Liebewesen zählt zu jener Sorte Geschichten, die mit ihrem Beginn etwas in die Irre führen. Denn Caroline Schmitt lässt in ihrem Debüt zwei junge Menschen der Generation Y nach einem Tindermatch aufeinander los. Die Beziehung und das Kennenlernen offenbart dann aber deutlich mehr Abgründe, als es zunächst den Anschein hatte.
Das Kennenlernen hat sich nicht erst seit der Corona-Pandemie zum großen Teil in den digitalen Raum verlagert. Bumble, Lovoo, Parship oder auch Tinder ermöglichen ohne viel Aufwand eine Vorselektion potentieller Partner*innen, was die Apps auch zum geeigneten Mittel der Kontaktanbahnung für Mariam macht. Für ihre Freundin und Mitbewohnerin Lio sichtet diese Tinder hinsichtlich spannender Männer und matcht dabei mit Max, mit dem sich Lio wenig später tatsächlich für ein unkonventionelles Date in der Badewanne trifft.
Von der Badewanne bis in die gemeinsame Wohnung
Die Dialoge fliegen nur so hin und her, man ist ironisch, neckt sich und man ist sich irgendwie auch sympathisch. Eine typische Liebesgeschichte der Jetztzeit nimmt ihren Ausgang. Ein gemeinsamer Urlaub wird folgen – und wenig später steht sogar der Umzug in ein gemeinsames Zuhause an. Alles erscheint ganz zypisch für die Generation Y.
Max hat Soziologie studiert und moderiert mit einer aufgedrehten Co-Moderation Morningshows im Radio. Lio ist Biologin und untersucht im Labor Pflanzen hinsichtlich ihrer genetischen Resistenz unter erhöhter CO²-Belastung oder im Weltraum. Zusammen lebt man in einer Wohnung mit einem aus Europaletten zusammengeschraubten Bett und hat sich gut miteinander arrangiert. Die Depression von Max erscheint ebenso gut unter Kontrolle wie die Erinnerungen an ihr eigenes Zuhause, die Lio sorgsam in sich weggesperrt hat. Man stürzt sich ins Leben und hat es nett miteinander, irgendwie ist man auch glücklich und genießt das Leben auf seine beziehungsweise ihre Art und Weise.
Es war vier Uhr morgens, jemand hatte LSD verteilt und Max als Einziger eine ganze Pappe genommen, obwohl die empfohlene Tagesration bei einer halben lag. Sein Abiturjahrgang feierte alle zwei Jahre im Frühherbst eine rauschende Ehemaligen-Party, die drei Tage andauerte, oder so lange, wie der Letzte brauchte, um sich und allen anderen zu beweisen, dass man inzwischen zwar verheiratet war und in einem Reihenhaus wohnte, der Wille zur Selbstzerstörung aber noch ganz der alte war.
Corline Schmitt – Liebewesen, S. 66
Hier lauern Abgründe
Aber schon in dieser ersten Hälfte des schnell geschriebenen und schnell zu lesenden Textes von Caroline Schmitt lauern die Abgründe. Die Familie Lios wirkt nur auf den ersten Blick durchschnittlich, Gewalt, Alkoholismus und ein Auszug von Zuhause sind nur eine Facette im Charakter Lios, auch andere traumatisierende Erlebnisse kommen in Liebewesen zur Sprache.
Führten all diese Hintergrundgeschichten schon weg von einer vielleicht zu Beginn noch oberflächlichen Tinder-Romanze zweier dauerironischer Menschen (deren Ton auch etwas an Paula Irmschlers Superbusen erinnert), so kollabiert im zweiten Teil des Romans schließlich alle noch in Resten vorhandene Romantik und Leichtigkeit endgültig. Denn Lio ist schwanger von Max und fortan werden die einzelnen Kapitel mit Beschreibungen der fortschreitenden Schwangerschaftswochen eingeleitet.
Wie soll man ein Kind bekommen, wenn man sich alles andere als bereit für Kinder fühlt und mit der Traumatisierung des eigenen Körpers und des eigenen Ichs schon genug zu kämpfen hat? Das erkundet Caroline Schmitt hier in einer schnodderigen Sprache, die manchmal die manchmal die Abgründe im Lios Selbst zu überkleistern versucht, so manches mal aber auch erst so richtig offenlegt.
Vor drei Monaten war ich sicher, dass meine fruchtbare Phase vorbei war und ich nicht schwanger werden konnte. Dann war ich sicher, dass der Abbruch erfolgreich gewesen und ich in meinem Körper wieder alleine war.
Ich lag in beiden Fällen daneben.
Caroline Schmitt – Liebewesen, S. 207
So erzählt Caroline Schmitt eine moderne Liebesgeschichte, die voller unterschiedlicher Themen steckt, die die 1992 geborene Autorin hier verhandelt. Freundschaft, das Verhältnis zum eigenen Körper, Traumatisierung, Bindungsunfähigkeit, Schwangerschaftsabbruch und die Verheimlichung der eigenen Gefühle sind Themen, um die Liebewesen kreist.
Fazit
Vom ersten Tindermatch bis zum Schwangerschaftsabbruch dekliniert Caroline Schmitt in Liebewesen eine Liebesgeschichte der Generation Y durch. Im Laufe der Beziehung bricht sich allerlei Verdrängtes Bahn, bei der auch die schnodderige Sprache und die lakonische Grundeinstellung der Heldin Lio nicht kaschieren kann, wie tief doch die Narben sind, die sie in ihrem Leben bislang davongetragen hat. All das erzählt Schmitt in einer schnellen, bisweilen trügerisch ironischen Dialogen und einer kantigen Sprache, die Liebewesen zu einer ebenso heftigen wie lohnenswerten Lektüre über Liebe, Körper und Traumatisierung macht.
- Caroline Schmitt – Liebewesen
- ISBN 978-3-8479-0130-3 (Eichborn)
- 221 Seiten. Preis: 20,00 €