Percival Everett – Die Bäume

Was, wenn es plötzlich Rache gäbe für die vielen Lynchmorde, die speziell in den Südstaaten der USA tausendfach stattfanden? Percival Everett spielt es in seinem Roman Die Bäume durch – erreicht damit aber leider nicht die Klasse, die mich in Erschütterung so für ihn einnahm.


Money, Mississippi, sieht genauso aus, wie es sich anhört. Hervorgegangen aus jener hartnäckigen Südstaatentradition von Ironie im Verein mit der dazugehörigen Tradition von Unwissenheit, bekommt der Name etwas Trauriges, wird zum Kennzeichen befangener Ignoranz, die man sich ebenso gut zu eigen machen kann, denn, mal ganz ehrlich, sie wird nicht weggehen.

Percival Everett – Die Bäume, S. 11

Tief in den Süden der USA führt der neue Roman von Percival Everett, der mit einem brutalen Mord beginnt. So wird der lokale Sheriff zum Haus von Junior Junior Milam gerufen, wo er dessen aufgelöste Witwe vorfindet. Beim Betreten des Tatorts findet er zwei Leichen vor. Der mit Stracheldraht erdrosselte, geschlagen und misshandelte Leichnam Junior Juniors inklusive einem ausgestochenen Auge und abgeschnittenen Hoden – und daneben die Leiche eines Schwarzen im Anzug, der ebenfalls viele Spuren grober Gewaltanwendung trägt.

Percival Everett - Die Bäume (Cover)

Doch als die Leichen der beiden Toten ins lokale Leichenhaus verbracht werden sollen, kommt es zu einer ersten Unregelmäßigkeit. Denn obschon in beiden Leichen nicht weniger Leben sein könnte, als es ganz offensichtlich der Fall ist, verschwindet die Leiche des jungen Schwarzen nach ein paar Stunden spurlos aus dem eigentlich zur Aufbewahrung vorgesehenen Kühlfach. Ein Rätsel, weisen doch keine Spuren auf einen Einbruch oder ein mutwilliges Entfernen des anonymen Mannes aus dem Leichenhaus hin.

Zusehends kompliziert wird die Lage, als es wenig später dort in Money zu einem zweiten Mord kommt, wieder mit dem gleichen Modus Operandi. Auch der zweite Tote wurde brutal misshandelt, auch er trägt Spuren einer Stacheldrahtschlinge am Hals, auch ihm fehlen die Hoden, die ihm ausgerissen wurden.

Doch neben der Synchronizität der Ereignisse verblüfft vor allem die Tatsache, dass auch neben ihm wieder ein junger Schwarzer im Anzug liegt. Ebenjener Schwarze, der wenige Stunden zuvor noch tot in die Leichenhalle eingeliefert wurde. Spätestens als dieser wieder aus einem diesmal abgeschlossenen Transportwagen bei voller Fahrt verschwindet, schwant nicht nur dem lokalen Sheriff, dass das etwas gewaltig schiefläuft. Was geht dort in Money vor sich?

Die Bäume im Süden tragen seltsame Früchte

Schnell wird klar, dass diese Vorkommnisse die Kompetenz der Hinterwäldlermannschaft rund um Sheriff Jetty haushoch übersteigt. Und so machen sich die beiden Ermittler Ed und Jim in den Süden auf, um im Auftrag des MBI die Morde rund um den scheinbar wieder auferstandenen toten Mörder zu lösen.

Sie stoßen auf ein Nest völlig skurriler bis gefährlicher Figuren, wie es sich die Coen-Brüder nicht besser hätten ausgedacht haben können. Schnell stellen die schwarzen Ermittler Ed und Jim fest, dass der Rassismus dort im Landstrich nicht nur ein Phänomen vergangener Tage ist. Denn die Bäume dort tragen auch heute noch Früchte, die nicht unbedingt pflanzlicher Natur sind, wie es an einer Stelle im Roman heißt, in der eine Frau einen hypnotischen Song über die Sklaverei vorträgt.

Southern trees bear strange fruit
Blood on the leaves and blood on the root
Black bodies swinging in the Southern breeze
Strange fruit hanging from the poplar trees

Percival Everett – Die Bäume, S. 266

Dass müssen auch die beiden Ermittler erkennen, spätestens als sie dort in Mississippi die Bekanntschaft mit Mama Z machen, einer hochbetagten Dame, die sich der Dokumentation von Lynchverbrechen gewidmet und alle Spuren von Lynchjustiz in einem privaten Archiv zusammengetragen hat und die das Andenken an die Taten bis heute bewahrt. Möglicherweise liegen auch hier die Gründe, warum es auch in der Folge des Buchs immer wieder zu brutalen Morden mit der gleichen Tatortanordnung kommt, wie sie sich im Lauf des Buchs immer häufiger und schneller ereignen.

„Würde einer von Ihnen mir sagen, was Sie gesehen haben?“, fragte sie.

„Fakt ist, dass wir gar nicht so viel gesehen haben. Aber wenn man den Leuten hier glaubt, dann läuft in dieser Gegend ein übel zugerichteter und wahrscheinlich toter Schwarzer frei herum, der weiße Jungs mit zweifelhafter Vorgeschichte umbringt.“

„Oh.“

„Sehen Sie, was passiert, wenn man Fragen stellt?“, sagte Jim

Percival Everett – Die Bäume, S. 122

Eine Mischung, die nicht aufgeht

Dabei lässt mich die Geschichte von Percival Everett zugegebenermaßen etwas ratlos zurück. Denn was zunächst wie ein handelsüblicher Krimi im rassistischen Hinterland Mississippis beginnt, wandelt sich bald zu einer etwas unentschlossenen Melange aus Ermittlerkrimi, skurriler Figurenparade, Rachefantasie und Rassismus-Beschau voller rasssistischer Sprache, auch auf Seiten der Ermittlungsbehörden.

Ku-Klux-Klan-Zusammenkünfte, brennende Kreuze, Weiße, die den Namen Wesley Snipes tragen, Erinnerungen an den Lynchmord an Emmett Till, mittendrin das aktivistische Gedenken an die tausenden Opfer der Lynchmorde (die mit einer seitenweisen Aufzählung prominent auf die Bühne geholt werden, dann wieder das schwarze MBI-Duo Ed und Jim mit ihrer Anlage zur Buddy-Cop-Comedy, die sich ausweitenden Morde an Weißen nach immergleichen Muster, die bald schon in andere Landesteile überschwappt und andere Ermittler*innen und Forschende inkludiert – und dann auch noch eine etwas müde Donald-Trump-Parodie, der nach der Ermordung eines seiner Minister seinen Rassismus prominent auf großer Bühne ausleben darf.

Wo wollte Percival Everett mit Die Bäume hin? Ich kann es nach der Lektüre nicht wirklich sagen und stehe untentschieden und etwas ratlos vor dem (durch die hohe Kapiteltaktung sehr schnell und gut lesbaren) Roman.

Zwischen Splatter und Rassismusrevanche

Gerade das, was mich an Erschütterung so für seine Prosa eingenommen hat, nämlich das nuancierte Bild eines Professors im freien Fall, das mir sehr naheging, all das vermisse ich an dieser für meine Begriffe recht plumpen Splatterfantasie und Rassismusrevanche im großen Stil. Wo sein Held Zach Wells im vorhergehenden Buch im Gespräch mit Studenten differenziert seine eigenen Erfahrungen mit Rassismus ergründete und sich selbst hinterfragt, da bleibt für solche Feinheiten in Die Bäume kein Platz.

Hier haut Everett mit großer Wucht auf die Zwölf, mordet, meuchelt und hetzt sein dauerfluchendes Personal durch den völlig unkonturierten, dafür umso brutaleren Plot inklusive Horroranleihen. Warum kommt es zu den Morden, was hat sie ausgelöst, was will die Mordserie mit ihrer Brutalität außer Revanche für das vor Generationen erlittene Leid sagen? Was hat es mit einem verschwundenen Transporter mit Leichen auf sich, der zwar eine Rolle spielt, dann aber auch wieder schnell ad acta gelegt wird? Wer steckt wirklich hinter den Morden?

Percival Everett deutet hier verschiedene Möglichkeiten an, entzieht sich dann aber einer wirklichen Deutung oder Ausgestaltung der möglichen Ideen, da das Buch auch nach der inkrementalen Gewalt plötzlich abreißt und mich nach dem schnellen und sehr wilden Ritt einfach stehen lässt.

Fazit

Ich konnte für mich keine wirklich stringente und schlüssige Ausdeutung des Ganzen ausmachen und bleibe – wie schon erwähnt – ratlos ob dieser Tarantino/Faulkner/Stephen King-Mischung irgendwo zwischen Horror, Rassismuskritik, Satire und brutaler Schlachtplatte zurück, der ein bisschen mehr von der gestalterischen Genauigkeit gutgetan hätte, die Percival Everett in Erschütterung bewies.

Auch angesichts der Nominierung für den Booker-Prize für mich eine sehnlich erwartete Lektüre, die dann doch eher Ernüchterung denn Begeisterung zurückließ.


  • Percival Everett – Die Bäume
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-446-27625-3 (Hanser)
  • 368 Seiten. Preis: 26,00 €
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Jean-Christophe Grangé – Die marmornen Träume

In letzter Zeit hat es sich Jean-Christophe Grangé etwas leicht gemacht. Was in den vergangenen beiden Jahren unter dem Titel Die letzte Jagd (2021) und Tag der Asche (2022) erschien, waren nur auf den ersten Blick neue Romane des französischen Thriller-Großmeisters. In Wahrheit handelte es sich „nur“ um in Romanform umgearbeitete Drehbücher, die bereits als Filme im Rahmen der Reihe Die purpurnen Flüsse zu sehen waren, zu denen Grangé die Drehbücher verfasste.

Nun liegt mit Die marmornen Träume wieder ein originärer Thriller vor, mit dem Grangé zum ersten Mal historisches Terrain betritt, und zwar nicht irgendeines. Vielmehr wählt er sich wie seine Kollegen Philipp Kerr oder Volker Kutscher das Dritte Reich als Kulisse seines Thrillers. Ein gewagter Entschluss, wie ihn in dieser schriftstellerischen Konsequenz hier vielleicht auch nur ein Nicht-Deutscher schreiben kann, handelt es sich doch um vermintes Gebiet, das viele Fallstricke bereithalten kann.

Die Morde an den Adlondamen

Tatsächlich macht es sich Grangé auch nicht leicht, indem er einen Widerstandskämpfer oder Opponenten des Systems zur handelnden Figur macht. Sein Protagonist Simon Kraus ist ein wirklicher Opportunist, der sich im Dritten Reich an den sogenannten „Adlondamen“ schadlos hält.

Diese Adlondamen treffen sich Nachmittag für Nachmittag im legendären Luxushotel und geben sich auch in Simons Praxis in der Nähe des Potsdamer Platzes die Klinke in die Hand. Er analysiert, erpresst und verführt die Damen reihenweise, die allesamt beste Verbindungen zur Elite der Nationalsozialisten haben.

Kraus genießt dieses riskante Spiel, ist die Psychoanalyse den Nationalsozialisten alleine schon aufgrund ihres jüdischen Begründers Sigmund Freud ein Dorn im Auge. Aber durch seine Beziehungen zu den Adlondamen und seinem umfangreichen Kompromats, das er in seiner Praxis gesammelt hat, fühlt sich Kraus sicher und spielt – auch verleitet durch sein im Gegensatz zu seinem Körperwuchs wahrlich nicht kleines Ego – ein riskantes Spiel.

Jene Verbindung zu den Adlondamen ist es, die ihn in den Fokus des SS-Hauptsturmbannführeres Franz Beewen geraten lässt. Dieser wird von seinen Vorgesetzten mit der Aufklärung eines brutalen Mordes an einer ebenjener Adlondamen betraut, mit der Simon Kraus eine Affäre pflegte. Die Frau selbst hat man brutal ausgeweidet und ohne ihre Schuhe auf der Museumsinsel in Berlin gefunden. Die erfolgversprechendste Spur scheint die eines rätselhaften Marmormannes zu sein, der der Dame kurz vor ihrem Tod im Schlaf erschien.

Auf der Jagd nach dem Marmormann

Jean-Christophe Grangé - Die marmornen Träume (Cover)

Bei diesem Mord wird es nicht bleiben. Im Bereich des Tiergartens und im Bereich des Bärenzwingers im Köllnischen Park in Berlin findet die Polizei weitere Leichen. Auch sie waren Teil der Adlondamen und pflegten mit Simon eine Affäre. Und auch sie berichteten beide von jenem Mamormann, der ihnen in den Träumen erschien.

Nachdem es so etwas wie Serienmörder in einem durchgeregelten Reich wie dem der Nationalsozialisten nicht geben darf, insbesondere, wenn sich dieser an der Haute volée des Dritten Reichs vergeht, muss der an Ptosis leidende Beewen nun also liefern und den Mörder zur Strecke bringen. Dafür tut er sich mit Simon zusammen, der überzeugt ist, den Mörder durch das Unterbewusstsein seiner Patientinnen zu finden.

Verstärkung finden sie durch die Dritte im Bunde, die adlige Analytikerin Minna von Hassel, die vor den Toren Berlins die Nervenheilanstalt Brangbo leitet, wo zahlreiche Opfer des Ersten Weltkriegs behandelt werden. Sie findet in den Unterlagen zu ihrer Forschung eines erste erfolgsversprechende Spur, die sie zur Identität des Marmormannes führen könnte.

Ein typischer Grangé

Die marmornen Träume ist ein typischer Roman von Jean-Christophe Grangé, der alle Elemente aufweist, die die Thriller des Franzosen so besonders machen. Da ist zunächst die überbordende Fantasie, die sich nicht nur in der Länge des Buchs von fast siebenhundert Seiten niederschlägt. Höchst detailliert lässt er das Berlin des Jahres 1939 wieder auferstehen. Von den letzten queeren Clubs am Nollendorfplatz über die Filmstudios Potsdam-Babelsberg bis hin zu den Kellern der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße 8 oder dem Kriegsinvalidenaufmarsch vor dem Rathaus Reinickendorf spannt Grangé seinen Bogen, der das architektonische Berlin seiner Zeit genauso wie die damaligen (Sub-)Kulturen noch einmal auferstehen lässt.

Nun bin ich weder Fachmann für die Historie des Dritten Reichs, noch für die Berliner Stadtgeschichte – die große Detailtiefe und Beschreibungskraft von Jean-Christophe Grangés Noir-Fantasie von Film über Kunst bis hin zu Abläufen innerhalb des SS-Apparats fällt hier aber wirklich ins Auge (wozu ich persönlich gerne auch weitere Informationen über Recherche oder Quellen für seine Arbeit erhalten hätte. Hier aber schweigt sich der Autor aus und gönnt dem Roman noch nicht einmal eine Danksagung.)

Kreativität und Brutalität

Typisch ist dieser Grangé neben aller Detailtiefe und Fantasie aber auch wieder in Sachen Brutalität. Der Mörder, der die Bäuche seiner Opfer ausweidet. Die Pogrome, die Gewalt gegen Sinti und Roma, Menschen mit geistiger Behinderung und die Brutalität der Ermittlungen schildert Grangé detailliert und manchmal geradezu voyeuristisch. Immer wieder blitzt diese Gewalt in die Ermittlungen hinein, verstört und lässt zurückzucken. Übertrieben ist dies alles allerdings leider nicht, blickt man etwa auf die Forschungen Josef Mengeles, der hier im Buch einen ziemlich deutlichen Doppelgänger erhält, dem allerdings ein anderes Ende als dem historischen Vorbild beschieden ist.

Wer die Grangé-typische Gewalt und das Setting abkann, das hier deutlich mehr als nur Kulisse, sondern vitaler Teil dieses Buchs ist, der bekommt einen hochspannenden Roman zu lesen, bei dem nicht nur erfahrenen Krimileser*innen schwanen dürfte, dass mit der Unschädlichmachung des Täters etwa in der Mitte dieses Thrillers die Tätersuche natürlich noch lange nicht abgeschlossen ist, wenngleich man darüber streiten kann, ob es den Epilog mit seiner letzten Wendung oder manch comcihaften und überzeichneten Zug seiner Figuren dann unbedingt noch gebraucht hätte.

Fazit

So oder so gelingt es Jean-Christophe Grangé mit diesem düsteren Ausflug in die Historie, in Sachen Kreativität, Ambition und erzählerischem Sog an Glanztaten vergangener Tage wie etwa die Kongo-Dilogie (Purpurne Rache und Schwarzes Requiem) oder Das Herz der Finsternis anzuknüpfen. Sein gewaltgesättigter Thriller, in dem die Brutalität immer wieder durchblitzt, ist wirklich schmutzig und Noir pur.

In Die marmornen Träume inszeniert ein düsteres Berlin, das hier zu keinem Zeitpunkt wie ein Kulissenfilm wirkt, vielmehr gelingt es ihm, die Stadt in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit und mitsamt unzähliger Schauplätze zum Leben zu erwecken. Dabei schreckt er auch nicht vor der Wahl von SS-Hauptsturmführer oder Anstaltsleiterin als erzählerischen Figuren zurück. Eine Gratwanderung, die man Grangé als als Franzose sicherlich eher nachsieht als deutschen Autor*innen.

Für mich funktioniert die Mischung, die mich in ihrer ganzen Opulenz, Spannung, Komplexität, Brutalität und Zeitkolorit sehr eingenommen hat. Zudem bin ich wirklich interessiert, ob und mit welchen Ansätzen dieser Thriller hier am Schauplatz und Täterland diskutiert werden wird. Man darf gespannt sein.


  • Jean-Christophe Grangé – Die marmornen Träume
  • Aus dem Französischen von Ina Böhme
  • ISBN 978-3-608-50171-1 (Tropen)
  • 688 Seiten. Preis: 26,00 €
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Akiz – Die Königin der Frösche

Märchen, ein Fall für Kinder? Mitnichten, wie der Schriftsteller Achim Bornhak alias AKIZ in seinem Roman zeigt. Nach der Welt der Küche und Spitzengastronomie wendet er sich nun in Die Königin der Frösche dem Märchen des Froschkönigs zu und interpretiert es deutlich düsterer, als man es aus seiner Kindheit noch in Erinnerung haben dürfte.


Der Froschkönig, war das nicht dieses Märchen mit dem Mädchen, dem beim Spielen die goldene Kugel in den Teich fiel und dann einen Frosch als Entlohnung der Kugelrettung küsste, der sich anschließend in einen Prinz verwandelte? In AKIZ‘ Version ist das Ganze deutlich dunkler und weitab von Disney- oder Märchenstundenromantik. Bei ihm befinden wir uns im Erlensteiner Tal, wohin Friedrich von Waidhofenstein mit Gefolge reist.

Im düsteren Erlensteiner Tal

AKIZ - Die Königin der Frösche (Cover)

Wir schreiben das Jahr 1799, die letzten Tage des Jahrhunderts sind angebrochen, das 19. Jahrhundert, es steht bereits an der Schwelle. Doch dort im Erlensteiner Tal wirkt noch vieles wie aus dem Mittelalter, spätestens wenn die Kutsche des Fürsten einfährt, um in der Burg des Herzogs auf Brautschau zu gehen. Dort will er die junge Ragna freien, die Tochter des dortigen Herzogs. Sie ist es, die er als potentielle Braut für den Geschlecht derer von von Waidhofenstein ausersehen hat.

Der Vater des Fürsten liegt im Sterben und erwartet einen Erben, den ihm nun endlich sein Sohn schenken soll. Die anderen beiden Schwestern von Ragna scheiden als Bräute aus (zu dick beziehungsweise zu alt, so die Ansicht der Beteiligten). Und so liegt es an der grazilen Ragna, sich mit dem Fürsten zu vermählen. Doch bis dies soweit ist, geschieht Entscheidendes, das AKIZ gleich an den Beginn seines Romans setzt.

Denn nach einer Art Ohnmachtsanfall erlebt die junge Ragna eine wundersame Szene. Sie sieht sich in einer Szene an einem Waldteich, wo sie sich einem Tempel voller Kröten nähert. Eine Kröte dort am Teich springt nicht davon, vielmehr nähern sich die beiden an. Ragna küsst diese, ehe sie aus ihrer Umnachtung wieder erwacht.

Der Mann aus dem Forst

Was ein Traum hätte bleiben können, bekommt plötzlich doch eine beunruhigende Entsprechung im echten Leben, als dort am Herzogshof ein wilder Mann aus dem Forst aufgetrieben wird, der wie ein Bruder von Kaspar Hauser wirkt. Sprechen kann er nicht, der Körper und der Hals sind verformt, die Umgangsformen quasi nonexistent. Das macht ihn zum interessanten Versuchsobjekt für den verwöhnten und gelangweilten Friedrich von Waidhofenstein, der den jungen Mann bis zum anstehenden Andreastag dressieren und bilden will. An diesem Tag der Jagd will er einen „normalen“ Menschen präsentieren, der an der traditionellen Jagd des Fürstengefolges teilnehmen soll.

Während der verwirrte junge Mann vom Fürstensohn malträtiert wird, fühlt sich Ragna auf seltsame Art und Weise zu dem Unbekannten aus dem Wald hingezogen, spätestens als sie sich am Brunnen der Burg begegnen.

Doch als ich am Brunnen saß, alleine, nur wenige Ellen von dem Jungen entfernt, und er mich anstarrte, als hätte er Witterung aufgenommen, da war mir mit einem Male ein wenig ungeheuerlich zumute, doch gleichwohl aufregend und geradezu so, als würden Ameisen durch meinen Geist krabbeln.

Akiz – Die Königin der Frösche, S. 96

Animalische Verwandlungen

Doch nicht nur in Sachen des jungen Mannes unbekannter Herkunft bemerkt Ragna eine Veränderung ihrer Gedanken und Überlegungen. Auch an sich selbst entdeckt sie neue Facetten. So wecken wie einst in Bram Stokers Dracula beim Charakter Renfield nun auch bei ihr Insekten einen ganz besonderen Appetit, zum Erschrecken ihres Umfelds.

Doch gleichwohl scheint es dem Fürsten gänzlich entgangen zu sein, dass die herzogliche Infantin ihrerseits immer ungezähmter wirkt. Neulich, da habe ich sie gesehen, wie sie ein Insektengetier mit ihren Fingern gefangen und es sich in den Mund gesteckt hat, als wäre der Teufel in sie gefahren, geliebtes Lottchen, stell dir das vor. Dem Fürsten habe ich aber nichts erzählt, zu sehr hätte es ihn aus der Fassung gebracht, und was ist es meine Angelegenheit, ihn darauf aufmerksam zu machen, was für ein gottloses Gör er sich mit der herzoglichen Tochter einzuhandeln droht.

Akiz – Die Königin der Frösche, S. 124

Multiperspektivisch erzählt Akiz in Briefen und Niederschriften von der Wandlung Ragnas hin zu einer zunehmend von der Naturwelt des Waldes und dem unbekannten Wilden angezogenen Frau. Während sie immer animalischer wird, versucht der Fürstensohn in einer gegenläufigen Bewegung den Wilden aus dem Wald zu zähmen und zu erziehen. Davon berichtet Ragna, der Fürst an seinen Vater – und auch andere Figuren wie etwa Jörn im obigen Beispiel erzählt von den Entwicklungen in Briefen an seine Frau.

Das ist nicht immer wirklich leicht durchdringbar, da sämtliche Figuren und Schreiber*innen in nur leichten Abweichungen das gleiche historisierende Vokabular nutzen, mit denen sie Akiz ausstattet.

Er erzählt eine Art „Neo-Märchen“, wie es auch beispielsweise Stefan aus dem Siepen mit seiner Erzählung Das Seil tat. Wir haben es mit einer Erzählung zu tun, die über ihren reinen Inhalt hinaus eine vielgestaltige Interpretation erlaubt. So ist AKIZ‘ düstere Neudeutung in meinen Augen eine Fabel, die von männlicher Gewalt und einer außergewöhnlichen Liebesgeschichte erzählt, wie sie in dieser Art auch zuletzt in Monique Roffeys Die Meerjungfrau von Black Conch zu lesen war. Während bei ihr der klassische Anders’schen Märchenstoff als Grundlage diente, ist es hier eben das Märchen der Gebrüder Grimm. Beiden Neuerscheinungen ist eine ebenso realistisch und wenig optimistisch Ausdeutung des tradierten Stoffes gemein.

Fazit

Hier birst am Ende niemandem das Herz vor schierer Freude, wie es dem Heinrich im ursprünglichen Märchen der Grimms widerfuhr. Vielmehr flieht hier der Fürstensohn in Hast und tiefem Schrecken mit seiner Kutsche wie einst auch Jonathan Harker von der Burg des Grafen Dracula. Nicht nur in diesem Abgleich mit der inzwischen glattpolierten und gefälligen Märchenvorlage nach den Gebrüdern Grimm zeigt sich, dass Die Königin der Frösche nur wenig gemein hat mit der romantisierten Märchenwelt der Grimms, sondern vielmehr auch dem Horrorpotential von Tier- und Waldeswelt nachspürt.

AKIZ als Romanautor ist eine mehrperspektivische Neuinterpretation des Stoffs gelungen, die von tierischer Urkraft im Menschen erzählt, die Domestizierungsversuchen eine Abfuhr erteilt und die in ihrer Düsterkeit sicherlich auch eine Geschmacksfrage ist.

Ob dieses Neo-Märchen eine ähnlich große Fangemeinde wie die Ursprungswerke der Gebrüder Grimm hinter sich versammeln kann, dass darf man bezweifeln. Dennoch ein höchst originelles und außergewöhnliches Werk in der aktuellen Literaturlandschaft, das düster von Verwandlungen vom Menschlichen ins Tierische und umgekehrt erzählt.


  • Akiz – Die Königin der Frösche
  • ISBN 978-3-446-27645-1 (Hanser blau)
  • 176 Seiten. Preis: 20,00 €
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Kyle Perry – Der Rausch der Tiefe

Eine Familie, in der niemand dem anderen wirklich traut und in der so gut wie alle Geheimnisse voreinander haben und sich gegenseitig belügen. Willkommen in der Familie Dempsey, die im tasmanischen Fischerort Shacktown und weit darüber hinaus das Sagen hat.

Kern des Familienimperiums ist die Abalone-Fischerei, die Davey Dempsey betreibt. Das Fischen der Delikatessen vor der Küste Tasmaniens ist allerdings nur Fassade. Die wahren Erträge generiert die Fischerei durch den Drogenhandel. Ice beziehungsweise Crystal Meth heißt der Stoff, mit dem die Davey halb Tasmanien versorgt und der zum Schicksal seiner Brüder und seines Cousins geworden ist.

Sein Bruder Mackenzie, von allen nur Mackerel, also Makrele geheißen, erlebte Psychosen und ist inzwischen körperlich recht invalide, saß im Gefängnis ein und muss sich nun regelmäßig bei den Polizeibehörden melden. Sein Cousin Ahab hat dem Crystal Meth und damit auch der Familie Dempsey abgeschworen und betreibt nun eine Kneipe in Shacktown. Und Jesse, der andere Bruder von Mackerel, ist schon vor vielen Jahren ebenso wie seine Frau Alexandra und der gemeinsame Sohn Forest verschwunden. Was damals wirklich geschah, darüber gehen die Spekulationen weit auseinander, die von Mord bis zu einem Unfall reichen.

Sieben Jahre nach Verschwinden wird Forest nun an der Küste Tasmaniens angespült. Entkräftet und dem Tode nahe zieht man ihn dort aus dem Wasser, wobei auf seinem Rücken ein Tattoo prangt, das seine Identität bestätigt. Polizei und vor allem die Dempseys sind alarmiert und erhoffen sich Antworten auf die Fragen, die sie seit Jahren umtreiben. Doch Forest treibt ein ganz eigenes Spiel mit seiner Familie und den Ermittlungsbehörden…

Zwei Cousins ermitteln

Was an Der Rausch der Tiefe besonders ins Auge fällt, das ist die Erzählweise. Denn hier ist es im Gegensatz zu Kyle Perrys Erstling Die Stille des Bösen einmal kein Ermittler oder eine Polizistin, die das Schicksal der verschwundenen Dempseys aufzulösen versucht. Stattdessen sind es zwei Familienmitglieder selbst, die hier Aufklärungsarbeit leisten wollen, nämlich die Cousins Ahab und Mackenzie. Dass sie ganz unterschiedlich in das familiäre Netz der Dempseys eingebunden sind, sorgt manchmal dafür, dass sie aneinander vorbeiarbeiten und nicht immer auf dem gleichen Kenntnisstand sind.

Kyle Perry - Der Rausch der Tiefe (Cover)

Insbesondere, da die dritte erzählerische Hauptfigur Forest mit den Dempseys noch ein ganz eigenes Spiel spielt. Aber was will man auch erwarten von dieser Familie, der nach eigener Aussage das Lügen in die Wiege gelegt ist.

Natürlich gibt es in Form einer lokalen Polizistin und der Ermittlungsleiterin De Corrado auch offizielles Personal in diesem Buch, die ermittlerische Hauptlast trägt hier die Familie allerdings selber, deren Perspektiven Perry immer wieder abwechselt und Ahab und Mackenzie über das familieneigenen Drogenimperium (das zudem durch den mysteriösen Mitbewerber namens Black Beard in Gefahr ist), Tauchhöhlen, verschwundene Familienmitglieder und falschen Identitäten brüten lässt.

Ganz ins Ziel retten kann Kyle Perry das souveräne Handling seiner Figuren dabei nicht, gerade im leicht überfrachteten Finale mit verschiedenen Schauplätzen und Enthüllungen stimmen Tempo und Figurenführung nicht hundertprozentig. Angesichts des über weite Strecke wirklich stimmigen Erzählkonzepts fällt das aber nicht gravierend ins Gewicht.

Schwächen in den Figuren, Stärken in der Naturbeschreibung

Auch sind manche Wandlungen in den Figuren nicht immer wirklich plausibel. So mutiert etwa die Schwägerin innerhalb weniger Tage von der naiven luxusverwöhnten Gattin zur knallharten Meth-Köchin á la Walter White. Und auch ein paar Klischees weniger hätten der Geschichte gut getan. Wenn beispielsweise Mackenzie wieder in das familieneigene Drogengeschäft trotz seiner vorherigen Abstinenz eintaucht, ist es neben neuer Kleidung und Haarschnitt eine schwere Goldkette, die seine Rückkehr auf die böse Seite der Macht illustriert. Das alles hätte man leicht weglassen können, ohne dass die Geschichte dadurch schwächer geworden wäre, im Gegenteil.

So muss man hier aber über ein paar wenige missglückte Bilder, Dialoge aus B-Movies und Unwuchten im Erzählen hinwegblicken, wird dafür aber wieder mit wirklich starken Naturschilderungen und Schauplätzen belohnt. Heimlicher Hauptdarsteller ist diesmal die Unterwasserwelt vor der Küste Tasmaniens mit ihren Höhlen, Kelpwäldern und gefährlichen Strömungen, insbesondere wenn der sogenannte Schwarze Wind über die Küstenlandschaft fegt und Tod und Verderben bringt.

Wenn Kyle Perry diese Unterwasserwelten beschreibt und die Tauchgänge der Protagonisten dort in Worte kleidet, dann ist das ganz starke Nature-Writing-Prosa, die sich hier mit einem in weiten Teilen überzeugenden und frisch erzählten Kriminalroman verbindet.

Suspense und Natur, es ist hier alles drin. So lautete mein Urteil über Kyle Perrys Debüt – und auch in seinem zweiten Roman löst er diese beiden Versprechen wieder ein und rundet so das Leseerlebnis zu einer überzeugenden Angelegenheit.

Fazit

Erneut arbeitet Kyle Perry in Der Rausch der Tiefe daran, Tasmanien auf der Krimilandkarte zu verankern. Und auch hier macht er wieder einen guten Job, insbesondere, wenn er die Unterwasserwelt vor der Küste Tasmaniens in den Blick nimmt und uns mitnimmt in die gefährlichen Höhlen und von ihren Geheimnissen erzählt.

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Claire Keegan – Das dritte Licht

Dass man mit kleinen Geschichten maximale Wirkung erzielen kann, das stellt Claire Keegan immer wieder unter Beweis. So gelang ihr mit Kleine Dinge wie diese eine großartige Weihnachtsfabel in Dicken’scher Tradition. Eine Erzählung, die zwar zu einer kalte Zeit in Irland spielt, die aber dennoch einen hell lodernden humanistischen Glutkern besitzt, wie ich in meiner Besprechung zum wenig später für den Booker-Prize nominierten Roman schrieb. Und auch in der ursprünglich 210 beziehungsweise in deutscher Übersetzung 2013 erschienenen Erzählung Das dritte Licht kann man dies mustergültig beobachten.

Nun lässt sich der Text in einer überarbeiteten Version und dementsprechend auch angepassten Übersetzung von Hans-Christian Oeser noch einmal entdecken.


Der Steidl-Verlag und der Übersetzer Hans-Christian Oeser haben unzweifelhaft ein Gespür für großartige irische Literatur. So gab es zuletzt von dort die bemerkenswerte Lebensgeschichte Annie Dunnes zu lesen, die Sebastian Barry in seinem Roman erzählt. Dort bekommt es die widerspenstige Annie überraschend mit zwei Kindern zu tun, die sie auf dem gemeinsamen Hof in den irischen Wicklows mit ihrer Cousine beaufsichtigen und hüten muss.

Das dritte Licht von Claire Keegan spielt von dort nur gute hundert Kilometer südlich entfernt und weist eine ähnliche Konstruktion auf, obgleich alles hier noch konzentrierter und noch kondensierter ist.

An einem Sonntagmorgen, nach der Frühmesse in Clonegal, fährt mein Vater, statt mich nach Hause zu bringen, ins tiefste Wexford, zur Küste, wo die Leute meiner Mutter herkommen. Es ist ein heißer Tag, strahlend hell, mit Mustern aus Schatten und jähem grünlichem Licht entlang der Straße. Wir fahren durch das Dorf Shillelagh, wo mein Vater bei einer Partie Forty Five unser rotes Kurzhornrind verloren hat, dann am Viehmarkt von Carnew vorbei, wo der Mann, der die Färse gewonnen hat, sie kurze Zeit später wieder verkaufte. Mein Vater wirft seinen Hut auf den Beifahrersitz, kurbelt das Fenster herunter und raucht. Ich schüttele mir die Zöpfe aus dem Haar, strecke mich auf der Rückbank aus und schaue aus dem Heckfenster.

Claire Keegan – Das dritte Licht, S. 7

So beginnt die Erzählung der namenlosen Heldin, die von ihrem Vater zur Verwandtschaft, den Kinsellas, dort in den Südosten Irlands gebracht wird. Die Mutter daheim erwartet wieder Nachwuchs und ist bestrebt, die Anzahl hungriger Münder zuhause zu reduzieren, während sie kurz vor der Niederkunft steht. Deshalb wird die Erzählerin zur kinderlosen Verwandtschaft gebracht, wo sie dort auf dem Hof von Mr. Kinsella und Mrs. Kinsella betreut und beaufsichtigt werden soll.

Ein Sommer in Wexford

Es ist eine Aufgabe, die alle Beteiligten nach anfänglichen Eingewöhnungsschwierigkeiten gerne annehmen. Mr. Kinsella lässt das Mädchen zum Briefkasten rennen und stoppt die Zeit, Mrs. Kinsella stattet das Kind neu aus und bindet es in die Tätigkeiten im Haushalt und auf dem Hof mit ein, man holt Wasser aus dem Brunnen, besucht eine Totenwache und hält es gut miteinander aus.

Claire Keegan - Das dritte Licht (Cover)

Erst eine übergriffige und allzu neugierige Nachbarin enthüllt der Ich-Erzählerin nach einiger Zeit das Geheimnis der Kinsellas. So haben die beiden ihren Jungen unter tragischen Umständen verloren. Eine Erfahrung, die das Paar bis tief ins Mark erschüttert und eine Leerstelle im Leben hinterlassen hat, die nun durch das Mädchen gefüllt wird. Es ist eine Erkenntnis, die sich dem Mädchen zunächst noch gar nicht wirklich erschließt (eine Erfahrung, die sich auch mit Annie Ernaux verbindet), die dem Text aber auch eine zweite, traurig-melancholische Ebene verleiht, die stets über dem Text schwebt.

So ist der nächtliche Ausflug zum Strand, den das Mädchen zusammen mit Mr. Kinsella unternimmt, mehr als doppeldeutig. Alleine das ungewohnte Händehalten, die Erfahrung der Unbeschwertheit im Spiel mit dem Wellen am und vor allem das metaphorische Bild der zwei Lichter, zu denen sich ein drittes Licht gesellt, sind stark aufgeladen und sind von einer wirklich eindringlichen Qualität, obschon Claire Keegan nur wenige Zeilen braucht, um über die Schilderung des Erlebens auch die Seelenlandschaften ihrer Figuren zu skizzieren.

Wir bleiben noch eine Weile stehen und blicken aufs Wasser hinaus.

„Sie mal, wo vorher nur zwei Lichter waren, sind jetzt drei.“

Ich blicke übers Meer. Dort blinken nach wie vor die beiden Lichter, doch dazwischen leuchtet jetzt auch noch ein anderes Licht.

„Kannst du’s sehen?“ fragt er.

„Ja“, sage ich. „Da drüben.“

Da legt er die Arme um mich und zieht mich zu sich, als wäre ich sein eigenes Kind.

Claire Keegan – Das dritte Licht, S. 72 f.

Fazit

Hier schreibt eine Autorin, die es schafft, mit wenigen Zeilen und Szenen ganze Lebensdramen in packende und eindringliche Bilder zu kreieren. Das dritte Licht fügt sich ein in ein schriftstellerisches Oeuvre, das von der Schönheit zwischenmenschlichen Begegnungen, dem Sieg des Herzens über die Ratio und von einfachen Menschen in schwierigen Zeiten erzählt.

Wie sich Claire Keegan ihren Themen nähert, wie sie alles Überflüssige reduziert, wie sie ihre Geschichten allesamt mit einer Botschaft der Empathie auch in schlechten Zeiten versieht, das ist beeindruckend. Auch wenn Keegans Erzählungen zeitlich jeweils grob verortet sind (hier geben die unter der irischen Landbevölkerung diskutierten Butterberge und die EWG eine ungefähre zeitliche Orientierung), so wohnt doch allen Geschichten etwas Zeitloses inne, das dieses literarische Werk auch über unsere Gegenwart hinaus lesens- und entdeckenswert machen.

Schön, dass der Steidl-Verlag dieser Autorin ein Zuhause gibt – und schön auch, dass Keegans Schaffen nach der Nominierung für den Booker Prize im vergangenen Jahr nun auch vielleicht durch die oscarnominierte Adaption ihres Buchs unter dem Titel An Cailín Ciúin bzw. The Quiet Girl noch etwas mehr Aufmerksamkeit erhält. Es wäre ihr zu gönnen!


  • Claire Keegan – Das dritte Licht
  • Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
  • ISBN 978-3-96999-199-2 (Steidl)
  • 104 Seiten. Preis: 20,00 €
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