Christine Dwyer Hickey – Schmales Land

Nachkiegszeit auf Cape Cod. Sommerliche Strände, zwei Jungs ohne Vater und nebenan der berühmte Maler Mister Aitch alias Edward Hopper und dessen Frau, die sich selber auf einigen Schlachtfeldern gegenüberstehen. Schmales Land von Christine Dwyer Hickey.


Künstlerromane, in denen sich unbedarfte Kinder oder Jugendliche legendären Künstlern nähern, gibt es wie Sand am Meer. Robert Seethaler ließ in Der letzte Satz einen jungen Schiffssteward auf Gustav Mahler treffen, Jonathan Coe brachte in Mr. Wilder & ich eine junge Athenerin in die Nähe von Billy Wilder. Meist ist den jungen Figuren dabei eine gewisse Farblosigkeit zueigen, sollen sie doch nur als unbedarfte Stichwortgeber für die biographischen Bögen fungieren, die den Autor*innen bei ihren Künstlerromanen eigentlich im Sinne steht.

Bei den Figuren von Christine Dwyer Hickey liegt die Sache etwas anders, denn der irischen Autorin ist nicht daran gelegen, die Romanbiographie von Edward Hopper, neben Norman Rockwell wohl der prägendste amerikanische Maler des Realismus, vorzulegen. Im Gegenteil. In Schmales Land erfährt man so gut wie nichts über den Werdegang jenes Mannes, der von seinen Nachbar*innen ehrfurchtsvoll raunend nach der Initiale seines Nachnamens nur Mister Aitch gerufen wird. Er ist neben seiner Frau und dem jungen Michael Novak ein gleichwertiges Mitglied des Erzähltrios, das Christine Dwyer Hickey in ihrem herben Roman in den Mittelpunkt stellt.

Michael, Mr. und Mrs. Aitch

Dabei beginnt alles mit dem zehnjährigen Michael, der als Waise vor den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs von Deutschland nach Amerika verschickt wurde und sich jetzt in der Betreuung von Frau Aunt befindet, wie Michael seine neue Aufsichtsperson nennt. Schon einmal sollte er an die Küste von Massachusetts geschickt werden, damals weigerte sich der Junge rundheraus. Nun, zwei Jahre später, geht es mit dem Zug für ihn in Richtung Cape Cod ins Haus der Kaplans, wo drei Generationen unter einem Dach wohnen.

Christine Dwyer-Hickey - Schmales Land (Cover)

Neben der Großmutter Mrs. Kaplan wohnt auch ihre Tochter mit ihrem Sohn Richie dort vor Ort. Der Vater des Jungen ist ebenfalls im Krieg geblieben und so engagiert sich jetzt vor allem die Älteste der Kaplans für die Waisenfonds. Dort im Haus soll Michael einen Sommer verbringen und auch im Kontakt mit Richie auf andere Gedanken kommen. Doch so ganz mag das mit dem Anschluss zunächst nicht klappen. Michael ist mehr als scheu und zieht sich immer wieder zurück.

Der erste wirkliche Kontakt gelingt ihm ausgerechnet zu Mrs. Aitch, die er in deren Buick im nahegelegenen Städtchen Orleans beobachtet. Ihr Mann, der berühmte Maler, ist wieder einmal ohne sie losgezogen, um Skizzen anzufertigen. Seine Frau hat er im Auto zurückgelassen, wo Michael zufällig die Bekanntschaft mit ihr macht.

Eine komplizierte Künstlerehe

In der Folge fasst Michael zaghaft Vertrauen insbesondere zu Mrs. Aitch, wohingegen ihr Mann ihm immer noch Respekt einflößt. Häufig besucht er das Künstlerpaar und sorgt insbesondere für Mrs. Aitch für Abwechslung.

Denn die Ehe, die sie und ihr Mann, der berühmte Edward Hopper, führen, ist alles andere als glücklich. So zeichnet Mister Aitch als Beigabe zum Scheck für seine Schwester schon einmal eine Skizze mit seiner Frau und ihm im Boxring. Sie legt Streifen mit der Botschaft „Ich hasse ihn“ auf dem Küchentisch aus. Dauernd schwankt die kinderlose Beziehung zwischen der Suche nach Nähe und Abstoßung, Misstrauen und den Kampf um künstlerische Eigenständigkeit.

Vor allem Hoppers Frau leidet unter der Tatsache, dass sie ihre eigene künstlerische Karriere für ihren Mann auf Eis gelegt hat. Will sie auf eigene künstlerische Ambitionen hinweisen, wird ihr das von ihrem Umfeld schnell krummgenommen, etwa auf einer sommerlichen Party, die im Hause der Kaplans zum bevorstehenden Ende des Sommers am Labor Day gegeben wird. In dieser unbefriedigenden Situation ist Michael ein gutes Ventil für allen Zwist der Künstlerehe – und auch der Junge profitiert von der Bekanntschaft mit den Maler*innen.

Kein klassischer Künstlerroman

Das Schöne an Schmales Land ist die Tatsache, dass Christine Dwyer Hickey eben keinen klassischen Künstlerroman über die Hoppers geschrieben hat. Der Werdegang, die Werke, all das spielt hier so gut wie keine Rolle. Vielmehr interessiert sich die irische Autorin für die Kämpfe um künstlerische Souveränität und nimmt das widersprüchliche Eheleben der Hoppers genauso in den Blick, wie sie auch von der Traumatisierung des jungen Michael erzählt.

Alle Figuren agieren hier auf Augenhöhe und bekommen den gleichen Platz und das gleiche ehrliche Interesse der Autorin, woraus ein Roman erwächst, der ein ebenbürtiges Trio dreier ganz unterschiedlicher Menschen in den Mittelpunkt stellt. Christine Dwyer Hickey gelingt ein rauer und wenig gefälliger Roman über Menschen und ihre erlittenen Versehrungen, über einen langen Sommer, der aber nur wenig Idylle birgt und über eine Gesellschaft, der die Männer abhanden gekommen sind (sind doch wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hier schon wieder Soldaten in Uniform unterwegs, die diesmal aber an die Front in Korea geschickt werden).

Fazit

Schmales Land ist ein fein nuanciertes Bild einer Künstlerehe, die eher Kampf denn Miteinander war, und das Bild eines Sommers, der zu keinem Zeitpunkt ganz unbeschwert ist und über dem die Ahnung eines Verlustes schwebt. Christine Dwyer Hickey gelingt ein herber Roman, der die Stimmung dort auf Cape Cod Anfang der 50er Jahre treffend einfängt und der von Uda Strätling ins Deutsche übertragen wurde.


  • Christine Dwyer Hickey – Schmales Land
  • Aus dem Englischen von Uda Strätling
  • ISBN 978-3-293-00594-5 (Unionsverlag)
  • 416 Seiten. Preis: 26,00 €
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Arno Geiger – Das glückliche Geheimnis

In einem eigenwilligen Hybrid aus Bekenntnisroman, Werkschau, Bildungsroman und Werkstattbericht erzählt der Vorarlberger Arno Geiger von seinem Glücklichen Geheimnis und davon, wie dieses Geheimnis sein eigenes literarisches Schaffen beeinflusste. Dabei wird der Medienwandel und Werteverfall von Gedrucktem ebenso eindrücklich vor Augen geführt, wie auch so manches hartnäckige Schriftstellerklischee dekonstruiert wird.


Ein oder zwei Bücher genügen, man debütiert auf dem Literaturmarkt, bekommt am besten etwas Aufmerksamkeit und fortan hat man sich aller materieller Sorgen entledigt. Die Tantiemen sprudeln und man kann gut vom Erreichten leben. Noch immer halten sich solche Klischees vom Schriftsteller*innendasein, obwohl es wohl kaum eine Zeit gab, in der diese Vorstellungen vom glamourösen Schriftstellerdasein so wirklich zutraf, heute noch weniger als früher.

Nicht einmal die oberste Liga der Autor*innen, deren Werke breit rezipiert und vor allem in breiter Masse gekauft werden, kann sich so wirklich auf reine Buchverkäufe stützen. Lesetouren und Co sind heute ein fast unerlässliches weiteres Einkommmensfeld, möchte man vom Schreiben leben können. Mit ein oder zwei Büchern alleine ist man noch längst kein gemachter Mann oder keine gemachte Frau.

Der Werdegang von Arno Geiger

Das ist auch die Erfahrung von Arno Geiger, den man wirklich zu schriftstellerischen Oberschicht zählen kann, hat er doch zuletzt mit seinen Romanen Unter der Drachenwand oder Der alte König in seinem Exil, dem Demenzbericht über seinen Vater, für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Arno Geiger war es auch, der als erster im Jahr 2005 den neu eingerichteten Deutschen Buchpreis mit seinem Roman Es geht uns gut gewann. Doch selbst ein Autor mit solchen Erfolgen war oder ist nicht vor materiellen Nöten und Existenzkrisen gefeit. Das zeigt Das glückliche Geheimnis eindrücklich.

Dabei zeichnet Arno Geiger in seinem Buch seinen Werdegang und die ökonomischen Realitäten ungeschönt nach. So lebt er Anfang der 90er Jahre in Wien in reichlich beengten Verhältnissen:

Es fehlt nicht viel, dann sind es drei Jahrzehnte, seit es angefangen hat. Ich war vierundzwanzig Jahre alt, strebte keine Anstellung an, weil ich Schriftsteller werden wollte, und lebte in Wien in einem Haus, das dem Aussehen nach kurz vor dem Abriss stand. In diesem heruntergekommenen Haus bewohnte ich eine heruntergekommen Wohnung, dreißig Quadratmeter, bestehend aus einer engen Küche und einem an die Küche anschließenden Zimmer. Dieses Zimmer hatte die Aufgabe von Wohn-, Arbeits-, Ess- und Schlafraum zu erfüllen. Das Klo auf dem Gang teilte ich mit den Nachbarn.

Arno Geiger – Das glückliche Geheimnis, S. 12

Das glückliche Geheimnis und das Altpapier

Arno Geiger - Das glückliche Geheimnis (Cover)

Hier beginnt das, was Arno Geiger als „Glückliches Geheimnis“ bezeichnet und das sich fortan durch sein Leben ziehen wird. Denn inmitten seiner kärglichen Existenz stolpert er eines Tages über fünf vor dem Altpapiercontainer abgestellte Kartons, die Romane und Ausstellungsbände enthalten. Diese Entdeckung wird zum initialen Auslöser für seine Beschäftigung mit Altpapier. Fortan durchsucht er Container, schleppt Briefkonvolute, ausgesonderte Romane und Bildbände mit nachhause und veräußert diese teilweise gewinnbringend zusammen mit seiner Freundin bei Flohmärkten oder Antiquariaten.

Während er und sein Lektor für die Platzierung seiner ersten Romane im Programm des Hanser-Verlags kämpfen, bedeutet ihm die Suche nach neuen Geschichten und Entdeckungen Inspiration für sein eigenes Schreiben, in das er in diesem Buch an mehreren Stellen Einblick gibt.

Die vielen Metamorphosen im Arbeitsprozess sind schwer nachzuzeichnen. Die Lumpen, die ich nach Hause brachte, mussten zerrissen und in Fasern aufgelöst werden, damit daraus neuer Stoff entstehen konnte. Mein Schreibtisch war das Spinnrad, auf dem ich die Bruchstücke aus Fremdem und Eigenem zu neuen Fäden spann. Ich erfand zwei Dutzend Hasenfelle (Orte, Charaktere, Handlung), benutzte mein künstlerisches Talent als Nadel und nähte mit den gesponnenen Fäden und erfundenen Fellen einen Mantel: das Kunstwerk.

Arno Geiger – Das glückliche Geheimnis, S. 128

Werkstattbericht, Literaturbetriebsprosa und Medienwandel

Neben diesem Einblick in die Schreibwerkstatt und die Ideenfundgrube für seine Romane ist Das glückliche Geheimnis auch ein Stück weit Literaturbetriebsprosa. So dürften Geiger und der ehemalige Hanser-Verleger Michael Krüger nicht unbedingt beste Freunde sein, seinen Schilderungen über die mühseligen Platzierungen seiner Romane im Programm nach. Die Hintergründe seines Gewinns des Deutschen Buchpreises, erschöpfende Lesetouren und Einblicke in den wenig glamourösen Schriftstelleralltag sind Bestandteil dieses Buchs. Vor allem aber ist das Buch eine eindrückliche Illustration über den Medienwandel und den Werteverfall des Gedruckten.

Erlöst Geiger zu Beginn seiner Karriere noch Geld mit dem Verkauf der Altpapierfunde, so wirkt dies heute nur ebenso anachronistisch wie das Bild einer sorgenfreien Schriftstellerexistenz.

Wohl jeder, der schon einmal ein nur wenige Monate altes Buch auf Momox oder einer anderen Plattform wie Ebay und oder modernen Antiquariate monetarisieren wollte, wird erfahren haben, dass sich die Ankaufspreise selbst für neu erschienene Gebrauchsliteratur nur noch im Centbereich bewegen. Längst einen florierenden Markt für die Wegwerfware Buch entstanden, was Geiger beim Rückblick auf seine Touren selbst anekdotisch beobachtet, als er festhält, dass die Liebesromane weniger und die Kriminalromane mehr wurden, Noten im Altpapier verschwanden und dafür die Weinkartons zunahmen.

Wie rasch das Buch vom gutverkäuflichen Objekt zur Dutzendware geworden, die Öffentliche Bücherschränke und Wühlkisten verstopft, das führt Das glückliche Geheimnis eindringlich vor Augen.

Das Buch als Wegwerfware

Schon längst ist das Buch zu einer Wegwerfware geworden, deren Wiederverkauf zumindest finanziell schon lange nicht mehr lohnt. Das führt bei Geiger dann auch zu einer besonders pikanten Szene, als er, der Träger des Deutschen Buchpreises, bei einer seiner Altpapiersuchen schließlich seinen eigenen ausgezeichneten Roman Es geht uns gut aus dem Müll fischt.

Einzig und allein die Überhöhung seines Wühlens im Altpapier irritiert in diesem Buch etwas. So schreibt sich Geiger aufgrund seines Tuns zum gesellschaftlichen Bodensatz der Gesellschaft herab und sieht sich sozial markiert in der Gosse. Seine Touren zu den Altpapiercontainer schildert er als eine Art Wiedergänger von Doktor Jekyll & Mr Hyde. Ich bin mir bei solchen Bezeichnungen nicht wirklich sicher, ob hier nicht etwas Banales nur einfach dramatisch überhöht wurde. Heute würde man Arno Geiger doch wohl eher zu seinem nachhaltigen und ressourchenschonenden Umgang mit dem gedruckten Wort gratulieren und ihn als Paten eines Öffentlichen Bücherschranks verpflichten, denn ihn gleich festzunehmen, wie er es in diesem Buch für sich fast nahelegt.

Fazit

Von solchen Überdramatisierungen abgesehen ist Das glückliche Geheimnis ein Buch, das den Mythos des sorgenfreien und glamourösen Schriftstelleralltags dekonstruiert und das wie eine Dreingabe zum bisherigen literarischen Schaffen des Vorarlberger Autors. Das Buch beleuchtet die Entstehungshintergründe seiner Romane, erzählt von seinem Werden und seinen familiären Wurzeln und legt nun eben auch mit viel Geraune und Bombast die Inspirationsquellen seines Schreibens offen. Eine Mischung, die trotz der disparaten Elemente aufgeht und vor allem für Geiger-Fans doppelt interessant sein dürfte.


  • Arno Geiger – Das glückliche Geheimnis
  • ISBN 978-3-446-27617-8 (Hanser Verlag)
  • 240 Seiten. 25,00 €
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Jordan Tannahill – Das Summen

Die Ereignisse am Sequoia Crescent

Zugegeben, ein Summen kann ganz schön nervtötend sein, besonders wenn es nachts von einer Schnake im eigenen Schlafzimmer stammt. Doch wenn niemand um einen herum dieses Summen hört und man sich ganz alleingelassen fühlt – wozu kann das Ganze dann führen? Jordan Tannahill exerziert es in seinem Roman Das SummenDie Ereignisse am Sequoia Crescent durch


Dabei ist die Konsequenzen schon ab den ersten Seiten absehbar. Denn um seinen Roman einzuleiten und die Spannung im Roman aufzubauen, setzt Jordan Tannahill auf den alten erzählerischen Kniff eines Vorgriffs, den er der eigentlichen Handlung voransetzt.

Höchstwahrscheinlich sind Sie im Netz schon über das Meme gestolpert, in dem ich splitternackt vor einer Wand von Fernsehkameras herumbrülle. Ein viral gegangener Augenblick von Kontrollverlust, in ein GIF gepackt und dann weltweit in Twitterthreads und Textnachrichten kopiert und weitergeleitet. Höchstwahrscheinlich haben Sie auch die Berichterstattung über die tragischen Vorkommnisse verfolgt, die sich direkt danach am Sequoia Crescent ereignet haben. Und ebenso höchstwahrscheinlich halten Sie mich daher für eine Sektentussi, eine Verschwörungstheoretikerin, der irgendjemand eine gehörige Gehirnwäsche verpasst hat.

Falls Sie dieser oder einer der anderen hoffnungslos aufgebauschten Geschichten, die in den Tagen, Wochen und Monaten danach über mich verbreitet wurden, Glauben schenken, dann kann ich Ihnen das nicht verdenken.

Jordan Tannahill – Das Summen, S. 7

Wer ist diese Frau, die es so zum globalen Phänomen geschafft hat – und wie konnte das alles nur passieren? Das erzählt uns die Ich-Erzählerin Claire in der Rückschau selbst, schließlich ist es ihre Beichte, die wir hier in den Händen halten und die uns erklären soll, wie es soweit kommen konnte. So zumindest erklärt sie es auf den ersten Seiten des Romans selbst. Dabei beginnt alles eigentlich ganz beschaulich.

Ein Summen und Brummen in der Nacht

So lebt Claire ein unauffälliges Leben zusammen mit ihrem Mann Paul und ihrer Tochter in einer austauschbaren Vorstadtsiedlung. Die Wildheit der Jugend hat sie abgeschüttelt, von kreativen und bisweilen provokanten Inszenierungen der Highschool abgesehen, die sie als Englischlehrerin leitet. Regelmäßig trifft sie sich mit ihrem Frauenlesekreis, gibt Schüler*innen Anregungen für Aufsätze und hat sich gut eingerichtet in ihrem ganz bürgerlichen Leben. Doch eines Abends, während der Lektüre eines mittelmäßigen Schulaufsatzes, ist da plötzlich dieses sublime Summen, das außer ihr niemand im Haus wahrnimmt.

Jordan Tannahill - Das Summen (Cover)

Die Suche nach der Ursache des Summens im eigenen Haus fördert keine wirkliche Geräuschquelle zutage. Auch die Suche auf der nächtlichen Vorstadtstraße bringt keine Klarheit. Nur das Summen, es hält an. Sogar tagsüber lässt das nervtötende Geräusch nicht nach. Stets umgibt Claire das Summen, wenn sie darauf achtet.

Dann beginnt das, was etwa Richard Wright oder Lukas Bärfuss in ihren Werken durchexerzierte. Ein kleiner Schritt aus dem gesamtgesellschaftlichen Takt sorgt dafür, dass man rasch durch alle Raster fällt. Wo Bärfuß nur drei Tage für den Abstieg seines Helden brauchte, da dauert es bei Jordan Tannahill deutlich länger. Beginnend bei ihrer Familie, die langsam von ihr abrückt, ist es Stück für Stück die ganze Gesellschaft, die sie meidet.

Dass Claire in einem Schüler einen akustischen Seelenverwandten erkennt, der das Geräusch ebenso wie sie wahrnimmt, hilft dabei aber nicht wirklich. Ähnlich wie Jessica, die von Tilda Swinton verkörperte Heldin im Film Memoria des Regisseurs Apichatpong Weerasethakul, erliegt auch hier die Heldin Claire des Sogkraft des nicht bestimmbaren Geräuschs und entwickelt daraus eine an Besessenheit grenzende Obsession, um die Ursache des Geräuschs zu ergründen. Halt findet sie dabei nach dem Verlust ihrer Arbeitsstelle und ihrer Familie schließlich bei einer Truppe Gleichgesinnter, die sich in einem Haus in der Vorstadt am Sequoia Crescent regelmäßig trifft.

Zunächst noch in losem Takt finden diese Treffen statt, doch die Truppe kommt immer häufiger zusammen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten mit den Treffen der Summen-Hörenden dort wächst sich die Versammlung zu einer wirklichen Stütze für Claire aus. Je mehr sie die Bindungen in der „realen“ Welt verliert, umso mehr fühlt sie sich dort am Sequoia Crescent geborgen – mit entsprechenden Konsequenzen, die Jordan Tannahill langsam vor uns ausrollt.

Fazit

Das Summen ist ein Roman, der nachzeichnet, wie leicht man aus dem gesellschaftlichen Raster heraustreten kann, wenn man sich einer bestimmten Sache verschreibt. Ist es bei Tannahill das Hören des Summens, lässt sich diese Schilderung aber auch parabelhaft auf andere Dinge übertragen, die zu Ausgrenzung oder auch der Hinwendung „spezieller“ Heilslehren führen, die im vorliegenden Fall aus der Gemeinschaft am Sequoia Crescent entwickelt werden.

Dabei löst Tannahill in seinem Roman nichts auf und bietet keine simplen Tricks, um das Summen zu erklären. Vielmehr konzentriert er sich auf die Beschreibung der Prozesse, die zur Radikalisierung Claires führen, wenngleich sich Außenperspektive und geschilderte Innenperspektive im Roman gewaltig unterscheiden. Denn was uns Claire hier als Bericht erzählt, bedingt doch auch einen exklusiven Blick auf die Geschehnisse, den man gerne von außen noch einmal neu überdenken und betrachten möchte.

Doch das verweigert der Roman, der uns so die Sichtweise aufzwingt und den Weg hin zum Internetphänomen und Tagesgespräch nachzeichnet. Das gelingt dem kanadischen Dramatiker Jordan Tannahill mit viel Sogkraft und Gespür für Stimmungen, sodass sich Das Summen in meinen Augen ebenbürtig neben den schon genannten Werken Hagard von Lukas Bärfuß und Der Mann im Untergrund von Richard Wright einreiht.


  • Jordan Tannahill – Das Summen (Die Ereignisse am Sequoia Crescent)
  • Aus dem Englischen von Frank Weigand
  • ISBN: 978-3-8337-4579-9 (Goya Lit)
  • 386 Seiten. Preis: 24,00 €
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James Kestrel – Fünf Winter

Dass es mal etwas länger dauern kann, mit einem Vorhaben, das kennt man aus dem eigenen Leben. Es kommt einem etwas dazwischen, die Bearbeitung des Sachverhalts dauert – und am Ende fragt man sich, waru es jetzt so lange gedauert hat. So krass wie im Falle von James Kestrels Krimi dürfte es aber kaum jemandem gehen. Denn bei der Aufklärung eines Doppelmordes auf Honolulu grätscht Detective Joe McGrady der Ausbruch des Zweiten Weltkrieg in seiner ganzen Härte dazwischen. Es wird Fünf Winter dauern, bis McGrady die Überführung des Täters gelingt. Dabei fordert die Mördersuche einen hohen Preis von McGrady ein. Aber in Sachen Unbeirrbarkeit macht diesem Ermittler wirklich niemand etwas vor.


Wenn Joe McGrady in letzter Konsequenz gewusst hätte, was jener Telefonanruf auslöst, den er trotz Dienstschluss noch abnimmt, er hätte es sich vielleicht doppelt überlegt. Aber so beginnt alles in James Kestrels Roman eigentlich ganz typisch an einem tropischen Tag Ende November des Jahres 1941.

Auf Bitte seines Vorgesetzten soll McGrady nach Dienstschluss noch die nächtliche Begehung eines Tatorts in der Nähe der Kahana Bay vornehmen. Dort in den Bergen Honolulus wurde ein Leichenfunde gemeldet, qualifiziertes Personal ist aber nicht in greifbarer Nähe. Und so schickt sein Chef Joe McGrady los.

Von Honolulu bis nach Yokohama

Der ehemalige Army-Angehörige ist irgendwann auf Honolulu gestrandet und steht jetzt im Dienst des HPD, des Honolulu Police Department. Wirkliche Erfahrungen als Mordermittler hat er keine, lediglich als Streifenpolizist war ein paar Mal mit Morden befasst.

James Kestrel - Fünf Winter (cover)

Als er nun nach einer kurvenreiche Fahrt in die Berge der hawaiianischen Insel am Tatort ankommt, merkt er schnell, dass es sich um keinen gewöhnlichen Mord handelt. Denn der junge Mann, der kopfüber in einem Stall aufgehängt wurde, wurde auch brutal ausgeweidet. Und dann stößt McGrady auch noch auf eine zweite Leiche einer jungen japanischstämmigen Frau, die ebenfalls brutal misshandelt wurde.

Als er Unterstützung anfordert, kommt es zu einem Schusswechsel mit einem Mann, der offenbar am Tatort aufräumen wollte. Trotz Restriktionen durch seinen Vorgesetzten beschließt der Detective, den spärlichen Spuren nachzugehen und stößt damit die Tür zu einem Fall weit auf, der ihm fast alles in seinem Leben kosten wird.

Denn nach dem nächtlichen Schusswechsel bekommt McGrady Wind von einem ähnlichen Mordfall auf einer benachbarten Insel. Er beschließt, den Spuren auch dort nachzugehen, handelt es sich doch allem Anschein nach um einen Täter, der ebenso brutal wie effizient vorgeht.

Als er auf der Suche nach dem Täter nach Hongkong weiterreist, wird er dort in der britischen Kronkolonie in Kowloon verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Zeitgleich kommt es zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auch dort vor Ort, als die Japaner Pearl Harbor bombardieren und Joe McGrady in japanische Kriegsgefangenschaft gerät. Damit bricht eine lange Zeit mit vier Wintern an, die den Ermittler allerdings nie von seinem Ziel abbringen, den brutalen Mörder zu überführen.

Eine wirkliche Odyssee

Es ist wirklich eine Odyssee, die James Kestrel seinem Helden Joe McGrady in Fünf Winter zumutet. Kestrel, der unter seinem wirklichen Namen Jonathan Moore ebenfalls im von Thomas Wörtche herausgegebenen Krimisegment bei Suhrkamp vertreten ist (und hüben wie drüben von Stefan Lux übersetzt wird), hat sich einen großen Handlungsbogen vorgenommen.

Die Reise, auf die sich McGrady begibt, um dem Täter Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen, führt ihn von Honolulu über Hongkong nach Yokohama und schließlich zurück. Er wird fast alles verlieren, bleiben werden ihm doch zwei Gewissheiten, die zur Richtschnur seines Handelns werden.

Da ist zum Einen natürlich die Suche nach dem Täter, die er trotz Inhaftierung und zwangsweisem Aufenthalt in Japan nie aus den Augen verliert. Zum Anderen ist da aber auch Molly, mit der er auf Honolulu liiert ist und die er aufgrund der Mördersuche über Nacht verlassen muss. Diese Liebe lässt ihn aber auch in der Ferne nicht los, womit er natürlich etwas an Homers Helden Odysseus erinnert.

Dabei gelingt es James Kestrel die Schwüle des tropischen Honolulu ebenso einzufangen wie die beklemmende Atmosphäre des Bombardements der amerikanischen Truppen auf Tokyo.

Mit Fünf Winter beleuchtet James Kestrel das Thema des Zweiten Weltkriegs aus einer hochinteressanten Perspektive, ist die Kriegsgefangenschaft McGradys und dessen gleichzeitiger Verbindung zur japanischen Zivilgesellschaft doch ein Konflikt, der ihn die Auswirkungen des Kriegs mit den sprichwörtlichen zwei Herzen in der Brust erleben lässt. Wie er die Gräuel jener Zeit auf beiden Seiten einfängt, das beeindruckt.

Die Mördersuche selbst besticht eher durch Unbeirrbarkeit denn durch Raffinesse – aber wie es James Kestrel gelingt, seinen Bogen zu spannen, Krimi und Zeitgeschichte sowie die verschiedenen Stationen dieses Romans miteinander zu verbinden und dabei durchaus spannend zu erzählen, das ist wirklich gut gelungen und lässt auch die Auszeichnung mit dem Edgar Award 2022 folgerichtig erscheinen.

Fazit

Was der Suhrkamp-Verlag als gewaltiges Epos im Cinemascope-Format bewirbt ist in der Realität tatsächlich ein beeindruckender Bilderbogen, der durch seine exotischen Schauplätze, eindringliche Schilderungen der Kriegsgräuel und einen unbeirrbaren Helden Homer’schen Prägung besticht. Ein starkes Buch!


  • James Kestrel – Fünf Winter
  • Aus dem Englischen von Stefan Lux
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-47317-7 (Suhrkamp)
  • 498 Seiten. Preis: 20,00 €
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André Hille – Jahreszeit der Steine

Ein Tag im Leben eines Vaters inmitten der Jahreszeit der Steine. Den beschreibt André Hille in seinem gleichnamigen Roman, in dem ihm die Nahaufnahme eines Mannes gelingt, der nicht nur über die eigene Prägung und seine Rolle als Vater viel nachdenkt, sondern sich bisweilen auch in seinen Grübeleien zu verlieren droht.


Die Jahreszeit der Steine von André Hille ist eines jener Bücher, bei denen es mir nicht gelingen würde, den Reiz des Buchs durch neutrale Schilderungen in Worte zu fassen. Vielmehr ist es das eigene Ich, das ich hier entgegen meiner sonstigen Gepflogenheiten bemühen muss, um meine Faszination für die Prosa André Hilles in Worte zu fassen. Deshalb hier nun eine mehr als subjektive Würdigung eines Buchs, in dem ich mich als mittelalter männlicher Leser hervorragend wiedergefunden habe, obschon der namenlose Protagonist nicht allzu viele Berührungspunkte zu mir selbst aufweist.

Leben auf dem Land

Dabei wirkt das Leben und die geschilderte Welt in André Hilles Roman wie eine Szenerie, die sich auch Juli Zeh in ihren boomenden Romanen über die ostdeutsche Provinz nicht besser ausgedacht haben könnte. Aufgewachsen in der DDR lebt der Erzähler zusammen mit seiner Frau Levje und den drei Kindern in einem Eigenheim auf dem Land, das von Äckern und Monotonie umgeben ist. Morgens radelt er seine beiden jüngeren Kinder Malik und Fritzi im Anhänger auf dem Rad in den Kindergarten, versucht sich danach an Momenten der Produktivität, die er für sein eigenes Schreiben und die Führung seiner eigenen Texterwerkstatt nutzen möchte.

Im Keller arbeitet der Holzspalter, um das Haus für die anstehenden Wintermonate mit Wärme zu versorgen. Im Wohnzimmer steht ein ausladender Tisch, unter dem Dach hat er sich seine eigene Bibliothek als Rückzugsraum eingerichtet. Alles erscheint wie ein hippes Klischee der aufs Land gezogenen Großstädter, wie man es in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dutzendfach in ganz unterschiedlicher Qualität lesen kann.

Doch im Gegensatz zur Prosa Juli Zehs bleiben die Figuren bei André Hille keine Stellvertreterfiguren für gesellschaftliche Konflikte, die Verwerfungslinien zwischen Landbevölkerung und den Zugezogenen symbolisieren sollen. Was man in Jahreszeit der Steine finden kann ist Tiefe, Glaubwürdigkeit und damit auch ein Gefühl von Echtheit.

Ein Tag in Echtzeit

André Hille - Jahreszeit  der Steine (Cover)

Wie kommt es zu diesem Gefühl der Authentizität? Das hat mit der Erzählweise des Romans zu tun. Denn André Hille wagt eine extreme Nahaufnahme seines namenlosen Helden, den er einen Tag quasi in Echtzeit erleben lässt.

Wie in einem One-Cut-Video folgt sein Blick ständig dem Erleben und Denken seines Protagonisten einen ganzen Tag lang. Von der Früh bis zum Abend spannt Hille den Erzählbogen, der alles andere als spektakulär ist.

Sein Held erwacht zu den Klängen der ARD-Infonacht im Ohr, bereitet das Frühstück für die Familie vor, bringt die Kinder in die Schule und abends ins Bett, ist tagsüber viel mit seinen Gedanken und Erinnerungen befasst, ärgert sich über die Unordnung daheim und laboriert an minimalen Kränkungen im Zusammenleben mit seiner Frau, die sich trotzdem bereits zu einer veritablen Barriere zwischen ihnen aufgehäuft haben.

So weit so gut. Allerdings ist das hier Beschriebene doch wohl eher Alltag, den viele Paare und Familie in einer ähnlichen Konstellation tagtäglich erleben durften. Einen spannenden Roman macht solch eine schmucklose und austauschbare Rahmenhandlung sicherlich nicht aus.

Der doppelte Gundermann

Dass dem so ist, das hat mit der Figurentiefe zu tun, die André Hille durch die Beschreibung der Gedanken und Erfahrungswelt seines Helden erzielt. Denn die äußere Handlung alleine wäre kein Grund, diesen Roman als etwas Besonderes zu erachten. Erst durch den Gedankenfluss und die Assoziationen und Erinnerungen, die sein tägliches Tun auslösen, gewinnt der Roman an Qualität und Tiefe.

Dass dies so ist, kann man am besten mit dem Gundermann illustrieren, der in Jahreszeit der Steine in zweifacher Ausführung auftritt. So zitiert André Hille den Sänger, um mithilfe von dessen Poesie zugleich die Erlebniswelt als auch die die DDR-Hintergrund seines Helden zu illustrieren. Doch auch im Garten stößt er auf Gundermann, diesmal allerdings in pflanzlicher Form.

Beim Versuch, diesen aus dem Boden zu ziehen, droht sich Hilles Held in den Strängen zu verheddern und zu verlieren.Immer wieder sind es neue Stränge, die sein Zerren an der Pflanze zutage fördert und die sich der Entfernung aus dem Garten widersetzen. Schließlich offenbart sich in ganzes unterirdisches Rhizom, das sich vor ihm auftut. Ein Bild, das sich eindeutig auch auf die Gedankenwelt des Protagonisten selbst übertragen lässt.

Immer wieder liefert ihm der Alltag Möglichkeiten zum Nachdenken und Ergründen seiner eigenen Biografie und seiner Verhaltensweisen. Das Aufwachsen als Kind eines stark dem Alkohol zuneigenden Vaters, seine eigene Rastlosigkeit und die Versuche, dem väterlichen Erbe zu entkommen. Die Suche nach einem eigenen Weg als Vater zwischen Strenge und Akzeptanz der Individualität seiner Kinder, all das sind Gedanken, die ihn den Tag über begleiten und mit denen Hille nicht alleine ist in diesem literarischen Frühjahr.

Grübeleien von früh bis spät

Dabei neigt er zu starken Grübeleien, die den tatsächlichen Alltag fast zu überschatten drohen. So vertut er nahezu den gesamten kinderfreien Vormittag über die Betrachtung seiner Bibliothek und der schieren Frage, welcher von zwei Vornamen besser zu seinem Helden passt, den er in den Mittelpunkt eines Schreibprojekts gesetzt hat. Immer wieder ist er auf der Suche nach dem richtigen Moment, um zu schreiben oder um zu lesen oder in einer anderen Form produktiv sein.

Statt die Kränkungen mit seiner Frau anzusprechen, beschäftigt er sich lieber im Stillen mit diesen, wälzt sie hin und her und sorgt damit auch dafür, dass sich diese immer weiter aufschichten wie die Mauer aus Findelsteinen, die er um den Garten des Familienhauses gesetzt hat.

Überhaupt, die titelgebenden Steinen, die immer wieder als Leitmotiv im Buch auftauchen:

Trotzdem sind die Äcker voller Steine. Vor einiger Zeit, als wir auf der Suche nach Feldsteinen für unseren Garten waren, habe ich mich mit einem Bauern darüber unterhalten, der aus deinem Dorf mit dem bezeichnenden Namen Steinfeld stammt, in dem das Phänomen besonders verbreitet ist, und er lieferte eine neue Theorie: Die Steine werden durch die Fliehkräfte der Erdrotation nach außen getrieben, sagte er, Zentimeter für Zentimeter arbeiten sie sich durch die Erde, bis sie eines Tages an der Oberfläche auftauchen

André Hille – Die Jahreszeit der Steine, S. 85

Die Steine als Verborgenes, das an die Oberfläche drängt. Der Acker, der hier vom Schauplatz der Gassirunden mit Hund bis zum Ort für eine Rattenbeerdigung dient. Die Schutzmauer, die aus den Steinen gefügt war und das Haus vor äußeren Einflüssen abschirmen soll: vieles ist hier mehrfach aufgeladen und kann sowohl als auch als Abbild der Seele und der Verfassung seines Helden gelesen werden.

Ein beeindruckendes Buch

Meine Faszination für dieses Buch ist auch dadurch begründet, dass Hilles Held mit dem selbstreflexiven Denken und dem sprunghaften Erzählen mir selbst sehr nahe ist, obschon wir außerhalb einer gewissen Kulturbeflissenheit biographisch keine Berührungspunkte aufweisen und auch in Sachen Lebensweise so gut wie gar nichts gemein haben. Aber wie Hille es schafft, in die Gedankenwelt einzudringen, alles Zagen und Grübeln plausibel aus der Biografie und dem Werdegang seines Helden herzuleiten und wie er ein immer dichter werdendes Netz aus Gedanken und Alltagsbeschreibungen strickt, das trotz seines Alltäglichkeit zu keinem Zeitpunkt fade wird, das hat mich sehr beeindruckt und zu einer identifikatorischen Leseweise eingeladen.

Wie findet man seine Rolle als Mann und als Vater? Wie kann man sich von seinem Erbe emanzipieren? Und bis zu welchem Grad ist es sinnvoll, partnerschaftlich zur Symbiose zu verschwimmen und wann gibt man seine Individualität auf? All diese Überlegungen stecken nach meiner Lesart in Jahreszeit der Steine, das mich als mittelalter, männlicher Leser stark angesprochen hat, sicherlich aber nicht zu allen Leser*innen gleichsam stark sprechen dürfte.

Fazit

Um mir den Luxus eines rein subjektiven Werteurteils zu erlauben, zu dem mich dieses Hobbyprojekt hier befähigt: wie es André Hille in Jahreszeit der Steine gelingt, den unscheinbaren Alltag eines Familienvaters durch die vielgestaltigen Gedanken und Erinnerungsschleifen in seiner ganzen Individualität doch zu etwas so Universellem und Ansprechenden zu machen, das man sich immer wieder in der Lektüre wiederfindet und man die Grübeleien seines namenlosen Helden gerne begleitet, das hat mich wirklich beeindruckt. Ein starkes Buch, dessen Innerlichkeit und Gedankenfluss wunderbar mit der unspektakulären äußeren Handlung kontrastieren und das mit seinem narrativen Bogen eines einzelnen, chronologisch geschilderten Tages genau die richtige Form und Länge für die verhandelten Themen aufweist. Dieses Buch ist wirklich gelungen!


  • André Hille – Die Jahreszeit der Steine
  • ISBN 978-3-406-79991-4 (C. H. Beck)
  • 338 Seiten. Preis: 25,00 €
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