Annika Reich – Männer sterben bei uns nicht

Drei Generationen Frauen, ein stattliches Anwesen am See und ein Todesfall – beziehungsweise gleich mehrere. Davon handelt Annika Reichs neuer Roman Männer sterben bei uns nicht, die darin eine Welt mit auffällig abwesenden Männern zeichnet.


Als ich die erste tote Frau entdeckte, war ich noch keine zehn Jahre alt und wollte angeln.

Annika Reich – Männer sterben bei uns nicht, S. 9

Was für ein erster Satz, mit dem uns Annika Reich in ihre Geschichte lockt und der den Tod als zentrales Motiv ihres Buchs einführt.

Das Haus am See

Annika Reich - Männer sterben bei uns nicht (Cover)

Als die junge Luise am Ufer des stattlichen Herrenhauses (oder im vorliegenden Fall eigentlich eher Damenhauses) angeln möchte, entdeckt sie eine angeschwemmte Tote, die sich am Steg verkeilt hat. Es wird nicht die letzte Tote im Buch bleiben. Denn die ganze Handlung von Männer sterben bei uns nicht ist um eine Beerdigung herum gruppiert, nämlich die von Luises eigener Großmutter.

Diese führte im stattlichen Haus am See das Regiment, hielt als Matriarchin die Fäden zusammen und bestimmte die Geschicke der Familie, bis in den Tod hinein. Für ihre Beerdigung hat sie der Haushälterin Justyna genaue Anweisungen hinterlassen, und so versammeln sich die Frauen ein letztes Mal, um der Großmutter die Ehre zu erweisen.

Im Laufe der mit Rückblenden gespickten Beerdigung ergibt sich allerdings ein sehr ambivalentes Bild. Denn mit mit all den rauschenden Feste, die sie im Herrenhaus am See gab, mit all der zur Schau getragenen Disziplin und den unverrückbaren Grundsätzen ist es nicht weit her.

Drei Generationen von Frauen

So wurde Luises Schwester Leni in der Kindheit kurzerhand in ein englisches Internat abgeschoben, Luises Mutter begreift den Tod der Schwiegermutter als Befreiung – und im Lauf der Geschichte tauchen immer mehr Personen und Geheimnisse auf, von denen Luise zunächst keine Ahnung hatte, passten sie einfach nicht ins Bild, das sich die Großmutter von ihrer Familie gemacht hatte und diese dann kurzerhand zur Seite schob. All das offenbart sich aber erst langsam in diesem Roman.

In meinem Schrankzimmer standen eine Palme und einer kleiner Tisch, auf dem mein eigener Schmuck lag und silberne Bilderrahmen mit Kinderfotos von Olga und mir. Ich hatte Großmutters Turm in meinem Schrankzimmer nachgebaut. Ich war die Erbin der Steine und des Anwesens, der toten, aussortierten und verschwundenen Frauen, ob ich es wollte oder nicht. Ich ging ins Wohnzimmer und setzte mich an meinen Schreibtisch, dann kniff ich die Augen zusammen wie eine schlechte Schauspielerin. Ich reagierte auf Großmutters Tod so, wie sie auf ihren Tod reagiert hätte. Wir weinten nicht.

Annika Reich – Männer sterben bei uns nicht, S. 78

Das Schweigen und die Abwesenheit von Männern

In kurzen Kapiteln montiert Annika Reich ihre Geschichte, die aus der minutiös geschilderten Beerdigung und dem sich langsam entfaltenden Familienstammbaum besteht. Dabei ist der Tod ein Leitmotiv (im Lauf der Geschichte werden es neben der Toten in der Familie auch die Leichen zweier Frauen sein, die Luise angeschwemmt am Hausstrand findet) und insbesondere auch die Abwesenheit der Männer, über deren Verbleib sich die Großmutter und eigentlich die ganze Familie ebenso ausschweigt wie die Verstrickungen der Familie ins „Dritte Reich“.

Erst auf Seite 51, also nach einem verstrichenen Viertels des Romans, findet der erste Mann in Form des verstorbenen Großvaters im Roman Erwähnung. Männer sind in dieser Familie und diesem Roman wirklich nur eine Randerscheinung, wodurch hier ein Roman entsteht, der durchgängig aus weiblicher Perspektive auf die familiären Implikationen über drei Generationen hinweg blickt, die aber eben doch auch nicht frei von patriarchale Mechaniken und Mustern sind.

Das ist durch die erwähnte Doppelstruktur des Romans schnell zu lesen, doch alle Fragen, die Männer sterben bei uns nicht aufwirft, werden im Lauf des Romans nicht wirklich beantwortet. Es bleiben Leerstellen, viel Unausgesprochenes und Nicht-Aufgearbeitetes auch nach den 200 Seiten des Textes bestehen. Mir persönlich hätte ich noch etwas mehr Prägnanz, in sprachlicher und konzeptueller Hinsicht gewünscht, denn so bleibt für mich von dieser so gut wie rein weiblichen Familiensaga über das Ende der Geschichte hinaus das Gefühl einer gewissen Skizzenhaftigkeit bestehen, das Annika Reichs Buch umweht.

Fazit

Wer sich daran nicht stört, der bekommt mit Männer sterben bei uns nicht eine rein weibliche Familiensaga, das Porträt einer eisernen Lady in ihrem Haus am See und eine minutiös geschilderte und geplante Beerdigung zu lesen, die sich doch anders entwickelt, als vorhergesehen. Nicht nur am heutigen Weltfrauentag eine interessante Lektüre.


  • Annika Reich – Männer sterben bei uns nicht
  • ISBN 978-3-446-27587-4 (Hanser Berlin)
  • 208 Seiten. Preis: 23,00 €
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Paul Zifferer – Die Kaiserstadt

Ein Mann kehrt aus dem Krieg zurück nach Wien – und sucht nach seinem Platz in der Gesellschaft und der eigenen Ehe. Die Kaiserstadt von Paul Zifferer ist eine echte Wiederentdeckung und auch genau 100 Jahre nach Erscheinen noch höchst lesenswert.


Seine Heimatstadt Wien erkennt Toni Muhr kaum, als er am 30. November 1916 den Fuß auf heimischen Boden setzt.

Toni Muhr erinnerte sich später nicht mehr, wie er vom Westbahnhof auf den Neuen Markt geraten war. Er fühlte Müdigkeit und Schwere in allen Gliedern und hatte nur den einen Wunsch, so schnell als möglich nach Hause zu gelangen.

Paul Zifferer, Die Kaiserstadt, S. 7

Denn statt dem wohlgeordneten Leben auf den Plätzen und Gassen der Hauptstadt des Kaiserreichs herrscht in der ganzen Stadt Gedränge und eine Stimmung zwischen Euphorie und Trauer. Denn zeitgleich mit der Ankunft Toni Muhrs in der Stadt wird der greise Kaiser Franz Joseph I. zu Grabe getragen.

Nach einer 68 Jahre währenden Regentschaft ist der Habsburgische Kaiser verstorben und mit ihm kurz darauf auch die Monarchie in Österreich. Doch davon ist an jenem 30. November noch nichts zu merken. Vielmehr will jeder noch einmal einen Blick auf den Toten erhaschen – und auch Toni Muhr sieht den Leichenzug passieren, ehe Franz Joseph I. dann in der Kaisergruft der Kapuzinerkirche zur letzten Ruhe gebettet wird.

Rückkehr nach Hause

Aufgehalten vom Leichenzug drängt es den jungen Mann allerdings vielmehr nach Hause, das er seit Kriegsbeginn nicht mehr gesehen hat. Denn er geriet als abgeordneter Soldat im Ersten Weltkrieg in serbische Kriegsgefangenschaft, während der für die österreichisch-ungarischen Truppen kämpfte.

Paul Zifferer - Die Kaiserstadt (Cover)

Traumatisiert von den Erlebnissen, von Hunger und Entbehrung kehrt er nun heim und freut sich auf sein Zuhause in der Stallburggasse. Dort findet er in seiner Atelierwohnung aber schon wieder Ungewohntes vor. Denn statt seiner Gattin Lauretta, der er aus dem Felde noch Briefe schrieb, ist nur das Hausmädchen Poldi anwesend. Seine Gattin ist unterwegs – und wird ihm später ganz unbeschwert und scheinbar unbeeindruckt unter die Augen treten.

Während seiner Abwesenheit hat sie, die einer Familie mit guten Verbindungen entstammt, weiter auf dem gesellschaftlichen Parkett der Haupstadt verkehrt und lässt sich auch durch die Rückkehr ihres Gatten nur wenig aus dem Konzept bringen.

Toni Muhr fühlt sich eher wie ein Gast im eigenen Haus – und wird durch ein weiteres Vorkommnis zudem noch mehr aus der Bahn geworfen. Denn seine Forschungen zur Anwendung für Tierkohle, an der er vor dem Ausbruch des Krieges im Privaten forschte und seinen Vorgesetzten zum Patent vorschlug, sind aus seiner Studierstube verschwunden. Kurze Zeit darauf später erfährt er, dass diese Forschungen inzwischen zu einem Kriegspatent durch seinen Arbeitgeber, die Chemiefabrik der Brüder Katlein, eingereicht und zur Marktreife gebracht wurden.

Kohlhaas in Austria

In Toni Muhr erwacht der Geist der Rebellion und er beschließt auch mithilfe seines Schwagers Rudi Saluzzo, sich zu wehren. In der Folge wird er zu einer Art österreichischem Kohlhaas, der für die Anerkennung und Auszahlung seiner Forschungsarbeit eintritt und später sogar einen Prozess gegen die Chemiefabrikanten Katleins anstrengt.

Doch dabei rennt Toni Muhr immer wieder gegen unsichtbare Schranken und wittert eine Verschwörung. Hat ihn seine Gattin Lauretta hinter seinem Rücken betrogen und gemeinsame Sache mit den Katleins gemacht? Haben diese in der Stadt überall an entscheidenden Stellen Kontakte, mit der sie den Kampf Muhr um Wiederherstellung seines Rufs und seiner Ehre hintertreiben? Mithilfe von Rudi Saluzzo und der gewieften Fürstin Lubecka, zu der er auch in Liebe entflammt, versucht er auf verschiedenen Wegen, Gerechtigkeit zu erlangen und die Katleins zu einer Anerkennung seiner Leistung zu zwingen.

Paul Zifferer schildert in Die Kaiserstadt ein Wien im Umbruch. Der alte Kaiser ist tot und damit auch die Gewissheit einer ruhigen Regentschaft, in der alle Menschen um ihren Platz in der Gesellschaft wussten. Die Reste dieses Standesbewusstseins lassen sich im Roman des österreichischen Journalisten und Übersetzers genauso besichtigen wie die neue Welt, die durch die normative Kraft des Kriegs geschaffen wurde. Kriegswirtschaft, sozialer Abstieg und neue Netzwerke im Bürgertum beschreibt Die Kaiserstadt genauso, wie es auch das alte, königlich und kaiserliche Wien vermisst.

Denn bei seinem Kampf um Gerechtigkeit begibt sich Toni Muhr in die Hände der gewieften Gräfin, von deren Palais aus er auf eine nicht immer wirklich vorhersehbare Tour für die Wiederherstellung seiner eigenen Reputation geschickt wird. So besucht er Minister während Debatten im Paralament, wird dem Erzherzog bei einem Hauskonzert vorgestellt, wird in Redaktionsstuben vorstellig und begibt sich sogar bis ins Heurigen-Viertel nach Grinzing, wo er die Buschenschänke seines Vaters, eines Weinbauern zu Heurigen- und Wienerliedern besucht.

Das Porträt einer Gesellschaft im Umbruch

So ist Die Kaiserstadt zugleich genau angelegtes Porträt der alten Wiener Gesellschaft, genauso wie über dem ganzen Text schon die Ahnung einer neuen Welten- und Gesellschaftsordnung liegt. Paul Zifferer erweist sich als genauer Chronist dieses Wiens, das er stimmungsvoll und durchaus auch komisch einzufangen weiß. Sein Blick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Kämpfe seiner Heldinnen und die Anpassungen an die Zeit und Umstände jener Zeit des Ersten Weltkriegs haben nichts von ihrer Schärfe und Prägnanz verloren, auch wenn diese durch die gehobene und manchmal schon etwas antiquierte Sprache das auf den ersten Blick verstellen mag.

Aber auch wenn hier noch Münder zum Kusse gereicht werden und das Haar falb schimmert, so ist Die Kaiserstadt doch ein großartiger Lesegenuss, der als echte Wiederentdeckung gefeiert werden muss und die uns einen genauen Blick auf die österreichische beziehungsweise wienerische Gesellschaft vor hundert Jahren erlaubt (die dabei aber auch – ganz Chronist- alle zeittypischen Zwischentöne enthält, so auch Antisemitismus, der sich im Hass Toni Muhrs auf die jüdischen Fabrikanten Katlein äußert. Auch das sollte an dieser Stelle Erwähnung finden).

Und gleich erklärte er: „Ein Erfolg wie der Ihre, ist für uns alle wichtig. Sie sind nämlich“ – der Abgeordnete lächelte – „Etwas ganz Rares hierzulande… so eine Art wienerischer Kohlhaas.“

Toni Muhr wehrte ab: „Man hat mir das schon einmal gesagt“, entgegnete er, „aber ich glaube nicht, dasse s gut ist, als Michael Kohlhaas durch die Welt zu rennen, oder besser, ich glaube es nicht mehr. Und seien wir nur aufrichtig – ein wienerischer Kohlhaas ist ein Ding wider die Natur: Er muss im Jammer enden… Sehen Sie“, schloss Toni Muhr bitter, „der wirkliche Kohlhaas stirbt durch Henkershand, doch seine beiden Rappen, auf die es ihm ankam, an denen seiner Seele Seligkeit hin, werden dickgefüttert. Sein wienerischer Vetter kann sogar Amtmann werden, vorausgesetzt, dass er zum Postmeister taugt, die armen Pferde aber verrecken.“

Paul Zifferer – Die Kaiserstadt, S. 358

Die Wiederentdeckung eines Vergessenen

Gleich zwei Nachworte sind es, die Die Kaiserstadt flankieren und das Leben von Paul Zifferer einordnen. Während sich Rainer Moritz inhaltlich dem 1923 publizierten Roman nähert, widmet sich Katharina Prager in ihrem Nachwort dem Werk und dem Leben Paul Zifferes.

Sie zeichnet darin das Bild eines Mannes, der sich mit den gehobenen Kreisen Wiens gut zu vernetzen wusste und der sich mit seinem journalistischen und übersetzerischen Wirken, als Diplomat und später auch als Presseattaché zeitlebens für die österreichisch-französische Völkerfreundschaft einsetzte.

Doch auch wenn seine Beschäftigung mit der Literatur Frankreichs sein Schreiben beeinflusst haben mag und die Presse der Alpenrepublik bei Erscheinen Der Kaiserstadt Zifferer als eine Art österreichischen Balzac pries: seine Bekanntschaft mit Hugo von Hoffmannsthal oder Arthur Schnitzler bewahrte ihn jedoch auch nicht vor scharfen Urteilen, das Arthur Schnitzler wie folgt in seinem Tagebuch notierte:

Las Ziffereres Roman „Kaiserstadt“. Wie man, ohne jede wirkliche Begabung, einen durchaus correcten Roman schreiben kann. (Und in wenigen Jahren wird er unlesbar sein.)

Arthur Schnitzlicher in seinem Tagebuch 1923

Ein Urteil, das man dank des editorischen Bemühens des Reclam-Verlags nun aber auch hundert Jahre nach Erscheinen mühelos entkräften kann. Denn dieser Roman ist wirklich mehr als lesbar und vor allem lesenswert. Eine echte Wiederentdeckung, die nichts von ihrer Frische und Präzision verloren hat!


  • Paul Zifferer – Die Kaiserstadt
  • Mit Nachworten von Katharina Prager und Rainer Moritz
  • ISBN 978-3-15-011443-8 (Reclam)
  • 396 Seiten. Preis: 28,00 €
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Lisa Weeda – Aleksandra

Eine Frau mit Mission unterwegs in Richtung Volksrepublik Lugansk. Doch statt im Schoß der Familie findet sie sich plötzlich wieder in einem ominösen Gebäude voller Erinnerungen, das auf den Namen Palast des verlorenen Donkosaken hört und in dem die ganze wechsel- und leidvolle Geschichte der Ukraine anhand einer Familie offenbar wird. Aleksandra von Lisa Weeda (übersetzt von Birgit Erdmann).


Nein, der Soldat am Checkpoint in Richtung der sogenannten Volksrepublik Lugansk am Übergang von der Ukraine zum von Russland annektierten Gebiet der Krim will die junge Erzählerin im August 2018 partout nicht passieren lassen. Dabei hat sie eine wichtige Fracht und Aufgabe im Gepäck, für die sie den Checkpoint passieren möchte.

Mit ernster Miene hole ich ein längliches Leinentuch aus der Tasche und zeige es dem Soldaten.

„Dieses Tuch ist fast ein Jahrhundert alt. Es hat Tausende Kilometer zurückgelegt. Sie dürfen ihm nicht seine letzte Reise nach Hause verwehren.“

Das weiße Tuch ist mit schwarzen und roten Linien bestickt, die Ränder mit blauen, roten und schwarzen Blumenmustern. Ich deute mit dem Zeigefinger auf das Tuch. „Sie Sie diese Linie hier, über der der Name Kolja steht, die Linie, die 2015 endet? Meine Oma Plemplem hat mich gebeten, das Tuch zu seinem Grab zu bringen, um die Zeit zu flicken. Sonst ist er verloren.“

Lisa Weeda – Aleksandra, S. 15

Doch trotz der Erklärung ist der Soldat nicht zu erweichen – und so setzt die Erzählerin Lisa auf die normative Kraft des Faktischen und sprintet einfach kurzerhand durch den Checkpoint und schlägt sich trotz Minenwarnung ins dahinterliegende Getreidefeld, um auf diesem Wege zum Grab ihres Großonkels zu gelangen.

Im Palast des verlorenen Donkosaken

Doch statt eines Weges oder Minen findet sich mitten im Getreidefeld plötzlich die Tür zu einem hohen Turm, den Lisa kurzerhand betritt. Dadurch findet sie sich im sogenannten Palast des verlorenen Donkosaken wieder, wie ihr ihr Urgroßvater Nikolaj erklärt, der sie in diesem rätselhaften Haus willkommen heißt, das auf Lisa wie eine hysterische Geburtstagstorte oder eine schlanke Version des Turmbaus zu Babel wirkt. Sowjetische Kunst mit Lenin-Porträts oder Arbeitern und Bauern an den Wänden – und dazu noch verschiedenste Räume und Zeitebenen, in denen man sich schon einmal verirren kann, wie auch Lisa im Lauf des Romans feststellen muss.

Lisa Weeda - Alesandra (Cover)

Gemeinsam durchwandert sie mit Nikolaj die verschiedenen Räume des Palastes – und damit auch die Erinnerungen und Erfahrungen ihrer Großfamilie, in der sich alle Verwerfungen und Schmerzen des 19. und 20. Jahrhunderts abbilden und wiederspiegeln. Denn ausgehend von Lisa als jüngstem Spross der Großfamilie Krasnov entwirft Lisa Weeda in Aleksandra einen Familienstammbaum, der sich über ganze fünf Generationen erstreckt.

Das Leitmotiv ist dabei das eingangs erwähnte Tuch, das als eine Art gewebtes Familienstammbuch die verschiedenen Linien und Generationen des Krasnovs zusammenführt und von Aleksandra, der Großmutter der Ich-Erzählerin, im Geheimen bestickt wurde. Schwarze und rote Fäden stehen dabei für Glück und Leid, das die Familie in mannigfaltiger Form erfahren musste. Und schwarz und rot ist nicht nur das Tuch, sondern die ganze Ukraine, wie der in den Niederlanden lebenden Ich-Erzählerin vermittelt wurde.

Das Land ist immer schwarz und rot, brachte Baba Mari mir bei. Schwarz steht dabei nicht nur für unsere Erde, es steht auch für den Tod. Unser Landstrich mag zwar launisch sein, aber er ist immerhin unser Land, sagte sie häufig. All unsere Geschichten liegen hier begraben und alle Geschichten sind hier letztendlich zu Hause, auf diesen Feldern. Die Linien auf diesem Tuch sind schöne und schaurige Geschichte, und es kommen immer mehr hinzu. Weißt du, was meine Baba Mari zu mir gesagt hat, Lisa?

Dieses Stück Land kriegt man nicht aus uns heraus, es steckt in unserem Blut.“

Lisa Weeda – Aleksandra, S. 101 f.

Leider zu viel Themen und Personen für zu wenig Seiten

Ja, die Erinnerungen stecken im Boden – und auch in jeder Seite des Romans. Und das ist in meinen Augen auch das Kernproblem dieses Romans, der an seiner völligen Überfrachtung laboriert. Denn jede Seite und jeder Raum im Palast des verlorenen Donkosaken ist mit Erinnerungen aufgeladen, die die wechselvolle Geschichte der Ukraine zwischen der Teilannektion durch Russland, die Befreiung aus dem russischen Großreich und die Zeiten der Weltkriege und der der Sowjetunion zeigen sollen.

Lisa Weeda erzählt von der bitteren Armut, der sich die Familie nicht einmal mit dem Verstecken von Getreidesäcken entziehen konnte, sie erzählt vom ebenso absurden wie fanatischen Stalinismus und Leninismus, von grausamen Pogromen an der jüdischen Bevölkerung (die Erinnerungen an die Massaker in Butscha und anderen Orten wecken), sie schildert die Deportationen während des „Dritten Reichs“, die Revolution, die sich am Maidanplatz entspann, die Zerrissenheit, der sich die Ukrainerinnen und Ukrainer angesichts der Besetzung ihrer Krim ausgesetzt sahen.

Das und noch viel mehr sind die Themen, die Lisa Weeda auf gerade einmal knapp 290 Seiten in sehr verknappter und verdichteter Form abhandelt und die sie neben der realistischen Schilderung der historischen Begebenheiten noch um eine zweite, magische Ebene in Form des Palastes und der immer wieder auftretenden leuchtender Hirsche, die auch stellenweise als Erzähler agieren, ergänzt.

Dabei wirkt das Ganze an manchen Stellen so, als wenn eine Entscheidung für die Form eines erzählenden Sachbuch die klügere Wahl für die Bearbeitung ihres Stoffs gewesen wäre. Und auch wenn ihr Palast des verlorenen Donkosaken in ihrer Schilderung unermesslich hohe Decken und unendlich viele Räume aufweist, so ist es ebenjener große Raum, der im Handlungsüberschwang dieses Buchs auf der Strecke bleibt.

Vieles, das die niederländisch-ukrainische Autorin und Filmemacherin hier vorbringt, ist in meinen Augen zu gehetzt und schnell aneinandergereiht, als das es wirklich Wirkung entfalten könnte. So bräuchte der „Jahrhundertroman der Ukraine“ (so der Verlag in seiner Werbung) eben mehr Zeit und Raum, um genauer auf Figuren und ihr Erleben eingehen zu können. Aber durch die thematische Überfrachtung und unübersichtliche Personalführung geht der erzählerische Fokus verloren, selbst wenn dem Roman der große Stammbaum vorangestellt ist

Der Familienstammbaum der Krasnovs

Die fünf Generationen und ihr Erleben in Schlaglichtern rasen einfach am Leser vorbei – und werden durch fehlende literarische Gestaltungsmittel auch nicht wirklich unterscheidbar, was insbesondere durch die Namensgleichheit vieler Aleksandras oder Nikolajs dann wirklich zu einem Problem wird (zumindest bei meiner Lektüre).

Fazit

Auch wenn das Ansinnen der Autorin (die, so viel darf man auch aufgrund des Vorworts spekulieren, als relativ deckungsgleich mit der im Buch geschilderten Familie anzusehen sein dürfte) mehr als ehrenwert ist: vielleicht braucht Literatur doch einfach mehr Zeit, als sie sich Lisa Weeda wahrscheinlich unter Eindruck der jüngsten Ereignisse des letzten Jahres gegeben hat. Mehr Raum für die Figuren, weniger Hatz durch die wechselvolle ukrainische Geschichte und mehr Fokus auf weniger Episoden, das wäre hier vielleicht der Schlüssel zum Erfolg gewesen. So bleibt zumindest bei mir der Eindruck eines überfrachteten Familienromans, zu dessen Personal und Erlebnissen ich leider zu keinem Zeitpunkt eine Bindung aufbauen konnte.


Eine weitere spannende Perspektive auf den Roman gibt es auch auf dem Blog Tralalit, der sich insbesondere mit Übersetzungen beschäftigt. So auch hier mit der Übertragung von Aleksandra ins Deutsche durch Birgit Erdmann. Klare Leseempfehlung!


  • Lisa Weeda – Aleksandra
  • Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann
  • ISBN 978-3-98568-058-0 (Kanon-Verlag)
  • 290 Seiten. Preis: 25,00 €
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Sarah Winman – Lichte Tage

Vincent van Goghs Leben und Werk als Inspiration für ganz unterschiedliche Menschen im Oxford zu Beginn der 90er Jahre. Davon erzählt Sarah Winman in ihrem Roman Lichte Tage auf berührende Art und Weise.


Es ist ein Zufallsfund, den Dora bei einer kleinen Tombola in Oxford zu Beginn 50er Jahren macht. Denn nach dem Ziehen ihrer Losnummer entscheidet sie sich kurzerhand statt des von ihrem Mann präferierten Scotches, einem Radio oder einer Packung Butterkekse für ein Ölgemälde. Ein Fall für „Bares für Rares“ ist das Gemälde allerdings kaum, vielmehr handelt es sich um eine unbedeutende Kopie eines der wohl berühmtesten Gemälde der Kunstgeschichte, nämlich den Sonnenblumen von Vincent van Gogh, die dieser in einigen Variationen in der Provence anfertigte.

Sinnstiftende Sonnenblumen

Für die von Schwangerschaftsübelkeit gepeinigte Dora wird das Bild zu einem Rettungsanker in ihrer wenig freudvollen Ehe. Und auch für ihren Sohn Ellis wird das Bild zu einem Ankerpunkt, den er mit dem kargen und wenig liebevollen Zuhause auch über den Tod seiner Mutter hinaus verbindet.

Sarah Winman - Lichte Tage (Cover)

Er arbeitet als sogenannter Tin Man in der Lackiererei der örtlichen Autofabrik im Schichtbetrieb. Virtuos erkennt er Dellen und schadhafte Stellen in Autokarosserien, die er mit viel Feingefühl und Geschick ausklopft und repariert. 45 Jahre ist er alt, als der Hauptteil des Buchs im Jahr 1996 einsetzt. Ihn umweht ein Gefühl der Melancholie und Einsamkeit, deren Gründe Sarah Winman im Folgenden behutsam erklärt.

Denn Ellis hat nicht nur bereits seine Mutter verloren, auch seine Frau Annie ist bereits vor fünf Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Mit an Bord des Unfallwagens befand sich auch Michael, ein ganz besonderer Freund für Ellis. Ihre Liebe und die besondere Beziehung zwischen Ellis, Annie und Michael erzählt Lichte Tage, wofür Winman für die Perspektive von Michael die Form eines Tagebuchs wählt, das im November 1989 einsetzt.

Eine besondere Beziehung

So gelingt ihr die Gegenperspektive auf eine besondere Beziehung, die von queerer Liebe, Sehnsucht, nicht erfüllten Begehren und dem Verpassen der richtigen Momente geprägt ist. Man sollte an dieser Stelle nicht viel von der Handlung und ihren sich langsam öffnenden Beziehungsebenen preisgeben, um den Leküregenuss dieses großartigen und emotional eindringlich geschilderten Roman zu schmälern. Aber dennoch lässt sich über das ungewöhnliche Dreiergespann und ihre Geschichte sagen, dass in dieser bittersüßen Erzählung über das Miteinander viel um Nicht-Ausgesprochenes kreist.

Obwohl sich Michael und Ellis schon so lange kennen und dieser als Best Man, also Trauzeuge für die Ehe von Ellis und Annie fungiert, verschwindet er doch wieder spurlos für viele Jahre aus dem Leben der zwei Partner. Was er in dieser Zeit gemacht hat, welche Erfahrungen ihn prägen und was ihn damit mit dem Schöpfer der berühmten Sonnenblumen, Vincent van Gogh, verbindet, das fügt sich mit dem Schicksal von Ellies und Annie zu einem runden Buch, das vom Anfang bis zum Zirkelschluss des Buchs in sich stimmig ist und bleibt.

Nicht zuletzt schafft es Sarah Winman, unkitschig von Liebe, queerem Begehren und Männlichkeitsbildern der verschiedenen Generationen zu erzählen, etwa in den Passagen, die im Oxforder Arbeiterviertel spielen und die das monotone täglichen Tun am Fließband der Autofabrik einfangen (womit Sarah Winman auch an Douglas Stuarts Beschreibung der hypermaskulinen und homophoben Arbeiterwelt Glasgows erinnert). Wie sie Worte findet, mal sonnendurchflutete, mal oxofordgraue Stimmungsbilder malt und drei so unterschiedliche Leben in gar nicht einmal vielen Seiten einfängt, das ist beeindruckend.

Damit ordnet sich Lichte Tage in meinen Augen irgendwo zwischen Polly Samsons Der Sommer der Träumer, John Boynes Cyril Avery und Rebecca Makkais Die Optimisten ein.

Fazit

Auch wenn ich mich persönlich mit Floskeln wie „eindringlich“ und „emotional berührend“ schwertue, da sie gerade durch ihre salzstreuerhafte Verwendung in der Buchwerbung zu Schlagworten geworden sind, die abgenutzt und ungriffig erscheinen, so möchte ich sie im vorliegenden Fall doch ganz bewusst verwenden. Denn das was Sarah Winman mit Lichte Tage schafft, ist dass sie ganz unkitschig von verpassten Chancen, ungelebten Leben und unausgesprochener Liebe erzählt, für die so kein wirklicher Platz vorgesehen ist.

Ein Buch, das zu Herzen geht, das aufgrund seiner Kompositionsstruktur auch bei einer wiederholten Lektüre neue Blicke eröffnet und das in meinen Augen als wirklich gelungen zu bezeichnen ist. Eine große Empfehlung!


  • Sarah Winman – Lichte Tage
  • Aus dem Englischen von Elina Baumbach
  • ISBN 978-3-608-12034-9
  • 232 Seiten. Preis: 22,00 €
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Gabrielle Zevin – Morgen, morgen und wieder morgen

Vor vier Jahren sorgte die Nachricht der damals frischberufenen Leiterin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar für Aufsehen, als diese verkündete, man wolle künftig auch Computerspiele sammeln und bewahren. Eine überfällige Entscheidung, wie es die SZ nannte, sind Computerspiele doch längst Kulturgut, die in unserer Gegenwart eine größere Breitenwirkung entfalten als so manches Buch. Dass nicht nur die Computerspiele selbst Geschichten zu erzählen haben, sondern auch die dahinterstehenden Entwickler*innen, das zeigt Gabrielle Zevin in ihrem neuen Roman Morgen, morgen und wieder morgen. Dieser erzählt von der Entstehung eines Spieleentwicklerstudios und den kreativen Köpfen dahinter, deren Verhältnis sich sehr komplex gestaltet.


Alles beginnt mit einem ikonischen Videospiel, nämlich Super Mario Brothers. Dieses Spiel zockt der junge Sam Masur in einem Krankenhaus in Los Angeles, als er dort auf Sadie Green trifft, deren Schwester dort ebenfalls im Krankenhaus zur Behandlung ist. Beide Kinder freunden sich über das Videospiel an, da sich Sam als Virtuose an den Controllern erweist. Ihm gelingt es, seine Super Mario-Figur auf der Spitze der Fahnenstange landen zu lassen. Ein Trick, den Sadie bislang noch nirgends beobachtet hat – und der zum Ausgangspunkt der Beziehung der beiden wird.

Sam befindet sich aufgrund eines schweren Autounfalls im Krankenhaus. In den Hügeln Hollywoods kam es zu diesem Unglück, bei dem seine Mutter starb und Sam eine schwere Verletzung am Fuß davontrug. Verletzungen, die ihn zeit seines Lebens zeichnen und belasten werden.

Pflegerinnen und Ärzte fanden bislang kaum Zugang zu ihm – doch im gemeinsamen Spiel mit Sadie kann sich Sam öffnen. Und auch Sadie profitiert, bekommt sie doch für die gemeinsame Zeit mit Sam für ihr soziales Engagement im Rahmen ihrer Bat Mizwat Punkte gutgeschrieben.

Komplexe Dynamiken

Gabrielle Zevin - Morgen, morgen und wieder morgen (Cover)

Doch schon in dieser Frühphase der beiden Kinder an der Schwelle zum Erwachsenenwerden zeigen sich komplexe Dynamiken. Denn nachdem Sam herausfindet, dass das gemeinsame Videospielen Sadie auch zur Auffüllung ihres Punktekontos für die Bat Mizwat diente, erleidet das Verhältnis der beiden einen Riss und wird erst später wieder vom anfänglichen Vertrauen geprägt sein.

Auch das Verhältnis Sadies mit einem verheirateten Dozenten im Rahmen ihres Studiums der Spieleentwicklung in Harvard ist nicht dazu angetan, das Zusammenwirken der beiden jungen Menschen zu vereinfachen, im Gegenteil. Von ihrem Geliebten kommt die junge Studentin auch im Folgenden nicht wirklich los. Spätestens, als die beiden im Rahmen der Entwicklung ihres ersten gemeinsamen Computerspiels Ichigo diesen als Entwickler und Zulieferer für ihre Grafikengine einbinden, entsteht hier eine komplexe Gemengelage, in der im Folgenden auch noch Marx mitmischen wird, der vom verständnisvollen Mitbewohner Sams zum Unterstützer und Manager des Entwicklerduos werden wird.

Während Sam und Sadie Spiele entwickeln, sich stets um die künstlerische Ausrichtung streiten ist es im Folgenden Marx, der die beiden zusammenhält und als Produzent Unfair Games, so der Name der Spieleschmiede, für das Funktionieren des komplexen Trios sorgt, bis ein Zwischenfall das bisher gekannte Miteinander völlig auf den Kopf stellt.

Ein Roman aus der Welt der Entwicklerstudios

Gabrielle Zevin, die bislang in Deutschland eher mit Jugendbüchern und (zumindest in der deutschen Aufmachung) recht kitschig aufgemachten Romanen in Erscheinung trat, gelingt hier ein spannendes Buch, das sowohl in der beschriebenen Thematik als auch in seinem Personal durchaus überzeugen kann.

So gibt es Romane über Videospiele inzwischen häufig – aber ein Roman, der die Welt der Entwicklerstudios spielt und die Arbeit des Spieleerfindens und die Realisation der digitalen Welten beschreibt, das ist doch (zumindest für mich) neu.

Zevin zeigt, wie sich seit den Anfangstagen die Spiele fortentwickeln, die Grafiken, Spielmechaniken und Ansprüche der Spiele ausgefeilter werden, Gewissensentscheidungen und komplexe Abwägungen in die Titel hineinfinden – was sich auch im Verhältnis von Sadie, Sam und Marx spiegelt, das im Lauf des Buchs in dem Maße an Wucht und Dramatik gewinnt, wie auch ihre entwickelten Spiele ambitionierter und populärer werden.

Dabei gelingt es der Autorin auch, mit Erzähleinfällen zu überraschen und neue Blickwinkel zu eröffnen.

Ist es zu Beginn der Dozent und Liebhaber von Sadie, der erbarmungslos alle von den Student*innen vorgestellten Titel verreißt und aburteilt, wenn sie ihn nicht überraschen und Neues bieten, so sieht sich das Buch selbst zunächst diesem Vorwurf der linearen Vorhersehbarkeit ausgesetzt.

Aber spätestens ab der Hälfte des Buch gelingt es Gabrielle Zevin dieses Forderungen auch für ihr Buch selbst umzusetzten und die Leser*innen emotional einzubinden (obgleich so manche der vielfach geschilderten Anziehung und Abstoßung, Depressionen und körperliche Pein des Schmerzenmanns Sam und der Schmerzenfrau Sadie dann doch auch etwas an exzessive Prosa Hanya Yanagiharas erinnern).

Bis zur Mitte schnurrt dieser geschmeidig erzählte Roman durchaus vor sich hin, bietet aber wenig Überraschendes oder Neues – was sich dann spätestens ab dem oben erwähnten Zwischenfall ändert. Ab hier kann Gabrielle Zevin mit eigenen Erzähleinfällen überzeugen, wagt ungeahnte Perspektivwechseln und probiert sich am Ende sogar an der Erzählform eines Computerspiels aus, das sie organisch in die Rahmenhandlung einbettet.

Ein bisschen von diesem inszenatorischen Mut der zweiten Hälfte hätte man auch dem ersten Teil von Morgen, morgen und wieder morgen gewünscht.

Aber auch so ist dieser Roman über die erzählten Inhalte hinaus eine gelungene Reflektion über die eigene Vergänglichkeit und die Möglichkeiten, die ein Computerspiel bieten kann und das, was Spiele mit uns machen.

„Was ist ein Spiel“ fragte Marx. „Es ist morgen, morgen, und wieder morgen. Die Möglichkeit einer unendlichen Wiedergeburt und unendlichen Erlösung. Die Vorstellung, dass du, solange du weiterspielst, gewinnen kannst. Kein Verlust ist von Dauer, denn nichts ist von Dauer, niemals.“

Gabrielle Zevin – Morgen, morgen und wieder morgen, S. 471

Denn dass die Endlichkeit schneller auf uns wartet, als es ein Computerspiel mit seiner Illusion der Unsterblichkeit vorgaukelt, dass weiß nicht nur Banquos Geist in Shakespeares Hamlet (dem auch der Buchtitel entlehnt ist). Das weiß auch die Dichterin Emily Dickinson, die zur Inspirationsquelle für Sadie wird und das weiß und zeigt auch Gabrielle Zevin in ihrem Roman mit der Wucht jener großen Welle des japanischen Künstlers Katsushika Hokusai, die nicht nur das Cover des Buchs ziert, sondern auch Sadie und Sam Anregungen für die Entwicklung ihrer ersten Spiele gibt.

Fazit

Mit Morgen, morgen und wieder morgen gelingt Gabrielle Zevin ein souverän erzählter Roman, der von den Illusionen der Unsterblichkeit, von komplexen Beziehungen und von den Mühen der Spieleentwicklung erzählt. Sie stellt ein komplexes Figurendreieck in den Mittelpunkt ihres Romans und weiß vor allem in der zweiten Hälfte des Romans mit originellen und überraschenden Erzähleinfällen zu punkten, was aus Morgen, morgen und wieder morgen somit eine empfehlenswerte Lektüre macht!


  • Gabrielle Zevin – Morgen, morgen und wieder morgen
  • Aus dem Englischen von Sonia Bonné
  • ISBN 978-3-8479-0129-7 (Eichborn)
  • 560 Seiten. Preis: 25,00 €
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