Hayley Scrivenor – Dinge, die wir brennen sahen

Australien, unerschöpfliche Quelle der Kriminalliteratur. Mit Hayley Scrivenor präsentiert der Eichborn-Verlag eine weitere Autorin aus Down Under, der mit ihrem Debüt Dinge, die wir brennen sahen ein ordentlicher, aber keinesfalls hitziger Krimi gelingt.


Dirt Town. So wird das kleine australische Städtchen Durton von seinen Bewohnern, besonders der Jugend geheißen. Wenig ist hier los auf dem australischen Land. Doch dann verschwindet die Schülerin Esther Bianchi auf dem Nachhauseweg von der Schule – und die Sorge ist groß.

Für die Suche nach der Schülerin werden auch die Detective Sergeant Sarah Michaels und ihr Kollege, Detective Constable Wayne Smith hinzugezogen. Eigentlich befinden sie sich nach der Bearbeitung eines anderen Falles auf dem Rückweg nach Sidney. Doch nun kommt alles anders. Am 30. November 2021 kommen sie nach Durton, vier Tage später wird ein im Boden vergrabener Fund entdeckt werden. Die Zeit zwischen diesen Ereignissen schildert Hayley Scrivenor dabei aus verschiedenen Perspektiven.

Eine Krimi mit vielen Perspektiven

Hayley Scrivenor - Dinge, die wir brennen sahen (Cover)

Das macht diesen nach bekannten Strickmuster erzählten Krimi etwas variabel und ist wohl die größte Besonderheit des ansonsten konventionellen Stücks Kriminalliteratur. So wird die Polizeiarbeit aus der personalen Perspektive Sarahs erzählt, die neben der Ermittlung noch an der Trennung von ihrer Partnerin laboriert. Involvierte Kinder treten in Form der Schulfreundin Veronica „Ronnie“ Thompson und Lewis Campbell im Roman auf.

Während Ronnie aus der Ich-Perspektive auf ihr Verhältnis zur verschwundenen Esther blicken darf, kommt Lewis ebenso wie Sarah in der personalen Erzählform zu Wort. Daneben gibt es noch ein „Wir“, das chorisch erzählt auf die Geschehnisse im Ort blickt und sich immer wieder in die Erzählung einmischt.

Das ist klug gewählt, wäre der Krimi bei Verwendung einer einzigen Erzählperspektive doch reichlich fad, denn in Bezug auf die Motive bietet Dinge, die wir brennen sahen nicht viel Neues.

Die beiden Schüler*innen wissen mehr, als sie auf den ersten Blick zugeben. Sarah und ihr Kollege müssen sich in der Schule und den Familien umhören. Spuren gibt es wenig, dafür steht bald die Presse vor der Tür. Das sind alles Motive, die man aus anderen Krimis oder Fernsehfilmen schon dutzendfach kennt und die in ihrer Erzählweise außer des multiperspektivischen Erzählansatzes nicht wirklich überraschen. Dass hier zwei queere Beziehungen gestreift werden, ist zwar angesichts des Pridemonth und dessen Eintreten für queere Repräsentation eine nette Erzählidee und verdient Lob. Viel erwächst daraus nicht, außer dass zwei Personen durch ihr queeres Begehren in Gewissenskonflikte gestürzt werden.

Ein Debütroman mit Luft nach oben

Viele der Figuren, die Dinge, die wir brennen sahen bevölkern, bekommen nicht einmal solche inneren Konflikte zugestanden, sondern bleiben Staffage. Es gebricht Hayley Scrivenors Debüt stellenweise an der Nuancierung ihress Personals. Der Detective Constable bleibt dabei genauso blass wie etwa der Familientyrann der einfach böse ist, indem er seine Familie tyrannisiert und mit Drogen dealt. Auch andere Figuren können hier aus der Kulisse der australischen Kleinstadt nicht wirklich hervortreten und die schlussendliche Überführung des Täters wird auch eher pflichtschuldig abgehandelt. Ein bisschen Drogenschmuggel, ein bisschen Geheimnisse, ein bisschen klassische Ermittlungsarbeit, ein bisschen Spannung – aber auch nicht viel mehr.

Und obschon es so klingen könnte: Dinge, die wir brennen sahen ist beileibe kein schlechter Krimi. Aber von der australischen Gluthitze und den brennenden Dingen, die die deutsche Version des im Original schlicht Dirt Town lautenden Titels verspricht, von all dem findet sich im Krimi leider wenig. Das lässt dieses Buch zwar zu einem soliden, aber keinesfalls rundum überzeugenden Werk geraten.

Das fällt besonders auf, weil es in Down Under ja ein gutes Dutzend anderer Autor*innen gibt, die vormachen, wie so etwas aussehen kann, heißen sie Garry Disher, Candice Fox, Peter Papanathasiou oder Jane Harper In diese Riege schaffte es Hayley Scrivenor mit Dinge, die wir brennen sahen leider noch nicht. Ihr wäre es zu wünschen, dass sie in ihren kommenden Büchern den Mut beweist, sich von herkömmlichen Motiven und Plotanlagen wegzubewegen, um ihre Stimme im Konzert der anderen Krimiautor*innen etwas unverkennbarer werden zu lassen. Mit dem multiperspektivischen Erzählstil ist ein Ansatz ja schon vorhanden, diese könnte Scivenor noch gut ausbauen, um dann einen wirklich hitzigen Roman vorzulegen, in dem es dann auch mal wirklich brennen darf.


  • Hayley Scrivenor – Dinge, die wir brennen sahen
  • Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
  • ISBN 978-3-8479-0115-0 (Eichborn)
  • 368 Seiten. Preis: 22,00 €
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Arno Frank – Seemann vom Siebener

Ein Tag im Freibad, der zum Brennglas aufs Leben wird. Arno Frank inszeniert in Seemann vom Siebener das Freibad als Wimmelbild und erzählt von Träumen, Tod und dem Wagnis, sich vom Sprungbrett in die Tiefe zu stürzen. Großartige Lektüre, nicht nur für den Sommer!


„Ich will den Seemann nicht vom Einer machen.“

„Sondern?“

Wortlos mache ich mit dem Daumen eine Aufwärtsbewegung.

„Vom Dreier? Respekt!“

Ich schüttele den Kopf: „Nicht vom Brett…“

„Vom Fünfer?“ Er packt mich an der Schulter und dreht meinen Oberkörper, sodass er mir direkt ins Gesicht sehen kann: „Bist du irre?“

Ich schüttele den Kopf, versuche ein Lächeln und schiebe sanft seine Hand von meiner Schulter: „Ich mache einen Seemann vom Siebener“.

Arno Frank – Seemann vom Siebener, S. 126

Es ist geradezu ein prototypisches Schwimmbad, welches Arno Frank in seinem Roman Seemann vom Siebener skizziert und das Erinnerungen an die eigene Kindheit weckt: Eine Liegewiese, Betonplatten, eine alte Linde, die Schatten spendet. Der Schwimmbad-Kiosk, ein Feld mit überlebensgroßen Schachfiguren, eine rote Pilzdusche im Kinderschwimmbereich – und vor allem ein echter Zehn-Meter-Sprungturm.

Das Freibad als Bühne des Lebens

Arno Frank - Seemann vom Siebener

So sieht es aus, das irgendwo in der Pfalz gelegene Freibad, das bei Arno Frank zur Bühne für die größeren und kleineren Dramen des Lebens wird. Wir schreiben Freitagmorgen bei bestem Wetter, es ist der letzte Freitag in den Sommerferien. Dem Freibad steht also ein Besucheransturm bevor, doch hiervon merken die Kassiererin Renate und Bademeister Kiontke, eine Art Faktotum des Bads, früh am Morgen noch wenig. Die Wassertemperatur wird per Kreide auf die Tafel aufgebracht, das Morgenmoderationsteam im Radio treibt seine Scherze – die meisten Gäste sind aber noch zuhause, wovon Arno Frank durch die multiperspektivische Erzählweise seines Romans berichtet.

Erst allmählich finden sie sich im Bad ein. Die schon demente ehemalige Lehrerin und zugleich Gattin des Schwimmbad-Erbauers, die Ich-Erzählerin, die der Plan eines Seemannsköpfer vom 7-Meter-Brett umtreibt. Josefine, der es nach Meinung einiger Badbesucher*innen besser zu Gesicht stehen würde, sich bei den Vorbereitungen der Trauerfeier denn beim Schwimmen im Bad zu betätigen.

Da ist Lennart, der nach Jahrzehnten der Absenz wieder in sein Heimatdorf zurückkehrt und im Freibad auf viele Jugenderinnerungen trifft. Die Kindergartengruppe mit ihrer Kindergärtnerin, der Kioskbetreiber und viele mehr. Wimmelbildgleich ergeben diese von jung bis alt reichenden Figuren an diesem Freitag einen Chor, der in verschiedenen Tonlagen und Stimmungen erzählt.

Leben und Tod, Sonne und Schatten

Da sind nicht ergriffene Chancen für die Liebe, da ist das Vergessen und zugleich Erinnerungen an die zurückliegende Partnerschaft, da sind Vorbehalte gegenüber Geflüchteten, da sind Bienenstiche und da ist Aufbruch. Bittersüß ist sie, diese Hommage an das Treiben im Freibad, die uns Arno Frank präsentiert.

Zwar strahlt die Sonne und das kühle Wasser verheißt Lebenslust, genauso sind aber auch die Schatten in Form von Tod, Suizid und Endlichkeit in diesem namenlosen Freibad präsent. Das ist großartig gemacht und in seiner Vielstimmigkeit ein Buch, das über eine platte Wie-schön-war-das-damals-im-Freibad-Verklärung weit hinausgeht, obwohl es sich natürlich für eine Lektüre im Bad empfiehlt. Aber über so kurze saisonale Dutzendware hinaus besitzt Seemann vom Siebener eben große Qualitäten, auch im literarischen Sinn.

Konnte mich Arno Frank mit seinem Debüt So, und jetzt kommst du, der Aufarbeitung seiner eigenen Biographie als Sohn eines Hochstaplers literarisch nicht wirklich überzeugen, muss ich doch feststellen, dass er sein erzählerisches Instrumentarium im Vergleich zu seinem Erstling deutlich geschärft hat. Souverän spielt er mit Motiven und Weiterführungen von Erzählfäden, bietet sein chorisch erzählter Episodenroman immer wieder kleine Aha-Momente, wenn zuvor Angeklungenes weitergeführt wird, wenn Menschen und Schicksale plötzlich ein Bild ergeben und selbst vermeintlich kleine Dinge auf Großes rückschließen lassen.

Ein Brennglas aufs Leben

Seine indirekten Porträts der Menschen, die Charakterisierung des Freibads als Brennglas der Gesellschaft, die genaue Schilderung aller Figuren im ganzen möglichen Altersspektrum, die Spannung ob des riskanten Sprungversuchs, die sich immer weiter steigert – und das alles innerhalb eines einzigen Tags inszeniert. Das wusste mir ausnehmend gut zu gefallen. Mal besitzt Seemann vom Siebener einen Hauch von „Tatsächlich… Liebe“, dann erinnert Franks Erzählung wieder an andere multiperspektivische Erzählprojekte wie etwa Robert Seethalers Das Feld.

Es ist ein Roman, aus dem man endlich lernt, dass es sich beim Sprungturm fälschlicherweise von einem Siebenmeter-Brett spricht, handelt es sich eigentlich einen 7,5-Meter hohes Brett. Zudem funktioniert das Buch aufgrund des detailliert beschriebenen Freibads wie eine Zeitkapsel, die eigene Erinnerungen an sonnendurchglühte Nachmittag mit Schwimmbad-Pommes, Slush-Eis und dem Hinfiebern auf die Freigabe des Sprungturms durch den Bademeister weckt.

Fazit

Seemann vom Siebener ist ein Roman für den Sommer – aber auch für weit darüber hinaus. Literarisch ambitioniert, groß in Sachen Emotionen und Kindheitserinnerung. So muss sie aussehen, die perfekte Freibadlektüre!


  • Arno Frank – Seemann vom Siebener
  • ISBN: 978-3-608-50180-3 (Tropen)
  • 240 Seiten. Preis: 24,00 €
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J. Todd Scott – Weiße Sonne

Zurück im Big Bend County. Dort in der Einöde zwischen Texas und Mexiko bekommt es Sheriff Cherry und sein Team diesmal mit einer Gruppe Neonazis zu tun, die in Cherrys Bezirk eine Schneise der Gewalt und Verwüstung schlagen. Weiße Sonne von J. Todd Scott.


Es ist wirklich augenfällig: auf den letzten Seiten dieses Romans greift der nach den Geschehnissen in J. Todd Scotts Erstling Die weite Leere zum Sheriff beförderte Chris Cherry zum Stift, um den langgehegten Traum eines Romans endlich anzugehen. Auch John Bassoff weist in seinem Nachwort auf diesen bemerkenswerten Umstand hin, geht Scotts Sheriff doch hier den umgekehrten Weg, den der Erschaffer der Figur selbst ging. Denn bevor sich Scott dem Schreiben zuwandte, arbeitete er als DEA-Agent im amerikanisch-mexikanischen Grenzland.

Nun gibt es mit Weiße Sonne den zweiten Roman rund um Chris Cherry und das Leben im Big Bend County zu lesen, geboren im Schatten von Scotts Erstling, wie er es im Nachwort seines Krimis selbst bezeichnet. Denn wo er für sein Debüt frei vor sich hin schreiben konnte ohne Druck und Abgabefristen im Nacken, da hat nun Die weite Leere die Erwartungshaltung für einen zweiten Roman gesteigert.

Outlaws und Gesetzeshüter im Big Bend County

Tatsächlich verfolgt J. Todd Scott in seinem zweiten Roman einen ähnlich multiperspektivischen und handlungsreichen Ansatz, wie er es bereits bei seinem ersten Roman tat. So ist Sheriff Chris Cherry nur eine Person im Personengefüge der Ordnungsmacht. Neben ihm kommen auch seine Deputys, die mexikanischstämmiger América „Amé“ Reynosa und der erfahrene Ben Harper, in Erzählsträngen zu Wort. Erstere kämpft noch immer mit den Erlebnissen aus dem Vorgängerband und ihren familiären Verflechtungen mit den mexikanischen Kartellen, letzerer versucht Chris Cherry in der Angelegenheit der der ABT zu mehr Aktion denn Reaktion zu drängen. Denn bei der ABT handelt es sich um die Aryan Brotherhood of Texas, die ausgerechnet im kleinen Städtchen Killing eingefallen ist.

J. Todd Scott - Weiße Sonne

Im Falle eines ermordeten Flussführeres gelten die gefährlichen Männer als die Hauptverdächtigen. Doch richtig zu packen bekommt sie weder Chris noch seine beiden Deputys. Besonders Amé steht unter Druck, lastet die Begegnung mit einem mexikanischen Autodieb auf ihrem Gewissen. Denn sie schlug diesen im Affekt im gefesselten Zustand, während da dieser scheinbar kompromittierendes Wissen vor allem über Amés Vergangenheit besaß.

Gewalt gegen Gefangene, im Hintergrund lauernde Kartelle, eine Neonazi-Bande voller Outlaws und ein ermorderter Flussführer. J. Todd Scott führt einige Erzählstränge ein, die die Gesetzeshüter im Big Bend County mehr als herausfordern. Dazu erzählt Scott parallel auch noch aus der ABT-Vereinigung heraus, denn hier kommen sowohl die Outlaws als auch ein verdeckter Ermittler zu Wort, der noch eine ganz persönliche Agenda innerhalb der Gruppierung verfolgt.

Erneut ein multiperspektivischer Erzählansatz

Viele Personen und Erzählstränge also einmal mehr, die in einem großen und gewaltgeladenen Finale enden, dass über Murfee hereinbricht wie jene Regenschauer, die sich dort wenig später entladen.

J. Todd Scott mutet sich und den Leser*innen einiges zu, schafft es aber wieder, sein multiperspektivisches Erzählkonstrukt über die fast 500 Seiten nicht zum Einsturz zu bringen. Zwischen Outlaws, FBI-Agenten und Gesetzeshütern springt er immer wieder hin und her, bringt Rückblenden zum Geschehen in Die weite Leere und der Vergangenheit seiner Figuren an und findet darüber immer wieder Zeit für ruhige Momente und etwas Durchatmen, ehe das hochexplosive Finale dann startet.

Hierbei zeigt sich wie in der ganzen Anlage dieses Buchs, dass im Motorblock dieses Krimis ein Western alter Schule vor sich hinschnurrt. Der wüstenähnliche Schauplatz der Handlung, die verkommenen Verbrecher, die Gesetzeshüter um Chris Cherry, die sich den Bösen entgegenstellen, aber auch selbst nicht davor gefeit sind, die Grenze zum Unrecht zu überschreiten. Weiße Sonne hat all die Zutaten, die eine packende Lektüre ausmachen.

Mir imponiert die Unbarmherzigkeit, die J. Todd Scott seinem Ensemble zumutet. Hier löst sich eben nichts in Wohlgefallen auf, vielmehr ist dieser Krimi geradezu schmerzhaft konsequent und macht mit seiner ganzen Erzählweise Lust auf einen dritten Streich des schreibenden DEA-Agenten.


  • J. Todd Scott – Weiße Sonne
  • Aus dem Englischen von Harriet Fricke
  • Mit einem Nachwort von John Bassoff
  • ISBN 978-3-948392-71-0
  • 496 Seiten. Preis: 27,00 €
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Caroline Wahl – 22 Bahnen

Turnte Friedrich Liechtenstein vor einige Jahre noch durch einen Edeka-Supermarkt und erklärt alles vom Dorsch bis zum Klopapier für „supergeil“, so ist das Leben der Edeka-Kassiererin Tilda in Caroline Wahls Debüt 22 Bahnen nicht ganz so supergeil. Denn auch günstige Preise bei Eigenmarken helfen nur bedingt, wenn man sich daheim mit der Betreuung der alkoholkranken Mutter und der jungen Schwester, einem Mathematikstudium und dann auch noch einer zarten Liebesbande befassen muss.


Eine junge Frau aus prekären Verhältnissen, viele Bahnen im Schwimmbad, ein junger Mann dort, mit dem sich eine widerspenstige Romanze entspinnt – nein, ich bin nicht auf den Copy-und-Paste-Tasten der Tastatur eingeschlafen. Es ist tatsächlich eine erstaunlich hohe Kongruenz , die Caroline Wahls Debüt 22 Bahnen mit dem Roman Nordstadt von Annika Büsing auf den ersten Blick aufweist.

Doch gelingt es der 1995 in Mainz geborenen Autorin in ihrem Roman auch, eine eigene Erzählstimme zu finden, die nicht ganz so stark wie Büsings Sound heraussticht, aber dennoch mit einigen literarischen Stilmitteln versehen eine durchgängige Formsprache findet. Dazu zählt das Kassenspiel, das Tilda immer wieder mit sich spielt und das viele Abschnitten des Roman einläutet. Immer wieder betrachtet die Ich-Erzählerin die vor ihr auf dem Kassenband vorbeilaufenden Waren, um Rückschlüsse auf den oder die Käufer*in zu ziehen, ehe sie ihm ins Gesicht blickt.

Neben solchen erzählerischen Muster sind es vor allem die Dialoge, die ins Auge fallen. Sie sind nicht in den Erzähltext eingebunden, sondern stehen wie in einem Drehbuch oder Theatertext für sich und treiben einerseits den Text voran und zeigen andererseits auch das Fremdeln der Protagonistin mit anderen Menschen, denen sie teilweise abweisend begegnet.

Ein Leben mit vielen Anforderungen

Caroline Wahl - 22 Bahnen (Cover)

Warum das so ist, das zeigt Wahl, indem sie uns als Leser*innen Stück für Stück die Lebenswelt von Tilda aufschließt. Sie wohnt in einer nicht näher benannten Stadt, in der sich auch eine etwas weiter entfernte Universität befindet, an der Tilda neben dem Job an der Edeka-Kasse studiert. Das Geld reicht zumeist nur für die Gut-und-Günstig-Variante der Miracolinudeln und Feiern steht nicht wirklich häufig auf der Tagesordnung von Tilda. Doch was auch andere Student*innen mit finanzieller Mangellage als Belastung während des Studiums kennen, erhält in Tildas Fall noch eine ganz eigene Schwere, die sich durch die familiäre Komponente begründet.

Denn Tilda muss für gleich zwei Generationen da sein und sorgen. Da ist ihre Mutter, die schwer alkoholkrank ist und immer wieder in Phasen der völligen Verwahrlosung und der Indolenz abgleitet. Besonders Tildas kleine Halbschwester Ida leidet unter der Situation, ist sie doch die Hauptleidtragende, die immer wieder vor den Ausfällen ihrer Mutter in ihr Kinderzimmer flüchten muss, wo sie sich in die Welt der Bücher und der Malerei versenkt, um die Lebenswelt zu ertragen.

22 Bahnen im Schwimmbad

Ablenkung vor dieser hochgradig belastenden Situation finden Ida und Tilda im Schwimmbad, das so etwas wie ihr zweites Wohnzimmer ist. Stets 22 Bahnen sind es, die Tilda ziehen will, was mal besser und mal schlechter klappt. Besonders als Viktor auftaucht, gerät der getaktete Bahnenplan gehörig ins Trudeln. Denn Viktors kleinen Bruder Ivan und Tilda verbindet eine gemeinsame Vergangenheit, die Wahl ebenso einführt, wie sie auch in den Charakter Tildas immer tiefere Einblicke gibt.

Dabei beweist Caroline Wahl Talent in der Anlage ihres Romans, der Stück für Stück die Hintergründe zu ihren Figuren und deren Geschichte preisgibt. Wo andere Autoren wie Heinz Strunk den Alkoholismus ihrer Figuren für Pointen und Ekel ausschlachten, da nutzt Caroline Wahl die treffenden Beobachtungen und Beschreibungen, um einfach die Lebenswelt ihrer Heldin auszumalen, der so etwas wie Abscheu vor ihrer Mutter gar nicht übrigbleibt, weil sie als junge Frau einfach für das Funktionieren des Familienverbundes sorgen muss.

Fazit

22 Bahnen zeigt das Bild einer starken Frau, der gar nichts anderes übrig bleibt, als stark zu sein. Die Masterarbeit in Mathematik, das Funktionieren an der Kasse, die entspinnende Liebesgeschichte zu Viktor, gegen die sie sich zunächst mit allen Mitteln sperrt, der Kampf, für Mutter und kleine Schwester da zu sein und alles irgendwie am Laufen zu halten. Dieses Bild aus dieser prekären Lebenswelt gelingt Caroline Wahl ausnehmend gut, ohne in Voyeurismus oder Mitleid abzurutschen.

Und auch wenn 22 Bahnen auf einer großen Welle der Schwimmbücher gerade ja – mitschwimmt – (siehe die schon erwähnte Annika Büsing, Arno Frank oder Kristin Bilkau), so ist 22 Bahnen doch auch etwas Eigenes und in meinen Augen ein tolles Debüt, das auch Bildung als Weg aus der Unmündigkeit der eigenen Situation zeigt.


  • Caroline Wahl – 22 Bahnen
  • ISBN 978-3-8321-6803-2 (Dumont)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
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Winnie M Li – Komplizin

Das richtige Buch zur richtigen Zeit. Mitten hinein in die Rammstein-Debatte und ihre ganze diskursiven Entgleisungen erscheint nun Winnie M Lis Roman Komplizin, der sich um Machtmissbrauch im Filmbusiness dreht, der aber darüber hinaus auch universell gültige Strukturen aufdeckt und benennt. Lektüre, die man gerne einigen Lautsprechern in der aktuellen Debatte an die Hand geben möchte.


Die Causa Brüderle, der MeToo-Skandal nebst der hiesigen Diskussion auch hierzulande oder ganz aktuell die Debatte um Rammstein-Sänger Till Lindemann und der ihm vorgeworfene Missbrauch junger Frauen. Es sind immer die gleichen Mechanismen, die sich in den Diskussionen beobachten lassen. Schnell nach dem Bekanntwerden der Beschuldigungen folgt eine Relativierung der Vorwürfe meist durch Männer mit folgendem Grundtenor. Alles nicht so schlimm, die Frauen sollten sich nicht so haben, da würde etwas hochgejazzt, was eigentlich doch normal sei und eben den Spielregeln im jeweiligen Business folge. Die Frauen hätten wissen müssen, worauf sie sich einlassen, und so weiter, und so fort.

Ebenso ermüdend wie das Verharren in den gleichen Argumentationsmustern ist auch die Trägheit der Öffentlichkeit, die nach anfänglicher Sensationslust schnell das Interesse verliert – und vor allem die Unsichtbarmachung der Opfer. Die Täter sind prominent, von Till Lindemann bis Dieter Wedel – die Stimmen der Opfer aber haben kein großes Gewicht und fallen schnell hinten über. Auch in Winnie M Lis Roman ist das der Fall.

Eine Interviewanfrage mit Sprengkraft

Winnie M Li - Komplizin (Cover)

Hier ist es die Sarah Lai, die sich in ihrem Job als Hochschuldozentin durchschlägt. In ihrem Seminar bespricht sie mit Studierenden deren Drehbücher und versucht ihnen etwas filmtheoretisches Wissen zu vermitteln. Doch den Film kennt sie nicht nur aus der Theorie. Früher war sie einmal Produzentin und arbeitete mit dem britischen Multimilliardäre Hugo North zusammen. Sogar bis zu den Golden Globes hat sie es geschafft. Doch nun, im Jahr 2017, ist der frühere Ruhm einer kargen Monotonie gewichen. Nur noch ein paar dürre Zeilen in der Internet-Filmdatenbank IMDB zeugen von Sarahs früherem Erfolg.

Doch nun werden Anschuldigungen gegen Hugo North publik und so erhält auch Sarah von einem Starreporter der New York Times namens Thom Gallagher eine Interviewanfrage. Nach anfänglichem Zögern überwindet Sarah ihre Vorbehalte und beginnt dem Reporter ihre Lebensgeschichte zu erzählen, die viel Sprengkraft bereithält. Die Geschichte, die sich in den Interviews zeigt, wird zu einer #MeToo-Geschichte, wie sie sie jüngst auch Maria Schrader in der filmischen Adaption des Sachbuchs She said der Journalistinnen Jodi Kantor und Megan Twohey zeigte, die 2017 den Weinstein-Skandal enthüllten.

Manche Dinge lassen sich nicht aus der Welt schaffen, auch wenn wir sie noch so sehr hinter Geschenktaschen, Presseerklärungen und Fotos mit lächelnden Gesichtern zu verbergen suchen. Die Wahrheit lebt weiter, auch wenn wir manchmal sehr genau hinsehen müssen, um sie zu entdecken: in zensierten Kommentaren, auf unveröffentlichten Fotos, im irritierenden Schweigen, das auf hinter verschlossenen Türen abgehaltene Meetings folgt. In E-Mails, auf die wir nie eine Antwort bekommen haben.

Heute sehen wir alles

Winnie M Li – Komplizin, S. 7 f.

Rückblenden auf eine ehrgeizige Karriere

Drei große Gespräche sind es, zu denen sich Gallagher und Sarah Lai treffen und die zurückführen bis ins Jahr 2006, als Sarah ihre Karriere im Filmbusiness begann. Zwischen die einzelnen Passagen fügt Winnie M Li Interviewabschriften, die Gallagher für seine Reportage mit anderen Beteiligten führte. Allmählich zeigt sich so das Bild eines Hollywood, in dem Frauen nur Objekte zweiter Klasse sind.

Dabei beginnt alles eigentlich mit toughen Frauen, die es den männlichen Konkurrenten zeigen wollen. Obwohl sich ihre Eltern für Sarah eine solide Karriere, gerne auch im familieneigenen Chinarestaurant in New York vorstellen, will sich Sarah nicht mit dieser festgefügten Ordnung begnügen. Sie will in die Filmwelt eintauchen und wird nach einem unbezahlten Praktikum zur rechten Hand der Filmproduzentin Sylvia Zimmerman. Arbeit gibt es viel, Anerkennung nur wenig und Geld noch weniger. Zusammen feiern sie aber mit einem Independent-Film einen ersten Erfolg, der zum Türöffner für weitere Arbeiten wird.

Die Selbstausbeutung in der Firma scheint dem Ende nah, als der britische Multimilliardär Hugo North an Bord kommt und die Arbeit mit seinem Geld maßgeblich unterstützt. Er krempelt den Laden der beiden Frauen gehörig um und sorgt dafür, dass die zweite Produktion dann ins Herz der Filmindustrie verlagert wird – nach Hollywood. Doch die Dreharbeiten sind für Sarah mehr als anstrengend. Nachdem sie in der Anfangszeit schon maßgeblich am Skript und der Steuerung der Finanzen mitgearbeitet hat, muss sie jetzt ihre Chefin vertreten und steigt zum Associate Producer auf. Doch nicht nur die Dreharbeiten fordern Sarah heraus. Auch Hugo wird immer launischer und macht Sarah das Leben zur Tortur, bis dann eine private Party im Chateau Marmont einen verheerenden Ausgang nimmt.

Komplizin eines verhängnisvollen Systems

In vielen Rückblenden nimmt uns Winnie M Li mit in Sarahs Leben und zeigt eine junge Frau, deren Arbeitsethos und Ehrgeiz sie weit – aber auch in Gefahr gebracht haben. Sie erzählt vom Arbeitsalltag an einem Filmset, der aufreibenden Arbeit zwischen Stars, Drehplan, Geldgebern und Öffentlichkeitsarbeit und von gefährlichen Abhängigkeiten. Sie beleuchtet in Komplizin den Machtmissbrauch, der aufgrund vielschichtiger Abhängigkeiten an einem solchen Set besteht und der Missbrauch, wie ihn auch Harvey Weinstein dutzendfach betrieb, Vorschub leistet.

Doch für eine platte Opfererzählung ist Winnie M Li zu klug. Sie erzählt, wie sich auch Sarah selbst mitschuldig macht und selber die Kultur des Wegschauens und Verdrängens pflegt, um den Film nicht in Gefahr zu bringen. Wie man sich durch Schweigen zur Komplizin dieses verhängnisvollen Systems macht, das einem seine Dienste im seltensten Fall ehrt, das zeigt Li sehr deutlich.

Damit knüpft Komplizin auch an die heutigen Debatten an, die ja meist eine ähnliche Ausgangslage wie der hier fiktiv geschilderte und an Harvey Weinstein erinnernde Fall aufweisen. Das Machtgefälle zwischen junger Frau und arriviertem Künstler (oder Geldgeber), ein System, das am Laufen gehalten werden muss, um für alle Beteiligten erträglich zu sein – und die unbarmherzige Ausgrenzung aller, die bei diesen Spielregeln nicht mehr mitmachen möchten. Das arbeitet die Aktivistin und Autorin in diesem Buch deutlich heraus.

Ob dieser analytischen Schärfe und dem detaillierten Blick ins Betriebssystem Hollywood verzeiht man da die ein oder andere erzählerische Zeitlupe und Übergenauigkeit, die die Rückblenden kennzeichnet, gerne. Ein Buch, das auch über den #MeToo-Skandal oder die Causa Lindemann leider weiter Aktualität und Relevanz besitzen wird. Das macht es zu einer empfehlenswerten und augenöffnenden Lektüre, selbst wenn man mit Hollywood und dem Produzentengeschäft nicht viel anfangen kann.


  • Winnie M Li – Komplizin
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-47326-9 (Suhrkamp)
  • 475 Seiten. Preis: 18,00 €
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