbemittelte“ bis zur ausstellenden Künstlerin, ihn zeichnet Aurora Venturini in ihrem außergewöhnlichen und mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung ausgezeichneten Roman Die Cousinen nach, der nun postum in der Übertragung von Johanna Schwering und mit einem Nachwort von Mariana Enriquez zu entdecken ist.


Es war reichlich spät, genauer gesagt im Jahr 2007, als die argentinische Schriftstellerin Aurora Venturini im Alter von 85 entdeckt wurde und ihr der literarische Durchbruch in der Heimat gelang. Vorausgegangen war dem Ganzen eine Einsendung beim Literaturwettbewerb Premio Nueva Novela, den Aurora Venturini unter Pseudonym eingereicht hatte.

Venturinis Landsfrau Mariana Enriquez bemerkt in ihrem Nachwort, dass die Einsendung schon aufgrund der äußeren Form eines Typoskripts aus der Reihe fiel. Und auch der dargebotene Inhalt verweigerte sich jeder einfachen Kategorisierung oder Form. Mehr als außergewöhnlich war es, das die Autorin auf den maschinengetippten und korrigierten Seiten darbot. Exzentrik und Risikobereitschaft sprachen aus den Seiten des Textes, der von der Jury um Mariana Enriquez dann tatsächlich ausgezeichnet wurde und der das Interesse auf eine Dame lenkte, deren Leben selbst zum Roman taugen würde.

So zählte Aurora Venturini einst zum Unterstützerkreis der argentinischen Präsidenten Peron und war mit dessen Frau Eva befreundet. Sie ging ins Exil nach Frankreich, pflegte eine Freundschaft mit Jorge Luis Borges und arbeite fleißig am eigenen Mythos. Erst mit 85 Jahren sollte dann aber nach der Zuerkennung des Preises das literarische Interesse an Aurora Venturini geweckt werden. 2015 verstorbenen erschien nun im vergangenen Jahr eine erste Übersetzung dieser Autorin ins Deutsche, die Johanna Schwering besorgte. Zu entdecken ist ein origineller Text, der auf sprachlicher Ebene den alles andere als gefälligen Inhalt sinnreich umspielt und ergänzt und der eine Bildungsgeschichte erzählt.

Rettung durch die Kunst

Erzählerin ist Yuna López, die zusammen mit ihrer ein Jahr jüngeren Schwester Betina eine „Schule für Minderbemittelte“ besucht.

Meine Schwester verließ die Schule in der dritten Klasse. Es hatte keinen Sinn mehr. Eigentlich hattes es bei uns beiden nicht viel Sinn und ich ging nach der sechsten Klasse ab. Aber ich lernte Lesen und Schreiben wenn auch letzteres mit vielen Rechtschreibfehlern, das stumme H schrieb ich zum Beispiel nie, wozu auch, wenn man es nicht hört?

Aurora Venturini – Die Cousinen, S. 14 f.
Aurora Venturini - Die Cousinen (Cover)

Ihre Schwester Betina ist schwer behindert und sitzt im Rollstuhl. Der Vater hat die Familie verlassen und die Mutter behilft sich in Erziehungsfragen mit dem Einsatz eines Rohrstocks, mit dem sie die Kinder ausgiebig züchtigt. Es ist ein armes und deprimierendes Umfeld, in dem Yuna aufwächst.

Doch es gibt einen Weg, mit dem Yuna diesem prekären Milieu in Adrogué, eine Vorort Buenos Aires, entfliehen kann. Dieser Weg ist die Kunst. Denn Yuna erweist sich als originelle Malerin mit einem ganz eigenen Ausdruck, die auch die Aufmerksamkeit ihres Professors weckt. Dieser ermutigt Yuna zum Malen und organisiert bald eine erste Ausstellung ihrer Werke, der bald weitere Schauen folgen werden. Allmählich emanzipiert sich Yuna und schafft es sowohl zu künstlerischer als auch finanzieller Eigenständigkeit, der später eine gemeinsame Wohnung mit ihrer Cousine, der kleinwüchsigen Petra, folgen wird.

Ein Bericht einer Bildung

Von ihrem Werdegang berichtet sie in Form eines Berichts, das den Charakter und den Bildungsweg seiner Verfasserin abbildet.

Mein Bild wurde fertig, diesmal Öl auf Leinwand und es war so schön geworden, dass es mir leidtat es zu verkaufen aber ich lebte voller Stolz von meinem Werk und zahlte Miete im Haus meiner Familie das mir Tag für Tag und ich weiß gar nicht warum immer fremder erschien, mehr ihrs als meins denn ich war eine blasse Ombrage (ebd.) die von Zeit zu Zeit Flure und Gefilde durchstrolchte (ebd.); ebd. bedeutet übrigens Wörterbuch aber es kommt mir zupass weil es eine Abbreviatur ist und weil ich mich niemals mit fremden Federn schmücke, erläutere ich, dass auch der Begriff Abbreviatur meinen Wörterbuchkulturforschungen entstammt die mir helfen meiner geerbten Minderbemittelung zu entkommen.

Aurora Venturini – Die Cousinen, S. 105

Immer wieder wendet sich Yuna an die Lesenden, erklärt ihre Gefühle, Erlebnisse und fasst wie in einem mündlichen Bericht noch einmal Erlebtes oder Verwandtschaftsverhältnisse zusammen, um danach mit ihrem Bericht fortzufahren. Dabei bildet der Text den Bildungsweg der jungen Frau nach, die sich ihre Bildung selbst aneignet. Immer wieder flicht sie in Wörterbüchern gefundene Wörter ein und erklärt diese Funde. Das Bemühen um eine verständliche Schilderung trotz aller Schwierigkeiten mit der schriftlichen Darstellung spricht aus allen Zeilen.

Eine preisgekrönte Übersetzung

Orthographische Feinheiten wie Kommasetzung oder ähnliche Finessen kennt Yuna dabei nicht. Stattdessen orientiert sie sich stark an der Mündlichkeit und erfindet Wortspielereien wie den Rollstuhl ihrer Schwester, der immer wieder rummrumst. Gelungen schafft es Johanna Schwering, diese Charakterisierung durch Sprache und Schreiben aus dem argentinischen Spanisch ins Deutsche hinüberzuretten. Sie erzeugt auch in der deutschen Variante dieses Textes neben der eigentlichen Schilderung auch indirekt über die Sprache einen bleibenden Eindruck seiner Erzählerin. Die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse lobte das Ganze wie folgt:

Ihre Worte schaffen Atmosphären und lassen uns den Geruch der Großstadt, das Ozon und die Orangenblüte aus den Buchseiten herausriechen. Schwerings Übersetzung nimmt die Unverschämtheiten des Originals mutig auf und folgt den eigentümlichen Grammatikregeln des Originals sowie seiner besonderen Härte und seinem sprühenden Witz. Ihr ist es mitzuverdanken, dass mit diesem fabelhaften Künstlerinnenroman erstmalig ein Buch der Argentinierin Aurora Venturini auf Deutsch vorliegt. Es mögen hoffentlich viele weitere, natürlich in der Übersetzung von Johanna Schwering, folgen.

(Aus der Begründung der Jury zur Preisvergabe an Johanna Schwering)

Die Welt, von der Yuna so erzählt, ist eine düstere und wenig Hoffnungsvolle, in der besonders Männer schlecht wegkommen. Der Vater ist verschwunden, der Kunstprofessor, der später zum Vormund Yunas wird, hegt auch nicht nur hehre Motive. Sexuelle Gewalt, Scham und Ausgrenzung sind Marker dieser Welt, von der Yuna berichtet. Frauen sterben hier nach Abtreibungen, werden missbraucht und müssen ganz eigene Strategien entwickeln, um in dieser Welt zu überleben, allen voran die findige Cousine Petra, die sich als Prostituierte durchschlägt, die sich um die Aufklärung von Yuna kümmert und die ihr auch die Spielregeln der Gesellschaft der 40er Jahre in Argentinien näherbringt.

Die Cousinen ist ein Familienroman aus einem dumpfen, gewaltgesättigten Milieu, der trotz aller Schwere und Hoffnungslosigkeit eben auch von der Kunst als Rettungsanker erzählt, mithilfe dessen sich Yuna von ihrem Umfeld emanzipieren kann. Auch in der Sprache und der Form des Berichts findet die junge Frau ein Ausdrucksmittel, das in seinem ganzen Facettenreichtum aufgrund der herausragenden Übersetzung durch Johanna Schwering auch im Deutschen erlebbar wird.

Fazit

Mit diesen Buch erweist sich Aurora Venturini als eine Wegbereiterin jüngerer argentinischer Autorinnen wie etwa Claudia Piñeiro, mit der sie das scharfe Auge für gesellschaftliche Missstände, Kritik an der Bigotterie und nicht zuletzt auch den Handlungsort Adrogué teilt, in dem auch Piñeiro ihren anklagenden Roman Kathedralen spielen lässt.

Schön, dass die so spät entdeckte Argentinierin Venturini nun auch hierzulande lesbar ist. Noch schöner, dass die Übersetzerin Johanna Schwering und der herausgebende dtv-Verlag den Wunsch der Leipziger Jury nach weiteren Übersetzungen schon so schnell erfüllen. In wenigen Monaten gibt es mit Wir, die Familie Caserta schon ein weiteres Werk aus dem Schaffen von Aurora Venturini zu entdecken!


  • Aurora Venturini – Die Cousinen
  • Aus dem argentinischen Spanisch von Johanna Schwering
  • Mit einem Nachwort von Mariana Enriquez
  • ISBN 978-3-423-29031-9 (dtv)
  • 192 Seiten. Preis: 23,00 €
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