Pablo de Santis – Das Rätsel von Paris

Zwölf Detektive sollt ihr sein. In Pablo de Santis‚ Roman Das Rätsel von Paris kommen die legendären Detektive ebendort zusammen, um im Rahmen der in Kürze beginnenden Weltausstellung Ausschnitte aus ihrem kriminalistischen Lebenswerk zu zeigen. Doch wo Detektive sind, da ist das Verbrechen auch nicht weit…


Ist er Ausdruck visionärer Architektur und Fortschrittdenkens – oder eine einzige Anmaßung, die sogar den Petersdom in ihren Schatten stellt und besser nicht gebaut worden wäre? In Pablo de Santis metaphysischen Krimi Das Rätsel von Paris entzweit der kühne Entwurf Gustave Eiffels die Geister.

Mit einer Bauzeit von 2 Jahren und der Eröffnung pünktlich zur Weltausstellung 1989 ist der Turm etwas nie Dagewesenes, das alle Blicke auf sich zieht. Salvatrio, den Erzähler von Pablo de Santis Roman, begeistert aber eine andere Aussicht noch weitaus mehr. Denn er ist nach Paris gekommen, weil dort am Vorabend der Eröffnung der Weltausstellung andere Giganten zusammengekommen sind. Keine geringeren als die legendären zwölf Detektive haben sich dort versammelt, um sich gegenseitig ihre Ermittlungsmethoden und größten Fälle vorzustellen.

Salvatrio und die zwölf Detektive

Pablo de Santis - Das Rätsel von Paris (Cover)

Dass Salvatrio als einer der größten Bewunderer dieses kriminalistischen Dutzends ebenfalls vor Ort ist, hat damit zu tun, dass es strenggenommen gar nicht zwölf, sondern nur elf Detektive sind, die sich in Paris eingefunden haben. Denn der argentinische Ermittler Craig ist nicht gekommen, stattdessen hat er Salvatrio als seinen Adlatus entsandt. Wie das kam, davon erzählt der erste von insgesamt fünf Teilen, in das sich de Santis‘ Roman gliedert.

Nun steht Salvatrio wahrhaftig vor jenen Detektiven, deren Fälle und Deduktionen er in der Zeitschrift La clave del crimen begierig verfolgt hat. Der Detektiv Tobias Hatter aus Nürnberg, der mithilfe von ausgeklügelten Apparaturen im Miniaturformat Fälle löst, Zagala, der portugiesische Ermittler, der seine Fälle ausschließlich an der Küste löst oder die beiden Detektive Viktor Arzaky und Louis Darbon, die miteinander um den Titel des Detektivs von Paris konkurrieren.

Sie alle sind nun vor Ort und haben Exponate mitgebracht, die für ihre Ermittlungsansätze und Erfolge stehen. Aus der Theorie wird aber schnell Praxis, als es zu einem ersten Toten kommt, der aus der Riege der berühmten Detektive stammt. Der Schauplatz des Todesfalles könnte dabei nicht symbolischer sein. So stürzte Arzakys‘ Konkurrent Darbon an jenem Ort zu Tode, der nun im Fokus der Öffentlichkeit steht: der Eiffelturm.

Vom Adlatus zum Ermittler

In der Folge wird Salvatrio vom passiven Bewunderer der zwölf Detektive selbst zum Ermittler, indem er für Arzaky Ermittlungen übernimmt. Er stromert durch ein Paris , das schier vor Anspannung ob der bevorstehenden Eröffnung der Weltausstellung vibriert und summt. Als es zu einem zweiten Todesfall kommt, steigert sich diese Anspannung noch einmal. Denn es scheint fast, als hätte jemand die Detektive und insbesondere Darbons Rivalen Viktor Arzaky ins Visier genommen.

Pablo de Santis‘ Roman ist einerseits ein Krimi, der die klassischen Zutaten des Genres im Übermaß bedient. Nicht nur ein Detektiv, sondern gleich ein ganzes Dutzend, dazu die Adlaten der legendären Ermittler, Todesfälle, die in Verbindung zu stehen scheinen, viele potentielle Verdächtige an einem illustren Ort.

Zugleich aber weitet der Argentinier Pablo de Santis seinen Roman, indem er neben der realistischen Krimihandlung auch eine metaphysische Ebene einzieht. Sinnbildlich dafür ist ein Ausspruch, der einmal in einem Gespräch mit dem Detektiv Craig fällt. Er lautet: Die Mörder sind die Künstler und die Detektive ihre Kritiker.

Der Eiffelturm im Verdacht

Diese für einen klassischen Krimi eher ungewöhnliche Herangehensweise an das kriminalistische Tun kennzeichnet Das Rätsel von Paris. So stehen nämlich nicht nur Ermittler, Täter und Opfer im Fokus – auch dem Eiffelturm kommt eine entscheidende Rolle zu, der ebenso wie Detektive international für Aufsehen sorgt, aber auch Kritiker auf den Plan ruft.

Obskure Gruppen wie die sogenannten Kryptokatholiken sehen die Errichtung des Turms mehr als skeptisch, weshalb eine Spur auch zu dieser Gruppierung und ihren seltsamen Vertretern weist. Würde man für beziehungsweise gegen den Turm morden? Und was verbindet die Toten miteinander? Rächt sich ein mörderischer Künstler an seinen Kritikern in Form der Detektive?

Diese Überlegungen führen zu vielen, teils reichlich theoretisch und metaphysischen Überlegungen, die Krimipuristen, die „reine“ Krimis schätzen, wahrscheinlich eher als überflüssig, wenn nicht gar störend empfinden dürften.

Fazit

Lässt man sich aber auf die Erzählwelt von Pablo de Santis ein, dann ist Das Rätsel von Paris einerseits Hommage an die klassischen Detektiverzählungen und setzt gleich zwölf Ermittler und ihre spektakulären Fälle in Szene. Andererseits ist das Buch auch eine wilde Spielwiese für Kritik der mörderischen Vernunft, Überlegungen zum Arbeitsethos von Detektiven und Bauwerk-bedingte Aversionen. Dass dieses Buch im Jahr 2007 erschien, als Erika Eiffel im gleichen Jahr in einer privaten Zeremonie den Eiffelturm heiratete, ist dabei eine Pointe, die hervorragend zum Geist passt, den Das Rätsel von Paris atmet.


  • Pablo de Santis – Das Rätsel von Paris
  • Aus dem Spanischen von Claudia Wuttke
  • ISBN 978-3-293-20540-6 (Unionsverlag)
  • 320 Seiten. Preis: 12,90 €
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Vorschaufieber Frühjahr 2025

Nur mehr gut 30 Tage, bis das alte Jahr vergangen ist. Grund genug, eine Vorausschau auf die kommenden Bücher zu wagen, auf die ich mich im Frühjahr des kommenden Jahres besonders freue.

Wie immer ist eine handverlesene Auswahl entstanden, die große und kleine Häuser, internationale wie nationale Stimmen und Genres in sich vereint. Hinter den Covern verbergen sich weiterführende Infos zu den Büchern auf den entsprechenden Verlagsseiten. Ein Klick genügt!

Vielleicht ist ja auch für euch der ein oder andere Titel dabei, auf den ihr euch freut. Lasst es mich gerne wissen!

National

Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung (Hanser). Tommy Goerz – Im Schnee (Piper). Ursula Krechel – Sehr geehrte Frau Ministerin (Klett-Cotta). Christine Wunnicke – Wachs (Berenberg). Steffen Schröder – Der ewige Tanz (Rowohlt).

Steffen KopetzkyAtom (Rowohlt). Burkhard Spinnen, Charles Wolkenstein – Erdrutsch (Kanon). Antje Rávik Strubel – Der Einfluss der Fasane (S. Fischer). Arno Frank – Ginsterburg (Klett Cotta). David Finck – Der Schwindel (Piper).

Annegret Liepold – Unter Grund (Blessing). Ricarda Messner – Wo der Name wohnt (Suhrkamp). Katharina Köller – Wild Wuchern (Penguin). Rebekka Frank – Stromlinien (S. Fischer). Annett Gröschner – Schwebende Lasten (C. H. Beck).

International

Charlotte McConaghyDie Rettung (aus dem Englischen von Jan Schönherr, S. Fischer). Cristina Henriquez – Der große Riss (aus dem Englischen von Maximilian Murrmann, Hanser). Rachel Kushner – See der Schöpfung (aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, Rowohlt). Jente Posthuma – Woran ich lieber nicht denke (aus dem Niederländischen von Andreas Ecke, Luchterhand). Niall Williams – Das ist Glück (aus dem Englischen von Tanja Handels, Ullstein).

Susan Barker – Old Soul (aus dem Englischen von Volker Oldenburg, Suhrkamp nova). Taffy Brodesser-Akner – Die Fletchers von Long Island (aus dem Englischen von Sophie Zeitz, Eichborn). William Boyd – Brennender Mond (aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer, Kampa), Tan Twan Eng – Das Haus der Türen (aus dem Englischen von Michaela Grabinger, Dumont). Yael van der Wouden – In ihrem Haus (aus dem Englischen von Stefanie Ochel, Gutkind).

Aurélien Bellanger – Die letzten Tage der Linken (aus dem Französischen von Frank Weigand, Claassen). Gabriela Wiener – Unentdeckt (aus dem Spanischen von Friederike von Criegern, kanon). Colum McCann – Twist (aus dem Englischen von Thomas Überhoff, Rowohlt). Nenad Veličković – Nachtgäste (aus dem Bosnischen von Barbara Antkowiak, Jung und Jung). Jean-Baptiste del Amo – Der Menschensohn (aus dem Französischen von Karin Uttendörfer, Matthes und Seitz).

Liz Moore – Der Gott des Waldes (aus dem Englischen von Cornelius Hartz, C. H. Beck). Lai Wen – Himmlischer Frieden (aus dem Englischen von Judith Schwaab, Claassen) María Ospina Pizano – Für kurze Zeit nur hier (aus dem Spanischen von Peter Kultzen, Unionsverlag). Hugo Lindenberg – Die imaginäre Nacht (aus dem Französischen von Lena Müller, Edition Nautilus). Emma Pattee – Auf der Kippe (aus dem Englischen von Stefanie Jacobs, Piper).

Alan Murrin – Cost Road (aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll, dtv). Camilla Barnes – Keine Kleinigkeit (aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren, Piper). Angie Kim – Happiness Falls (aus dem Englischen von Wibke Kuhn, hanserblau). Amanda Peters – Beeren pflücken (aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit). Essie Chambers – Swift River (aus dem Englischen von Simone Jakob, Eichborn).

Krimi

Andreas Storm – Die Victoria Verschwörung (Kiepenheuer Witsch). Eli Cranor – Ozark Dogs (aus dem Englischen von Cornelius Hartz, Atrium). Samuel W. Gailey – Tiefer Winter (aus dem Englischen von Andrea Stumpf, Polar Verlag). Louise Doughty – Deckname: Bird (aus dem Englischen von Astrid Arz, Suhrkamp). Nicolás Ferraro – Ámbar (aus dem Spanischen von Kirsten Brandt, Pendragon).

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James Carlos Blake – Red Grass River

Im tiefsten Süden Amerikas, in den Everglades, da leben sie, die Mitglieder der Familie Ashley. James Carlos Blake setzt der kriminellen Bande mit Red Grass River ein ebenso eindringliches wie mitreißendes Denkmal. Ein Epos über Gut und Böse – und die Grenze dazwischen, die sich nicht immer so leicht ziehen lässt.


Falls sich der Teufel je einen Garten angelegt hat, dann die Everglades. Der größte und gemeinste Sumpf, den Sie je zu sehen bekommen – größer als so mancher Staat der USA. All die Kiefernwälder und das Zwergpalmetto-Gestrüpp, die Zypressensümpfe, das ganze Kletterpflanzengewirr. Doch vor allem ist es ein Fluss, ein Fluss, wie es auf der Erde keinen zweiten gibt. Er ist hundert Kilometer breit, fünfzehn Zentimeter tief und verläuft vom Lake Okeechobee bis zum südlichen Ende des Staates über einem Morast ohne festen Boden. Das Ganze ist mit Binsenschneide, einer Art Sauergras, überwuchert, scharf wie ein Rasiermesser. Zwischen diesem schneidend scharfen Gras gibt es weit und breit nichts außer vereinzelten Hammocks – höher gelegene, mit Laubbäumen und Palmen beweachsene Inseln -, die größtenteils noch kein Mensch je betreten hat. Da draußen wirkt die Welt viel größer und der Himmel kennt kein Ende.

James Carlos Blake – Red Grass River, S. 9

So führt uns der sogenannte Liars Club in den Handlungsort des Romans von James Carlos Blake ein. Bei diesem Club handelt es sich um einen amorphen Erzählchor, der sich immer wieder kommentierend in die Geschichte einschaltet, die uns der 1947 in Mexiko geborene Blake erzählt.

Es ist eine Kommentierung, die aus viel Gerüchten und Tratsch besteht. Beim Thema, um das es sich in dem Roman dreht, verwundert das aber nicht. Denn die Familie Ashley, deren schwerkriminelle Mitglieder von Schwarzbrennerei über Alkoholschmuggel bis hin zu Banküberfällen so gut wie alle Schattierungen des Verbrechens im Süden der USA verübten, rief von Bewunderung bis Hass wahrhaftig eine Vielfalt von Gefühlen und Reaktionen hervor. Immer wieder sorgte das Treiben dieser historisch verbürgten Bande für Aufsehen und wurde durch spektakuläre Coups zum Stadtgespräch.

Die Ashley-Gang und ihr kriminelles Treiben

Den Werdegang der Familie, ihr kriminelles Tun und die Rivalität mit der Familie Baker, die als Sheriffs und Deputys auf der gegenüberliegenden Seite des Gesetzes standen, zeichnet James Carlos Blake mit einem sicheren Gespür für Action, Figuren und Lokalkolorit nach.

James Carlos Blake - Red Grass River (Cover)

So vereint Red Grass River Gewalt in Form von Schießereien, Schlägereien und zahlreiche Todesfälle mit Liebe, familiären Zusammenhalt, Momenten der Hingabe und der Lust, Eros und Thanos, Verfolgungsjagden, Gefängnisepisoden bis hin zu unglaublich sinnlichen Schilderungen der Naturlandschaft der Everglades, die als Rückzugsort der Ashleys nicht von ungefähr den Namen The devil’s garden trägt.

Es ist ein intensives Leseerlebnis, das uns James Carlos Blake hier zwischen Galveston und Miami kredenzt. Nicht nur Fans des ausgezeichneten Cowboyspiels Red Dead Redemption 2 kommen hier auf ihre Kosten.

Vor dem Hintergrund der rasanten Entwicklung Floridas zu Beginn des 20. Jahrhunderts schildert Blake Werden und Vergehen, Momente großer Liebe, aber auch Momente ebenso großen Hasses.

Der Reiz von James Carlos Blakes Roman liegt neben dem Erzählbogen mitsamt der meisterhaft geschilderten Szenen von der Flucht per Eisenbahn bis hin zum Schmugglerhandwerk in den Sümpfen auch in der dahinter aufscheinenden Rivalität zwischen Gut und Böse.

Sheriff und Ashley-Gang belauern sich, bekriegen sich – aber wer nun auf welcher Seite von Gut und Böse steht, das ist nicht immer wirklich eindeutig und macht so aus diesem Pageturner auch ein wuchtiges Drama mit Grauschattierungen.

Fazit

Fast meint man die Alkoholausdünstungen, Nebelschwaden und den Pulverdampf während der Lektüre selbst zu riechen. Ein großartiges Gangsterepos in den Sümpfen Floridas zwischen Schwarzbrennern und Fellhändlern, Bankräubern und Sheriffs, Gut und Böse, alter Verbrecherwelt und neuen Betrüger. Das ist ganz große Unterhaltung und wieder mal ein echter Griff, den der Münchner Liebeskind-Verlag hier getan hat!


  • James Carlos Blake – Red Grass River
  • Aus dem Englischen von Stefan Lux
  • ISBN 978-3-95438-087-9 (Liebeskind)
  • 528 Seiten. Preis: 24,00 €
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Donatella di Pietrantonio – Die zerbrechliche Zeit

Schicksale am Fuße des Dente del lupo. In ihrem mit dem diesjährigen Premio Strega ausgezeichneten Roman Die zerbrechliche Zeit erzählt Donatella di Pietrantonio von prägenden Erlebnissen auf einem Campingplatz in den Abruzzen, die in einer Mutter durch die Heimkehr ihrer Tochter wieder wachgerufen werden.


Dente del lupo, Wolfszahn, so wirde der Berg in den Abruzzen geheißen, der in Donatello di Pietrantonios Buch alles überragt. Am Fuße des Wolfszahn geheißenen Bergs liegt ein Grundstück, das der Vater seiner Tochter Lucia überschreiben will. Früher befand sich auf dem Grundstück ein Campingplatz, nun aber hat die Natur dort am Berg mit der Rückeroberung des Gebiets begonnen. Längst haben die Schäfer und ihre Herden dem Dente del lupo wieder einen Lebensraum abgetrotzt und beweiden Flächen dort oben. Eine Schärfe besitzt der Berg aber immer noch, wenngleich eher in psychologischer Hinsicht. Denn einst schlugen Ereignisse dort oben Wunden in Lucias Seele, die im Lauf des Romans wieder aufbrechen.

Denn nicht nur, dass ihr Vater ihr das fragliche Grundstück mit den Überresten des Campingplatzes vermachen will. Auch ihre Tochter Amanda ist auch Mailand heimgekehrt, kurz bevor die Corona-Pandemie das ganze öffentliche Leben zum Erliegen brachte.

Rückkehr zum Dente del lupo

Ich habe sie zu viel allein gelassen in der Großstadt. Bei ihrer Rückkehr war sie eine andere. Ich glaubte, sie sei von ihren neuen Freundschaften in Anspruch genommen, aber sie existierten nur in meiner Fantasie.

Nach ihrer Abreise füllte ich meine Tage mit Patienten, suchte in der Arbeit Betäubung. Daheim kam zu der kalten Hälfte des Ehebetts Amandas leeres Zimmer. Sie waren im Abstand von wenigen Monaten gegangen, Vater und Tochter. Mein Mann, unser Kind. Im November habe ich den Heizkörper abgestellt und die Tür des Zimmers, in dem sie aufgewachsen war, geschlossen. Habe mich dem Winter gestellt.

Sie muss frei sein, sagte ich mir, deshalb bestieg ich keinen Zug. Innerlich fühlte ich mich schwach, beschränkte mich auf die Alltagsdinge, mehr wagte ich nicht. Ich wollte nicht, dass sie sag, wie es mir ging. Ich habe die Angst gezähmt, die ich um sie hatte. Ein Ort, den sie sich so sehr gewünscht hatte, konnte ihr nichts Böses tun.

Donatella di Pietrantonio – Die zerbrechliche Zeit, S. 65

Langsam versucht Lucia zu ergründen, was Amandas Heimkehr und ihre charakterliche Veränderung verursacht hat. Die Suche nach den auslösenden Momenten fördert dabei auch aus Lucias eigener Jugend Erinnerungen zutage und bringt Dinge zum Vorschein, die vor allem mit dem Campingplatz zu tun haben, auf dem Lucia einst ihre Sommer verbrachte.

Das Leben von Mutter und Tochter

Donatella di Pietrantonio - Die zerbrechliche Zeit (Cover)

In zwei Rückblenden verschränkt di Pietrantonio das gegenwärtige Leben von Mutter und Tochter mit dem Sommer vor vielen Jahren, als ein Vorfall im Dorf für Aufsehen sorgte und der Erinnerungen an Fälle männlicher Gewalt wachruft. Diese Gewalt, sie dauert an und setzt sich wie ein Kontinuum bis zum heutigen Tag fort – und das nicht nur in Italien, sondern auch in unserer Gesellschaft. Liest man Die zerbrechliche Zeit, werden Assoziationen geweckt, etwa jüngst an die grauenvollen Ereignisse, die zwei amerikanischen Touristinnen nahe Schloss Neuschwanstein widerfuhr.

Donatello di Pietrantonios Roman öffnet den Raum für derlei Themen und Gedanken. Es ist ein präziser Roman, in dem die schreibende Kinderzahnärztin Vergangenheit und Gegenwart miteinander verknüpft und verknotet – und langsam wieder entspinnt. Das erfordert ein langsames und genaues Lesen, denn Die zerbrechliche Zeit ist gesättigt von Atmosphäre und Schwebungen, die zwischen den Charakteren und den Zeilen herrschen (übersetzt von Maja Pflug).

Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren

„Es geht nicht nur um das, was du siehst“. Dieser Satz, den Lucias Vater bei der Begehung des familieneigenen Besitzes auf dem Berg äußert, er lässt sich auch auf Pietrantonios Roman übertragen. Denn die äußere Handlung in der Gegenwart ist alles andere als spektakulär, vielmehr geht es um das Innere, um Seelenlandschaften und die Gefahren, die sich Frauen heute wie einst ausgesetzt sehen.

Filigran und durchdacht werden die Themen von di Pietrantonio in einen genauen Erzählton gekleidet, was mich persönlich in einigen Passagen an das ebenfalls so verdichtete Erzählen Maja Haderlaps erinnerte. Mit Sinn für Verletzlichkeit, Präzision und einem Fokus auf den Auswirkungen von Gewalt erzählt Die zerbrechliche Zeit von einer Mutter und Tochter und arbeitet Erinnerungen und kontinuierliche Gewalt als Themen des Romans gekonnt auf.

Die Auszeichnung mit dem Premio Strega ist mehr als gerechtfertigt, vor allem in einer Zeit, in der Frauenrechte und Gleichberechtigung nicht nur in Italien sondern weltweit in Gefahr geraten und die Gesellschaft in alte, patriarchale Rollenmuster zurückzufallen droht. Hier braucht es Romane wie den von Donatella di Pietrantonio, um aufzurütteln, zu sensibilisieren und Diskussionen anzustoßen. Dass die Autorin dabei nicht nur mit der Relevanz ihres Themas sondern auch der literarischen Ausgestaltung überzeugt, macht Die zerbrechliche Zeit noch einmal wertvoller!


  • Donatella di Pietrantonio – Die zerbrechliche Zeit
  • Aus dem Italienischen von Maja Pflug
  • ISBN 978-3-95614-621-3 (Kunstmann)
  • 224 Seiten. Preis: 22,00 €
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Bram Stoker – Das Geheimnis der See

Ein geheimnisvoller Code, ein nicht minder geheimnisvoller Schatz, Geheimgänge, eine große Liebe und viel Pulverdampf. Das alles bietet Das Geheimnis der See, ein hierzulande weitgehend unbekannter Abenteuerroman des Dracula-Erfinders Bram Stokers. Dank des Übersetzers Alexander Pechmann und des Mare-Verlags lässt sich dieses Buch nun auch im Deutschen entdecken.


Man könnte schon ahnen, dass es nicht ganz mit rechten Dingen zugeht, wenn sich auf den ersten Seiten eines Buchs der Vorhang hebt und eine solche Szene wie die folgende preisgibt:

Ich war gerade erst in Cruden Bay angekommen, wo ich, wie jedes Jahr, meinen Urlaub verbrachte, und saß nach einem späten Frühstück auf einer niedrigen Mauer an der Böschung der Brücke, die über den Fluss Water of Cruden führte. Mir gegenüber, auf der anderen Straßenseite, im Schatten der einzigen kleinen Baumgruppe der Umgebung, stand eine große, hagere alte Frau, die mich immerzu aufmerksam anstarrte. Im nächsten Moment gingen ein Mann und zwei Frauen an mir vorbei. Mein Blick folgte ihnen unwillkürlich, und nachdem sie sich ein Stück weit entfernt hatten, glaubte ich zu sehen, dass die beiden Frauen nebeneinander einherschritten, während der Mann allein voranging und eine kleine schwarze Kiste auf der Schulter trug – ein Sarg.“

Bram Stoker – Das Geheimnis der See, S. 11

Hier ist er, jener Bram Stoker, der mit Dracula eine der stilprägenden Figuren des Horrorgenres schuf, die bis heute ihren Einfluss auf die Popkultur ausübt. Auch in seinem fünf Jahre nach dem Blutsauger-Meilenstein entstandenen Werk Das Geheimnis der See (1902) ist der Grusel vorhanden. Allerdings tritt er nach dem eindrücklichen Beginn des Romans hinter die „realistischere“ Erzählhaltung des übrigen Romans zurück. So ist die Szene mit dem Sarg der Auftakt zu weiteren morbiden Geschehnissen, die sich in Cruden Bay ereignen.

Grusel in Cruden Bay

Bram Stoker - Das Geheimnis der See (Cover)

Denn nicht nur, dass tatsächlich ein Kind stirbt, nachdem die Erwachsenen den kleinen Sarg durch das schottische Küstenstädtchen getragen haben. Ein weiterer Mann kommt kurz darauf in der Nacht zum sogenannten Lammas-Tag, dem 1. August, ums Leben. Bei diesem Tag handelt es sich im keltischen Brauchtum um den Tag, der den Übergang zum Herbst markiert. Auch jenen Toten sah Archibald Hunter noch kurz zuvor und ist nun ob seiner Visionen von den bevorstehenden Toden höchst irritiert.

Von einer mysteriösen Alten namens Gormala wird er eingeweiht, dass er ebenso wie sie selbst das zweite Gesicht hat und Tode vorausahnen und sehen kann. Bereits aufgewühlt durch jene Offenbarung wähnt er sich bei seiner dritten Begegnung mit in Todesgefahr schwebenden Frauen schon wieder in einer Vision, die sich dann aber als wahrhaft und konkret erweist.

So sind eine junge und eine ältere Dame in der unruhigen Strömung nahe der gefährlichen Meeresklippen von Cruden Bay in Gefahr geraten. Selbstlost rettet Archie die beiden Frauen aus der Gefahr – und schon kurz darauf ist es um ihn geschehen. Denn ebenso unverhofft wie die Begegnung kommt auch die Liebe, die sich zwischen ihm und der aus Amerika stammenden Marjory entspinnt.

Archibald Hunter, der Retter in der Not

Stoker vertut in seinem Roman nicht viel Zeit sondern geht in Das Geheimnis der See gleich in die Vollen. Von den Todesvisionen zur Errettung der Frauen zur Hochzeit mit Marjory vergeht hier nicht allzu viel Zeit und Seiten.

Um diese Geschichte herum montiert er noch eine weitere, fast schon an die Mantel und Degen-Romane eines Alexandre Dumas erinnernde Erzählung. Denn zufällig gelangt Archibald in den Besitz einer Eichenholzkiste mit Dokumenten. Diese sind mit einem Code verschlüsselt, der Archibald und Marjory auf die Spur eines Schatzes bringt, der auch mit Marjory selbst zu tun hat.

Denn die junge Frau schwebt in großer Gefahr. So versteckt sie sich eigentlich in Cruden Bay, weil es Entführer auf sie abgesehen haben. Der amerikanisch-spanische Krieg tobt im Hintergrund – und Marjory kommt eine entscheidende Rolle in der Auseinandersetzung, wie Stoker zeigt. Der Schatz, der Geheimcode, Archibalds Haus, alles hängt hier (nicht immer sehr glaubwürdig) miteinander zusammen. Das fällt aber nicht so sehr ins Gewicht, weil Stoker die Logiklöcher und Unwahrscheinlichkeiten mit einem hohen Tempo und immer neuen Erzähleinfällen kaschiert.

Die Entschlüsselung des Codes führt zur Höhle mit dem Schatz (die sich natürlich gleich in der Nähe von Cruden Bay verbirgt), Geheimgänge und Codes bringen Archibald und seine Frau auf die Spur von Entführern und schließlich darf auch die alte Seherin Gormala noch einmal einen Auftritt haben, um im Bombast-Finale vor der Küste Archibald mit übersinnlichen Kräften zur Rettung seiner Holden zu verhelfen.

Nicht wirklich glaubwürdig – aber unterhaltsam

Glaubwürdig ist das alles natürlich nur bedingt – aber dafür umso unterhaltsamer. Das Geheimnis der See ist doch reich an Schwächen, die das Buch nicht unbedingt zu einem vergessenen Meisterwerk machen. Einige recht unmotivierte Zufälle, viele verschiedene Elemente und Genres, die sich nicht immer ganz glatt verfugen, eine manchmal etwas konfuse Handlung, Liebeskitsch á la im Gleichklang schlagende Herzen oder wilder Exotismus ob der glutäugigen Spanier und gedungenen Amerikaner sind durchaus Schwächen.

Wer an historischen Abenteuerromanen wie Dumas‘ Der Graf von Montecristo oder Moonfleet von John Meade Falkner seine Freude hatte, den dürfte auch Das Geheimnis der See nicht enttäuschen. In vielen Kapiteln und noch mehr erzählerischen Volten treibt er seine Leser*innen durch das Buch, das von Alexander Pechmann nicht nur übersetzt, sondern auch mit einem Nachwort und weiterführenden Informationen versehen wurde. Gelungen arbeitet Pechmann interessante Aspekte an Stokers Werk heraus und erläutert darüber hinaus auch noch Wissenswertes, etwa zum Binärcode von Francis Bacon, der im Roman eine entscheidende Rolle spielt.

Fazit

So kann man mit diesem formschön gestalteten Band im Schuber ein Werk entdecken, dem man nicht Unrecht tut, wenn man es jetzt nicht ganz in den Bereich eines wiederentdeckten Klassikers rückt. Aber ein solider Abenteuerroman ist Das Geheimnis der See doch allemal. Nicht zuletzt für die bevorstehende Weihnachts- und damit auch Geschenksaison ist Bram Stokers Text ein Tipp, der Leser*innen klassischer Abenteuerroman sicher gut unterhalten dürfte. Und auch aus bibliophiler Perspektive haben sich Übersetzer und der herausgebende Mare-Verlag mehr als nur ein lobendes Wort für ihre Arbeit verdient!


  • Bram Stoker – Das Geheimnis der See
  • Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann
  • ISBN 978-3-86648-704-8 (Mare)
  • 544 Seiten. Preis: 48,00 €
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