Anthony Trollope – Weihnachten auf Thompson Hall

Wenn ein Senfwickel das ganze Weihnachtsfest in Gefahr bringen kann. Davon erzählt Anthony Trollope in seiner Geschichte Weihnachten auf Thompson Hall und legt damit seinen Fokus weniger auf das Weihnachtsfest selbst, als vielmehr auf den Anreisestress, der sich manchmal aus unvorhergesehenen Ereignissen entwickeln kann, wie Trollopes nostalgische Erzählung beweist.


Auch wenn es Chris Rea gelungen ist, die weihnachtliche Heimreise in den Schoß der Familie mit seinem Evergreen Driving home for christmas zu romantisieren und zu verklären, so sieht die Realität doch meistens anders aus. Vollgepackte Autos, Staus auf der Autobahn, ausfallende Züge und viel Hektik, die solch eine Anreise begleiten. Bei Mr. und Mrs. Brown in Anthony Trollopes Erzählung Weihnachten auf Thompson Hall ist das nicht anders.

Thompson Hall war ein altes Herrenhaus, ein Backsteingemäuer mit einer Kiesauffahrt, das hinter einem riesigen Eisentor lag. Es hatte schon dort gestanden, als Stratford noch keine Stadt oder auch nur ein Vorort gewesen war, und hieß damals Bow Place. Doch seit dreißig Jahren war es im Besitz der jetzigen Familie und weit und breit unter dem Namen Thompson Hall bekannt – ein gemütliches, geräumiges, altmodisches Haus, vielleicht ein bisschen dunkel und langweilig anzusehen, aber viel gediegener gebaut als die meisten unserer modernen Villen.

Anthony Trollope – Weihnachten auf Thompson Hall, S. 80

Dorthin nach Thompson Hall zieht es vor allem Mrs. Brown in Trollopes Geschichte. Sie entstammt der Familie, in deren Besitz das Anwesen ist – und nun, nach Jahren der Abwesenheit, möchte sie dort zusammen mit ihrem Mann wieder einmal das Weihnachtsfest im Schoß der Familie begehen.

Der eingebildete (?) Kranke

Anthony Trollope - Weihnachten auf Thompson Hall (Cover)

Ihr Mann, seit der Hochzeit mit Mrs. Brown aller materiellen Sorgen und der Erwerbstätigkeit enthoben, hat darauf allerdings so gar keine Lust. Bislang verbrachte er als Anhängsel seiner Frau die Winter immer in Südfrankreich, womit er sich sehr gut arrangiert hat. Doch nun soll es wieder Weihnachten auf Thompson Hall sein, und so tritt man in einem Winter des Jahres 187 an (über genauere zeitliche Angaben schweigt sich Trollope aus, genauso wie sein Erzähler für das begüterte Ehepaar nur ein Alias wählt, um von den Begebenheit zu berichten).

Mrs. Brown vorfreudig eilend, ihr Mann eher resignativ bis widerwillig, so geht es gen England. Doch dann kommt es noch weit vor der Überquerung des Ärmelkanals zu einem Zwischenfall im am Boulevard des Italiens gelegenen Grand Hotel. Denn Mr. Brown entwickelt plötzlich ein besorgniserregenden Kratzen im Hals, das ihm eine Weiterfahrt verunmöglicht.

Mrs. Brown beschließt daraufhin, diesem etwas an eine Frühform von Corona erinnernden Krankheitsbild (welches Mr. Brown verdächtig gelegen kommt) mit einem alten Hausrezept zu begegnen. Sie beschließt, den schmerzenden Hals mit einem Senfwickel zu kurieren, den sie auf den Hals ihres zu applizieren beschließt. Doch infolgedessen kommt es zu nächtlichen Unbill im Hotel, als sich die Suche nach einem Senftopf zu weitreichenden Verwicklungen und hochnotpeinlichen Begebenheiten führt, bei der es Mrs. Brown zunehmend schwerfällt, die Contenance zu wahren.

Nostalgisch und altmodisch

Beschreibt Anthony Trollope das Anwesen auf Thompson Hall als altmodisch, so gilt das auch für seine Erzählung, was ich allerdings auf positive Art und Weise verstanden wissen möchte. Denn Weihnachten auf Thompson Hall ist eine Erzählung, die erstmalig 1876 im britischen illustrierten Wochenmagazin The Graphic abgedruckt wurde. Dementsprechend atmet diese Erzählung den Geist, den Serien wie etwa Downton Abbey dieser Tage noch einmal zu reaktivieren versuchen.

Man artikuliert sich vornehm (was in Wahrheit ein ums andere Mal eher umständlich ist), die Krisis von Mrs. Brown ob des nächtlichen Malheurs rund um den Senfwickel und die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die Heimreise nach Thompson Hall werden ausführlich geschildert – und durchaus mit Ironie für den möglicherweise eingebildeten Kranken und das Chaos im Grand Hotel, das mit den heute geläufigen Schlüsselkarten so nicht passiert wäre.

In dieser schönen Ausgabe der Insel-Bücherei wird die von Andrea Ott ins Deutsche übertragene Erzählung um Illustrationen von Irmela Schautz ergänzt, die den etwas steifen Geist des Personals gekonnt in Bilder überführt.

Fazit

Wer sich nun eine nostalgische Erzählung von weihnachtlichen Tafeleien in einem englischen Herrenhaus nach alter Väter Sitte erwartet, der wird hier enttäuscht werden, obgleich das Cover diesen Verdachte nahelegt. Denn das Geschehen auf Thompson Hall ist eher das Ziel, auf das zumindest eine Hälfte des Personals beständig entgegen aller Widerstände hinarbeitet. Vielmehr ist Anthony Trollopes Erzählung eine, die von Irrungen und Wirrungen im Zuge der Weihnachtsreise erzählt, deren hauptsächlicher Schauplatz gar nicht in England, sondern in einem französischen Hotel liegt.

Weihnachten auf Thompson Hall hat Charme, setzt dem Senfwickel ein eindrückliches Denkmal und ist ein vorzügliches Geschenk, das zu Ablenkung bei akut auftretenden Reisestress oder für eine vergnügliche Lektürestunde unter dem Weihnachtsbaum angeraten sei.


  • Anthony Trollope – Weihnachten auf Thompson Hall
  • Aus dem Englischen von Andrea Ott
  • ISBN 978-3-458-19492-7 (Suhrkamp)
  • 96 Seiten. Preis: 14,00 €
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Gladys Mitchell – Geheimnis am Weihnachtsabend

Weihnachten, Zeit der Traditionen. Egal ob Drei Nüsse für Aschenbrödel, Christmette oder andere liebgewonnene Rituale – einmal im Jahr kehrt pflegt man liebgewonnene Bräuche, seien sie mal besinnlicher oder mal eher blutig-brutal (Stichwort Stirb langsam).

Für jenen Graubereich zwischen den obigen Polen bietet der Klett-Cotta-Verlag seit einigen Jahren das Ritual eines Weihnachtskrimis der Marke Cozy Crime an.

Jedes Jahr im Herbst veröffentlich das Stuttgarter Verlagshaus einen klassischen Krimi britischer Provenienz, dessen Handlung sich um das Weihnachtsfest entspinnt und bei dem es zwar oftmals zu Mord und Totschlag kommt. Grausam ist das Ganze allerdings kaum, vielmehr laden diese Krimis aus dem Goldenen Zeitalter des Kriminalromans zum Miträtseln ein, haben zumeist Herrenhäuser zum Schauplatz und sinistre Gäste zum Personal und bieten damit sehr domestizierten Grusel zum Mitraten.

Wiederentdeckung einer vergessenen Autorin

Gladys Mitchell - Geheimnis am Weihnachtsabend (Cover)

Die Krimis tragen stets das Geheimnis im Titel und drehen sich mal um eine mörderische Familienzusammenkunft, mal um eine Spuklegende. In diesem Jahr beschert uns Klett-Cotta ein Geheimnis am Weihnachtsabend. Geschrieben wurde es von der 1901 geborenen britischen Schriftstellerin Gladys Maude Winifred Mitchell, die zeitlebens über fünfundsechzig Krimis verfasste, in denen Beatrice Adela Lestrange Bradley verzwickte Fälle löst.

Zu größerer Bekanntheit hat es für die Autorin hierzuland allerdings nicht gereicht. Umso schöner, dass man ein exemplarisches Werk aus ihrem Schaffen postum nun auch im Rahmen der Weihnachtskrimis hierzulande entdecken kann. „Dead Men’s Morris“ ist der siebte Band der Reihe, der 1936 erschien und der hier in der Übersetzung von Dorothee Merkel zum ersten Mal auf Deutsch vorliegt.

„Sind Sie nicht die Mrs. Bradley, die Psychoanalytikerin?“

„Das bin ich durchaus, oder war es zumindest, als Sigmund Freud noch in Mode war. Heutezutage bezeichnet man mich als Nerven- oder Irrenärztin.“

Gladys Mitchell – Geheimnis am Weihnachtsabend

Weihnachten in Oxfordshire

Ja, sie ist es wirklich. Mrs. Bradley hat sich in die Abgeschiedenheit Oxfordshires begeben, wo sie ihren Neffen Carey über die Weihnachtsfeiertage besuchen möchte. Dieser wohnt in der Nähe von Stanton St. John auf dem sogenanten Alten Hof, wo er einen experimentellen Schweinemastbetrieb leitet und nebenbei auch Porträts von hoher Güte zeichnet.

Schon die Anreise zum Hof gestaltet sich etwas schwierig – und dann kommt es, wie es bei einem Weihnachtskrimi natürlich kommen muss.

„Wie wär’s mit einer netten, gruseligen Spukgeschichte, Tante Adela?“

„Oder einem Vortrag über die gefährlichen Geisteskranken, die Ihnen so über den Weg gelaufen sind, Mrs. Bradley“, sagte Hugh mit einem Grinsen.

„Oder beides!“ sagte Denis mit vollem Mund. Er schluckte den Bissen hinunter und wischte sich das Fett von den Lippen. „Aber noch besser fände ich es, wenn es im Dorf einen echten Mord geben würde. So ein richtig toller Mord“, fuhr er voller Enthusiasmus fort, „damit sich das Weihnachtsfest auch lohnt. Was meinen Sie, Mrs. Ditch?“

Gladys Mitchell – Geheimnis am Weihnachtsabend

Dieser Wunsch geht tatsächlich postwendend in Erfüllung. In der Nacht des Heiligen Abends findet ein Freund Careys die Leiche eines betagten Anwalts in der Nähe eines Treidelpfades. Wollte er der Wahrheit hinter der Spuklegende eines Geists im benachbarten Sandford auf den Grund gehen – oder wurde er gezielt dorthin gelockt und es handelt sich in Wahrheit um einen geschickt durchgeführten Mord?

Die Spürsinn von Mrs. Bradley erwacht – und wenig später kommt es zu Ostern zu einem weiteren Tod, der wirkt, als habe ein Eber sein Opfer attackiert und getötet, ganz wie es die Legende vom Shotover Hill erzählt.

Doch Mrs Bradley mag den offensichtlichen Spuren nicht trauen – und auch der Tatverdächtige Nr. 1 ist für die Detektivin und Psychologin eine zu offensichtliche Wahl. Langsam versucht sie dem Täter auf die Spur zu kommen, auch wenn es bis zu dessen Ergreifung schon längst wieder Pfingsten geworden ist (womit man es strenggenommen eigentlich nicht wirklich mit einem reinen Weihnachtskrimi zu tun hat).

Ein klassischer britischer Krimi

Geheimnis am Weihnachtsabend bedient alle Vorgaben, die man an einen klassischen britischen Krimi stellt. Da ist ein stattliches Haus (hier eben der Alte Hof) mit Geheimgängen und einem Priesterversteck, da gibt es einen Haufen an Verdächtigen, da lässt Carey als Hausherr die üppigen Speisefolgen auftragen, indem er die Haushälterin herbeijodelt. Da wird abends im Schein des Kaminfeuers gespeist und geplaudert und mit Mrs. Bradley steht eine scharfsinnige Ermittlerin im Mittelpunkt, die sich nicht in die Karten blicken lässt und die am Ende des Romans zielsicher den oder die Täter*in überführt.

Dennoch hat mich der Weihnachtskrimi etwas unzufrieden zurückgelassen. Und das liegt meiner Ansicht nach am fehlenden Fleisch auf den erzählerischen Rippen, auch wenn das Buch im Milieu der Schweinezüchter spielt und die Beschreibung der Schweinemast einene überraschend großen Anteil an diesem Weihnachtskrimi einnimmt.

Auch wenn hier beständig aberdutzende Gänge zum Schmausen herbeigejodelt werden und die Schweine regelmäßig gefüttert werden, so gebricht es diesem Krimi doch an Sättigungswerten. Woran liegt es?

In meinen Augen ist das Personal des Krimis ein Grund, das voller Stellvertreterfiguren ist. Außer Namen und zugeschriebenen Funktionen bekommen die Figuren nämlich kaum Konturen, wodurch die Übersichtlichkeit gewaltig leidet. Linda Ditch, Mrs. Ditch, Mr. Ditch, Jenny, Fay, Hugh oder Priest. Sie alle erhalten zwar Namen, die Beziehunskonstellation untereinander aber bleibt knöchern und selbst Mrs. Bradley bekommt hier weder Tiefe noch besondere (kriminalistische) Merkmale, die über ihre Schläue und das charakteristische Meckern hinausgehen.

Dass Gladys Mitchell eine Vielschreiberin war, das merkt man diesem Buch leider deutlich an, wie ich finde. Aus diesem nun auf Deutsch veröffentlichten Buch allein erschließt sich der Reiz und die Besonderheit an den Ermittlungen von Mrs. Bradley nicht. So mag die Figur der schlauen Detektivin über mehrere Bände hinweg Kontur bekommen, Geheimnis am Weihnachtsabend alleine scheitert aber an der Aufgabe.

Alles wirkt hier etwas lieblos konstruiert und heruntergeschrieben, auch weil das nächste Buch schon darauf wartete, produziert zu werden. Dieser Eindruck drängte sich mir leider bei meiner vorweihnachtlichen Lektüre auf, wenngleich das Buch mit 432 Seiten über ein Drittel länger ist als alle anderen Weihnachtskrimis, der Klett-Cotta bislang aufgelegt hat. Der zusätzliche Spielraum wird hier leider nicht wirklich genutzt. Und auch die plötzliche Auflösung des Falls auf den letzten Seiten bleibt in der Luft hängen, verlangt doch die reichlich konstruierte Lösung fürs Mitraten tiegreifende Kenntnisse und Zitatsicherheit, was die Werke Shakespeares oder den Tod Thomas Beckets betrifft.

Fazit

So ist Geheimnis am Weihnachtsabend ein teilweise an Weihnachten spielenender Krimi, der seine Potentiale nicht ausschöpft und so eher im Gros dutzender anderer cosy Landhauskrimis stecken bleibt (auch wenn es wohl kaum einen anderen Krimi geben dürfte, in dem die Schweinezucht einen solchen großen und entscheidenden Raum einnimmt).

Würde es die Reihe der Weihnachtskrimis von Klett-Cotta nicht geben, hätte es dieses Buch sicherlich nicht mehr zu einer deutschen Übertragung geschafft, was auch kein allzu großer Schaden gewesen wäre.

Alles ist hier ein bisschen dröge gestaltet, die Figuren erhalten von der Autorin wenig, das über ihre bloßen Namen hinausreicht, die ermittelnde Heldin bleibt austauschbar und Auflösung passiert eher plötzlich . Dass Gladys Mitchell 65 Krimis mit ihrer Heldin Mrs. Bradley verfasste, merkt man diesem Buch an, auch wenn das 1936 erschienene „Dead Men’s Morris“ erst der siebte Band der Reihe ist. Aber mehr Tiefe und Tiefenschärfe der Figuren hätten Geheimnis am Weihnachtsabend gutgetan.

So ist dieser „Weihnachtskrimi“ leider kein Highlight. Auf dieses Buch unterm Weihnachtsbaum kann man verzichten, außer es handelt sich beim Beschenkten oder zu Beschenkenden um einen beinharten Fan britischer Landhauskrimis jeglicher Couleur.

Weitere Meinungen zu Geheimnis am Weihnachtsabend gibt es bei Andreas Kück, beim Beutelwolf-Blog und bei der Literaturwerkstatt kreativ.


  • Gladys Mitchell – Geheimnis am Weihnachtsabend
  • Aus dem Englischen von Dorothee Merkel
  • ISBN 978-3-608-98673-0 (Klett-Cotta)
  • 432 Seiten. Preis: 20,00 €
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Ralf Rothmann – Die Nacht unterm Schnee

Mit Nacht unterm Schnee liegt nun der Abschluss der autobiographisch grundierten Erzähltrilogie Ralf Rothmanns aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs vor. Darin tauchen viele Figuren auf, die man aus dem Rothmann’schen Erzählkosmos bereits kennt, allen voran der Melker Walter, das Alter Egos von Ralf Rothmanns Vater. Im Mittelpunkt des Romans steht aber die Ich-Erzählerin Luisa, die bereits in Der Gott jenes Sommers, dem Mittelteil von Rothmanns Triptychon, die zentrale Rolle spielte.

Nun, nach den Erlebnissen an der Heimatfront, hilft sie in der Nachkriegszeit in der Gaststätte ihrer Eltern in Kiel aus und macht die Bekanntschaft mit Elisabeth, deren bewegte Geschichte sich erst langsam ergibt. Die Klasse von Im Frühling sterben erreicht das Buch aber leider nicht.


Welch ein hehrer Wunsch, der Rothmanns Heldin Luisa umtreibt. Sie, die Halbwaise, will der Enge der elterlichen Schankstube im Hafen von Kiel entkommen, indem sie Bibliothekswesen studiert. In ihrer Jugend hat sie den Krieg und das Elend am eigenen Leib eindrücklich erfahren. Jetzt, in der Aufbruchszeit nach dem Weltkrieg erscheint ihr die Welt ganz offenzustehen. Sie verliebt sich, pflegt Affären und findet vor allem in der Person des Melkers Walter einen Seelenverwandten. Dieser ist mit Elisabeth verbandelt, der promiskuitiven Untermieterin von Luisas Mutter, die sie mit dem Führen der Kneipe beauftragt hat.

Walters ruhiges Wesen, sein Job als Melker auf einem Gut bei Missunde und sein Werben um Elisabeth faszinieren Luisa. Als Walter und Elisabeth Eltern des kleinen Wolfs (Rothmanns Alter Ego) werden, ziehen sie mit ihrem Kind ins Ruhrgebiet, wo Walter als Bergmann arbeiten wird. Doch der Kontakt zu den beiden reißt nicht ab und während sich Luisa in ihr Studium des Bibliothekswesens vertieft, geht auch das Leben des widersprüchlichen Paares im Ruhrgebiet weiter.

Vertrautes Personal, vertraute Geschichten

Um seine Geschichte zu erzählen, setzt Ralf Rothmann auf Altervertrautes. Abermals reißt er die Lebensgeschichte von Walter an, wenngleich die traumatischen Erlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg hier nur angedeutet werden. Auch Luisa ist Leser*innen der Trilogie vertraut. Noch immer liebt sie Bücher und macht jetzt ihre Leidenschaft zum Beruf.

Elisabeths Geschichte ist die, die nun im letzten Teil im Mittelpunkt steht. Ihre Erfahrungen aus dem Weltkrieg verbinden sich hier mit dem Nachkriegs-Porträt der Frau, zu deren Lebensmaximen nicht unbedingt Treue und Ehrlichkeit zählen.

Ralf Rothmann - Die Nacht unterm Schnee (Cover)

Nun ist Vertrautes und die stilistische Variation von Themen und Motiven in einem schriftstellerischen Oeuvre nichts, das man unbedingt bekritteln könnte. Wenn das Ganze dann aber eher zur Kopie und dem Pastiche der eigenen Werke wird, dann ist das für mich allerdings ein klarer Kritikpunkt. So könnte man über die erzählerischen Überlappungen der drei Bücher wirklich hinwegsehen, ergeben sich doch manchmal reizvolle Perspektivverschiebungen.

Aber gerade in der zweiten Hälfte von Die Nacht unterm Schnee hatte ich den Eindruck, dass Ralf Rothmann sein großartigen Ruhrgebietsroman Milch und Kohle einfach noch einmal geschrieben hat.

Die Beschreibung des Arbeitens der Bergleute unter Tage, ihre Kolonne auf dem Heimweg, die fremde Welt der Italiener im Pott, die biederen Abend mit der Suche nach Freiheit im staubigen Alltagstrott, die Enthemmung beim Tanz in der Kiezkneipe. All diese Beschreibungen bringt Ralf Rothmann nun auch in diesem Buch ein, das sich durch (zumindest in meinen Augen) nichts von dem bereits Erzähltem in seinem 2001 erschienenen Roman abhebt. Das ist schade, hätte es doch auch hier in Bezug auf Rothmanns eigene Kindheit im Ruhrgebiet noch vieles abseits der bekannten und schon auserzählten Bilder gegeben.

Fazit

So bleibt ein nicht wirklich überzeugendes Lesegefühl bei mir zurück. Natürlich sind die literarischen Talente Ralf Rothmanns unbestritten, auch hier kann er wieder unvergleichlich gut die dumpfe Enge der Ruhrgebietsstube mitsamt ihres Gelsenkirchener Barock oder die warme, dampfige Atmosphäre eines Kuhstalls schildern. Seine Beschreibungen des Melkhandwerks sind derart plastisch, dass man nach der Lektüre selber das Handwerk halb erlernt zu haben meint. Auch sind die Figuren wieder wunderbar gelungen.

Und doch ist mir da zu viel Bekanntes und bereits Erzähltes, das Rothmann hier einfach noch einmal aufbereitet, als dass ich das Gefühl habe, ein frisches Buch zu lesen, das mir einen neuen Blick auf Rothmanns Kindheit und das Nachkriegs-Deutschland erlaubt. Steigt man in den Erzählkosmos von Ralf Rothmann frisch ein, dann ist das Buch sicherlich ein Gewinn. Für Rothmann-Kenner*innen hingegen fehlt das Neue, kommt der Autor doch nicht über eine Variation bekannter Themen und Bilder hinaus.


  • Ralf Rothmann – Die Nacht unterm Schnee
  • ISBN 978-3-518-43085-9 (Suhrkamp)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
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Katherine Mansfield – In einer deutschen Pension

Käthe Beauchamp-Bowden, Schriftstellerin. Unter diesem Namen trug sich im Mai 1909 ein Gast ins Gästebuch einer Unterkunft in Bad Wörishofen ein, der später unter ihrem eigentlichen Namen Katherine Mansfield zu großer Bekanntheit gelangen sollte. Von jenem Ruhm war Mansfield zu jener Zeit allerdings weit entfernt. Nach einer überstürzten Heirat sollte sie schwanger eigentlich in einem bayerischen Kloster untergebracht werden. Doch die Neuseeländerin reiste weiter und bezog im Kurort Bad Wörishofen ein Zimmer, wo sie sich den Anwendungen von Pfarrer Kneipp unterzog und sich als genaue Beobachterin ihrer Umwelt erwies, wie die Kurzgeschichten zeigen, die nun unter dem Titel In einer deutschen Pension noch einmal in der Büchergilde Gutenberg aufgelegt wurden.


Dabei durchweht die Kurzgeschichten von Katherine Mansfield gerade in den ersten Geschichten ein starker Anklang an den Zauberberg von Thomas Mann. Sieche Kurgäste versammeln sich da zum Verspeisen von Kartoffeln und Sauerkraut, parlieren über deutsche und englische Gepflogenheiten, pflegen Vorurteile und prahlen oder bemitleiden sich wahlweise für die Anzahl ihrer Kinder. Ein Baron perfektioniert das asketische Knabbern an Salatblättern und die Schwester einer Adeligen tritt auf. Die Erzählerin ist dabei mitten im Geschehen und blickt mit Ironie und Distanz einer Engländerin auf das Treiben dort im Kurort, wo man auch schon einmal einen Professor beobachten kann, der auf der Posaune vor seinem Publikum brillieren möchte, was wirklich komisch dargeboten wird. Überhaupt der Humor, er verbindet Mansfield auch deutlich mit Thomas Mann, dessen Zauberberg in vielen Passagen ebenso witzig ist wie das Treiben in der deutschen Pension.

In diesem Augenblick kam der Briefträger, der wie ein deutscher Offizier aussah, und brachte die Post. Meine Briefe warf er in meinen Milchpudding, und dann wandte er sich an die Kellnerin und flüsterte. Sie verzog sich eilfertig. Der Geschäftsführer der Pension erschien mit einem kleinen Tablett, auf dem eine Ansichtskarte lag. Er trug sie zum Baron und verbeugte sich dabei ehrerbietig.

Was mich betrifft, war ich enttäuscht, dass nicht aus fünfundzwanzig Kanon Salut geschossen wurde.

Katherine Mansfield – In einer deutschen Pension, S. 20 f.

Studien ganz unterschiedlicher Menschen

Katherine Mansfield - In einer deutschen Pension (Cover)

Unter die komischen Beschreibungen des Treibens dort im Kurort sind aber auch einzelne Studien von ganz unterschiedlichen Menschen gemischt. Da ist Frau Brechenmacher, die an einer Hochzeit teilnimmt, welche wirklich nicht als fröhliches Fest bezeichnet werden kann (was die Illustrationen von Joe Villion gekonnt verdeutlicht). Da ist Andreas Binzer, der der Geburt seines Kindes entgegensieht (hoffentlich ein Junge, wie er sich erhofft) und dabei zwischen seiner Verachtung für Frauen und der eigenen Unruhe sowie jeder Menge Selbstmitleid munter changiert.

Vom Humor bleibt dann nichts mehr zurück, wenn man die Geschichte Das KIND-DAS-MÜDE-WAR liest, in dem von Überforderung, dem Nicht-Genügen der Mutterrolle und einer potentiellen Kindstötung liest. Hier zeigen sich auch nur wenig kaschiert die Themen, die Katherine Mansfield während jenes Aufenthaltes als Käthe Beauchamp-Bowden in Bad Wörishofen 1909 umgetrieben haben müssen.

Das macht aus den im Buch beschriebenen Themen eine Lektüre, die auch über 110 Jahre später noch nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Die Last der Mutterschaft, die ungleich verteilten Rollen in der Gesellschaft, die Überforderung und mangelnde Anerkennung, das alles schwingt in Mansfields Geschichten mit und zeigt die Entwicklungen der Autorin weg von den Humoresken und spöttischen Betrachtungen hin zu einem fast schmerzlichen Realismus.

Kurzgeschichten und eine biographische Skizze

Illustration aus "In einer deutschen Pension" von Katherine Mansfield
Illustration von Joe Villion aus dem Inneren des Buchs

Das Ganze wird von einer biographischen Skizze von Elisabeth Schnack ergänzt, die auch die Übersetzung aus dem Englischen besorgte. Darin erzählt sie vom Leben Katherine Mansfields, ihren Themen und Konflikten und bettet so die zuvor gelesenen Kurzgeschichten in einen größeren Kontext ein.

Dabei merkt man sowohl in der Übersetzung in einigen Formulierungen (beispielsweise jemanden an die Kandare nehmen) als auch in der biographischen Skizze selbst, dass diese Ausgabe der Deutschen Pension nicht mehr ganz taufrisch ist und sich seit dem erstmaligen Erscheinen dieser Ausgabe im Jahr 2013 und der jetzigen Auflage hinsichtlich der Sensibilisierung für weibliches Schreiben und der Nicht-Kanonisierung einiges passiert ist, etwa durch Nicole Seiferts Buch Frauen Literatur oder Prosaische Passionen, dem Kanonisierungsversuch weiblicher Short-Story-Autorinnen aus diesem Jahr, in dem sich auch Katherine Mansfield wiederfindet.

So oder so leistet der Band aber gute Arbeit, um eine der prägenden weiblichen Stimmen aus den Anfangstagen des 20. Jahrhundert erneut literarisch und auch künstlicher zu entdecken. Schön, dass das Buch noch einmal neu aufgelegt wurde und gerade in dieser Zeit, in der das öffentliche Interesse auch verstärkt dem (vergessenen) weiblichen Schreiben gilt, hoffentlich für Aufmerksamkeit sorgt.

Fazit

All die Themen, die die feministisch geprägte Literatur in diesen Tagen verhandelt, sie finden sich auch schon in Katherine Mansfields Kurzgeschichten angelegt. So bieten die Erzählungen einen großen Bogen von ironischen Kurbeschreibungen und einem heiteren Blick auf das schrullige Kurpersonal bis hin zu abgründigen Erzählungen von Mutterschaft und Überforderung in der Gesellschaft. Das alles macht in Verbindung mit den künstlerisch gelungenen Illustrationen Joe Villions aus In einer deutschen Pension eine spannende Lektüreerfahrung, die Mansfields künstlerisches Schaffen noch einmal neu oder wiederentdecken lässt.


  • Katherine Mansfield – In einer deutschen Pension
  • Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Elisabeth Schnack
  • Büchergilde Gutenberg. Artikelnummer 174162
  • 280 Seiten, 21 Illustrationen. Preis: 26,00 €

Titelbild: Via Openverse von Kaïopai°, lizenziert unter CC BY-NC 2.0

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Castle Freeman – Ein Mann mit vielen Talenten

Was würden Sie sich wünschen, hätten Sie die berühmten drei Wünsche frei? Taft, der eigenwillige Held von Castle Freemans Roman Ein Mann mit vielen Talenten hat da gleich als erstes einen ebenso konkreten wie unkonventionellen Wunsch: vier neue Radkappen für seinen Pick-Up sollen es sein. Doch wer sich einmal mit dem Teufel einlässt, der wird ihn nur schwer wieder los – selbst wenn man im Hinterland von Vermont wohnt.

Faust in den Wäldern Vermonts

Dabei beginnt in Castle Freemans Erzählung aus dem Jahr 2015 alles schon sehr rätselhaft. Ein Mann namens Dangerfield wird in seinem Auto von einer jungen Polizistin angehalten. Es entwickelt sich ein Rededuell – doch als die Polizistin die Daten des Mannes überprüfen will, ist dieser spurlos verschwunden.

Dafür taucht er daraufhin bei Taft auf. Dieser ist ein Eigenbrötler reinsten Wassers. Abgeschieden lebt er in einem Tal von Vermont, wo er mit Vorlieben mit seinen wenigen Freunden palavert und die Tage gerne im Schaukelstuhl verbringt.

Doch mit der Ruhe im Tal ist es nicht weit her, als Dangerfield als Teufel im Tal (so der Originaltitel des Buchs) auftaucht. Dieser macht ihm ein verlockendes Angebot, das Taft nicht ablehnen kann. Sechs Monate sollen alle Wünsche und Anliegen des Mannes erfüllt werden, danach gehört seine Seele Dangerfields Boss, dem Chief – dem CEO – wie er sich auszudrücken pflegt. Auf Drängen von Taft werden aus den sechs Monaten sieben – mit Stichdatum 12. Oktober, dem Columbus Day.

Seine neugewonnene Macht setzt Taft nun ein, um Schulden zu tilgen und unheilbare Krankheiten von Kindern zu kurieren. Er entwickelt sich zum titelgebenden Mann mit vielen Talenten, was auch Tafts Freunden nicht verborgen bleibt. Und auch Calpurnia, einer hochbetagten aber geistig regen Dame im lokalen Altenheim entgehen Tafts neue Talente keineswegs. Sie wird sich auf besondere Weise für den Eigenbrötler einsetzen.

Eine neue Bearbeitung des Faust-Mythos

Castle Freeman - Ein Mann mit vielen Talenten (Cover)

Im Kern ist Ein Mann mit vielen Talenten eine weitere Bearbeitung des alten Faust-Mythos, die Castle Freeman hier präsentiert. Der Mann, der dem Teufel seine Seele verkauft, um sich Unmögliches doch noch zu erfüllen, dieses Motiv reicht von der bayerischen Version des Boandlkramers und des Brandner Kaspar (Franz von Kobell) bis hin zu Goethe und Christopher Marlowe. Dass ein Zitat aus dessen Faust-Dichtung von 1604 den Auftakt des Buchs bildet, das erscheint nur logisch, so konsequent wandelt Freeman auf diesen Spuren.

Schon seine Krimis rund um den Sheriff Lucian Wing (hier zuletzt Herren der Lage) zeigen einen Autor, der das Skurrile schätzt und dessen Thriller zwischen Komik, Ernst und viel Lokalkolorit aus dem Vermonter Hinterland oszillieren. Dadurch erschrieb sich Freeman eine wachsende Fangemeinde, die sich schließlich auch im Wechsel vom kleineren Nagel & Kimche-Verlag hin zum renommierten Hanser-Verlag manifestierte.

Komik und pointierte Dialoge

Diese Mischung aus Ernst und Komik, versehen mit trockenen und pointierten Dialogen, sie zeigt sich auch in Ein Mann mit vielen Talenten. Hier gelingt es Freeman, den eigentlich recht grotesken und abenteuerlichen Plot um den Seelenhandel von Taft und Dangerfield stringent im Hinterland von Vermont zu inszenieren.

Großartig die Zwiegespräche von Taft und Dangerfield, der ganz als Mephistopheles’scher Geist für andere unsichtbar Taft Dinge eingibt und zuflüstert. Wie Taft diesen dritten Part in Gesprächen mit anderen kaum kaschieren kann, das fasst Castle Freeman gekonnt in Worte, von denen er gar nicht viele braucht, um die Charaktere zu setzen (typisch auch für Freeman die Kürze seiner Geschichten. Diese hier umfasst nur 184 Seiten).

Egal ob die greise aber hellwache Calpurnia im Altersheim, Taft im Gespräch mit dem Geist, der stets verneint, oder die kurzen Szenen mit der jungen Polizeioffizierin. Castle Freeman gelingt eine gewitzte, kurzweilige und besonders in den Dialogen pointierte Neudeutung des alten Fauststoffs.

Fazit

Das passt zur aktuell grassierenden Debatte rund um die Abschaffung des Goethe’schen Faust, der in Bayern nun als verpflichtende Schullektüre von den Lehrplänen gestrichen wurde. Mit Castle Freeman hält man eine neue und moderne Interpretation des Stoffs in den Händen, die zwar auf gar keinen Fall Goethes Epos ersetzen kann, will oder sollte – aber eine gelungene Hinführung auf den Klassiker darstellen kann. Insofern eine Empfehlung auch für diejenigen, die mit Thrillern und Krimierzählungen wenig anfangen können und die hier Castle Freeman außerhalb seines üblichen Schaffens kennenlernen können.


  • Castle Freeman – Ein Mann mit vielen Talenten
  • Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
  • ISBN 978-3-446-27075-6 (Hanser)
  • 184 Seiten. Preis: 20,00 €
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