Lucy Fricke – Die Diplomatin

Kann die Diplomatie die Welt zum Besseren wenden oder gar überhaupt etwas bewirken? Diese Frage, die gerade angesichts von Krieg und angestrebten Friedensverhandlungen so aktuell wie drängend ist, sie beschäftigt auch Lucy Fricke in ihrem neuen Roman Die Diplomatin (zuletzt von ihr der mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnete Roman und jüngst verfilmte Töchter).

In ihrem neuen Buch schickt sie die Diplomatin Fred in den auswärtigen Dienst und lässt sie an den herrschenden Verhältnissen verzweifeln. Großartig geschriebene und mehr als relevante Literatur in diesen Tagen.


Fred hat sich mit Ironie und Abgeklärtheit gegen die Unzulänglichkeit des diplomatischen Dienstes gewappnet. Sie wurde nach Urugay abgeordnet, 16 Flugstunden von Deutschland entfernt, wo sie Deutschland repräsentieren und nach außen wirken soll.

Es hieß, der Minister persönlich habe mich nach oben geschossen. Mit Ende vierzig ein Posten als Botschafterin, das galt bei uns als kleine Sensation. Es hieß auch, es gebe kaum genügend kompetente Frauen, um die Quote zu erfüllen. Endlich das richtige Geschlecht, dachte ich. Nach jahrzehntelangen Kämpfen und fast zwanzig Jahren im Amt endlich den Nachteil zum Vorteil gekehrt. Ausgerechnet ich: Tochter einer alleinerziehenden Kellnerin, aufgewachsen in einem Hamburger Arbeiterviertel , zu einer Zeit, in der es solche Begriffe noch gab.

Lucy Fricke – Die Diplomatin, S. 13

So etwas wie Freunde gibt es selten im Auswärtigen Amt. Mit Philipp, einem langgedienten Kollegen, verbindet sie so etwas, das man als Freundschaft bezeichnen könnte, ansonsten ist es gerade mal die sporadische Konversation mit ihrer Mutter, die Fred in ein soziales Netz einfügt. Sie ist ledig, flexibel und versucht sich, den entsprechenden Gegebenheiten vor Ort anzupassen. In Urugay bedeutet das, Grillwürstchen für Feierlichkeiten am 3. Oktober zu organisieren, in Fragen wie Livemusik oder Hymne vom Band zu entscheiden, und sonst nicht viel Staub aufzuwirbeln. So recht gelingt es ihr allerdings nicht, denn als eine deutsche Touristin vor Ort verschwindet, erhält die glänzende Karriere von Fred einen ersten Kratzer, vor allem da die Mutter der Touristin über Einfluss und Macht verfügt.

Von Urugay nach Istanbul

Sie findet sich in Istanbul wieder, einer Stadt die sie überfordert, vor allem angesichts der herrschenden politischen Verhältnisse. Journalisten und Oppositionelle werden in Scheinprozessen verurteilt, der Vorwurf der „Terrorpropaganda“ findet geradezu inflationär Anwendung, wenn es darum geht, missliebige Personen des öffentlichen Lebens unschädlich zu machen. Das bekommt Fred als Konsulin aus nächster Nähe zu spüren, als sie sich für eine inhaftierte deutsch-kurdische Kuratorin und deren Sohn einsetzt.

Meral, eine deutsch-kurdische Kuratorin, eine Kunsthistorikerin, die brillante Texte verfasste und bekannt dafür war, in ihren Ausstellungen alles zu zeigen, aber nichts offen zu sagen.

Meral war ein leerer Raum, in dem sich die Welt zum Tee getroffen und jeder etwas zurückgelassen hatte, manche auch Bilder. Bilder, die die hiesige Regierung nicht sehen wollte, deren bloße Existenz schon als Attacke galt. Eine verbotene Flagge, ein geleugnetes Massaker, eine Wirklichkeit, die kein Zeugnis duldete. Wenn man dieses auch noch gerahmt präsentierte, wurde aus Kunst Terrorpropaganda.

Lucy Fricke – Die Diplomatin, S. 89

Hier in Istanbul bekommt Fred ihre eigene Ohnmacht und politische Wirkungslosigkeit in aller Härte vor Augen geführt. Der Staat verbittet sich Einmischungen von außen, außer einem Kunstmagazin oder anderen Kleinigkeit darf Fred nichts zu den Inhaftierten mitbringen, sich nicht in den Prozess einmischen, nur im Zuschauerraum den Prozessen beiwohnen. Ein Sinnbild für ihr ganzes politisches Wirken in der Türkei, bei dem sie gefühlt ständig auf der Ersatzbank sitzt und zum Zuschauen verdammt ist.

Von der Hilflosigkeit der Diplomatie

Lucy Fricke - Die Diplomatin (Cover)

Ihre eigene Hilflosigkeit als ranghohe Diplomatin bekommt sie hier eindrücklich vor Augen geführt. Im Angesicht von politischer Willkür, staatlichen Übergriffigkeiten, Regellosigkeit und Unterdrückung gibt es für die Diplomatin wenig zu gewinnen. Und dennoch mag sich Fred nicht mit ihrer Ohnmacht begnügen, was zu einer waghalsigen Aktion führt, die so vom diplomatischen Protokoll sicherlich nicht gedeckt ist. Hier zeigt sich, dass Diplomatie auch manchmal ein Kampf mit den eigenen Werten und Überzeugungen sein kann, bei dem sich Fred gegen ihre eigenen Vorschriften und Verhaltensweisen stellt, um das Richtige zu tun.

Aber auch über diese Aktion hinaus wirft Lucy Frickes Buch viele Fragen auf, die so aktuell wie wohl nie sind. Welchen Sinn hat die Diplomatie, wenn Staatenlenker sich ihr verschließen und lieber auf Willkür und Oppression setzen? Was kann ein einzelner Mensch als Repräsentant eines Staates überhaupt bewirken? Zeigt Die Diplomatin und die aktuellen Geschehnisse nicht ganz deutlich unsere westliche Hilflosigkeit gegenüber Despoten und Diktaturen auf? Ergibt es Sinn, auf die Kraft der Diplomatie zu setzen, wenn sich andere ihr verschließen?

Fragen an uns und unsere Demokratie

Die Aktualität ihres Buch dürfte Lucy Fricke so nicht vorhergesehen haben, aber selbst wenn man die augenfälligsten Entwicklungen in der Ukraine und Russland ausblendet, bleibt Die Diplomatin immer noch ein mehr als relevantes Buch, das uns und unserer Demokratie unbequeme Fragen stellt. Wie umgehen mit Staaten wie der Türkei, im Angesicht von Schauprozessen gegen Osman Kavala, Deniz Yücel oder Meşale Tolu? Wie können wir auf Staaten einwirken, die Presse- und Meinungsfreiheit drastisch einschränken und freien Journalismus beschneiden und zensieren?

Für Die Diplomatin spricht in meinen Augen, dass nach der Lektüre alle diese Fragen in meinem Kopf umhergeisterten und von billigen Antworten oder Antwortversuchen im Buch jede Spur fehlt.

Verlockt auch der tückische Anfang mit seiner sonnendurchfluteten Ironie und Bonmot-getränkten Coolness auf falsche Fährten, ändert sich spätestens mit dem Verschwinden der Touristin und dem neu ansetzenden türkischen Erzählteil in diesem Roman alles. Lucy Fricke gelingen ganz unterschiedliche Teile, die ihre Nahaufnahme von politischem Wirken im Ausland und die in ihrer Abgeklärtheit und gleichzeitigen Hilflosigkeit bestechend gelungene Ich-Erzählerin Fred.

Ähnlich wie etwa Nora Bossong in Schutzzone oder Robert Menasse in Die Hauptstadt (und dankenswerterweise nicht so wie Sönke Wortmann) erzählt Lucy Fricke von Menschen, die Politik machen oder die vielleicht auch von der Politik gemacht werden. Ihr gelingt ein Buch, das man wohl auch mit der Phrase des „Buchs der Stunde“ beschreiben könnte, wäre dieser Termins nicht schon so abgenutzt und schal geworden. Die Diplomatin ist glänzend geschrieben, gesellschaftlich und politisch höchst relevant, vereint Ambition und Position und ist eines jener Bücher, aus denen man seitenweise zitieren möchte.

Fazit

Für mich ist das Literatur, wie ich sie mir wünsche. Engagiert, mit einem genauen Blick auf die (politischen) Verhältnisse und noch dazu literarisch überzeugend mit einer Heldin im Mittelpunkt, die sich mit Ironie und Distanziertheit gegen die Unzulänglichkeiten der Welt gepanzert hat, und die doch feststellen muss, dass die Lage der Welt empfindliche Löcher in diesem Panzer verursacht hat. Aktueller war gute Literatur in letzter Zeit selten.


  • Lucy Fricke – Die Diplomatin
  • ISBN 978-3-546-10005-2 (Claassen)
  • 256 Seiten. Preis: 22,00 €
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Arne Dahl – Null gleich eins

Ist es wirklich der letzte Teil der Reihe? In Null gleich eins gibt Arne Dahl dem Affen richtig Zucker und lässt das Ermittlerduo Berger/Blom und die Polizistin Desiré „Deer“ Rosenkvist auf den Spuren eines gerissenen Serientäters noch einmal zu Hochform auflaufen. Ein komplexer Thriller, zwar hanebüchen, aber durchaus spannend und besonders für alle Fans der Serie Die Brücke ein echter Leckerbissen.


Viermal durften Sam Berger und Molly Blom bislang ermitteln. Ein Kind haben die beiden inzwischen, dafür hat im letzten Fall (Vier durch vier) die den Privatermittlern verbundene Polizistin Deer Rosenkvist beide Beine verloren.

Ein Mörder in den Schären

Arne Dahl - Null gleich eins (Cover)

Zwar wurde sie operiert, der Genesungsprozess zieht sich allerdings hin. Und auch wenn sie noch etwas gehandicapt ist, hat Deers Spürsinn nicht gelitten. Sie kommt einer ganzen Reihe von Toten auf die Spur, die immer am 5. des Monats an einem Tatort in den Schären aufgefunden werden. Doch ihre Ermittlungen werden von ihrem Vorgesetzten unterbunden, woraufhin sie sich verzweifelt an Berger und Blom wendet, denn der nächste 5. Tag im Monat naht mit großen Schritten. Und während Deer für ihren Vorgesetzten nun im Fall eines mit einer Axt ermordeten Ex-Mitglied der Hells Angels ermitteln muss, verzweifeln auch Berger und Blog am gerissenen Mörder:

Sie jagten einen Mann, der aus unerklärlichen Gründen an jedem Fünften eines Monats einen nicht identifizierbaren Menschen ermordete und die Leichen an Stränden ablegte, die alle ähnliche Parameter erfüllten. Er tötete sie an einem anderen Ort – aller Wahrscheinlichkeit nach an immer demselben – und transportierte sie dann in einem Wagen und einem Schlauchboot an den jeweiligen Fundort. Es sprach einiges dafür, dass er immer denselben Wagen verwendete und lediglich die Kennzeichen austauschte. Leider wurde es immer unwahrscheinlicher, diesen Wagen zu finden.

(Arne Dahl – Null gleich eins, S. 133)

Das Streben nach dem ewigen Leben

Die Leichen nicht zu identifizieren, der Mörder, der ein Spiel mit falschen Fährten treibt und ein Geheimnis aus der Vergangenheit, das alle Morde doch miteinander verbindet. Aus diesen Grundzutaten strickt Arne Dahl seinen komplexen Plot, der Fans der Serie Die Brücke oder ähnlicher vielschichtigen skandinavischen Krimikost mehr als zufriedenstellen dürfte. Nach Themen wie Menschenhandel oder globaler Sicherheitspolitik ist es diesmal das Thema des Alterns und des ewigen Lebens, das die Grundlage von Null gleich eins bildet.

Vieles in diesem Buch ist Zufall, nicht plausibel hergeleitet, unwahrscheinlich oder gnadenlos überzogen. So ist es etwa ein Banker, der Deer noch Gefälligkeiten schuldet, der dann gleich in die Geschäftsbücher gut abgeschirmter sogenannter LLC-Firmen in Delaware blicken kann, woraufhin die Spur wieder nach Schweden führt. Dort hat die Firma eine Immobilie angemietet, in die Deer dann einbricht, wo sie kurz vor der Entdeckung durch einen Mann steht, der dann aber gleich wieder selber ermordet wird. Das ist natürlich alles in seiner Kausalität furchtbar an den Haaren herbeigezogen – genauso wie die Tatsache, dass Berger und Blom als Zivilisten im Polizeipräsidium Befragungen durchführen dürfen, weil es eine Ausnahme im Gesetzbuch plötzlich erlaubt, wenn es dem Plot dienlich ist. Und doch ist das Buch aufgrund seines schnellen Takts hochspannend, springt zwischen den Ermittlern und dem Mörder hin und gibt ab der ersten Seite ständig Gas und beschleunigt.

Fazit

Wer Krimis vor allem für ihren Realitätsgehalt schätzt und Logiklöcher großzügig umfährt, der wird hier sicher nicht glücklich. Für alle andere Skandinavien-Affine und Arne Dahl-Fans im Speziellen ist Null gleich eins aber ein echter Pageturner, bei dem am Ende die Frage bleibt, ob es das nun wirklich war mit der Reihe um Berger, Blom und Rosenkvist. Oder kommt da etwa doch noch etwas? Ich wäre weiterhin dabei.


  • Arne Dahl – Null gleich Eins
  • Aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps
  • ISBN 978-3-492-05929-9 (Piper)
  • 464 Seiten. Preis: 17,00 €
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Natalie Buchholz – Unser Glück

Wohnen ist vielerorts zum Luxusgut geworden. Gerade in Metropolregionen lässt die alte Regel, dass die Miete maximal 1/3 des Einkommens betragen sollte, viele Menschen nur noch müde lächeln. Die Gentrifizierung greift um sich, Wohnraum ist knapp – und so herrscht in Sachen Wohnungssuche gerade für Familien oftmals ein Verdrängungswettbewerb, der diese ins Umland zwingt.

So ist das Schicksal von Coordt und dessen Frau Franziska in Natalie Buchholz‚ zweitem Roman Unser Glück ein geradezu archetypisches, das viele Leserinnen und Leser aus eigener Erfahrung kennen dürften.

Zusammen mit ihrem Kleinkind Frieder wohnt das Paar in für die Familie eigentlich viel zu kleinen Wohnverhältnissen. Gerade ihre Stadt München ist ja ein Sinnbild für exzessive Mietpreise und Verdrängungspolitik geworden. Das haben auch die beiden schon zu spüren bekommen. Mit einem Einkommen und einem Kind ist es quasi unmöglich, zentrumsnah und bezahlbar zu wohnen. Doch nun könnte den Dreien aber ein Sechser im Lotto bevorstehen:

Das Objekt ist bis in den kleinsten Winkel lichtdurchflutet. Hundertzwanzig Quadratmeter, vier große Zimmer, ein Bad, Keller, Ostbalkon. Gut erhaltenes Fischgrät-Eichenparkett, Stuckverzierungen in jedem Raum, Marmorboden im Bad und in der Küche, Kassettentüren mit Originalbeschlägen.

Natalie Buchholz – Unser Glück. S. 15

Das Ganze ist fast zu schön um wahr zu sein. Ein bezahlbarer Preis, eine luxuriöse Wohnung, noch dazu in bester Lage in Schwabing. Allerdings offenbart die Vermieterin Coordt bei der Besichtigung schon einen Haken, den die Sache hat. Denn in einem Raum der Wohnung wohnt ihr Ex-Mann namens Bobo. Dieser hat ein Bleiberecht, lebt allerdings aufgrund einer schweren Krankheit völlig zurückgezogen. Und obwohl Coordt nach einer Begegnung bei der Besichtigung ein schlechtes Gefühl hat, bekommen Franziska und er trotzdem die Wohnung zugesprochen und sie ziehen ein.

Ein unmoralisches Angebot

Natalie Buchholz - Unser Glück (Cover)

Alles scheint perfekt- doch Coordt kann dem Frieden nicht ganz trauen. Das Wissen um die Anwesenheit des Untermieters raubt ihm seine innere Ruhe. Und dann macht jener Bobo dem Paar auch noch ein unmoralisches Angebot. Da er die Wohnung in der Zwischenzeit gekauft hat, will er diese nach seinem bald bevorstehenden Tod an Franziska und Coordt übereignen. Seine Bedingung hierfür: Coordt muss ausziehen und darf seine Familie nur außerhalb der Wohnung treffen und sich auch nicht in Sichtweite dieser aufhalten. Zudem soll Franziska Bobo bis zu seinem Tod pflegen. Dafür wird ihnen nach dem Tod diese Wohnung gehören, die sie sich als Familie niemals leisten könnten. Andernfalls würde er auf Eigenbedarf klagen und die junge Familie aus der Wohnung werfen.

In der Folge beobachtet Natalie Buchholz Franziska und Coordt – und was die mögliche Entscheidung mit ihnen macht. Soll Coordt das geteilte Heim und damit seine Familie in der bisherigen gekannten Form aufgeben, um bald selbst Wohnungsbesitzer einer Traumimmobilie zu sein? Oder beginnt die Odysee der Wohnungssuche in München erneut und seine junge Familie steht auf der Straße?

Eine weitreichende Entscheidung

Eine solche Entscheidung, über die man vor 15 Jahren wahrscheinlich noch geschmunzelt hätte, ist mittlerweile tatsächlich zu einer mehr als ernsthaften Angelegenheit geworden. Krankenhausabteilungen müssen schließen, weil sich das Personal in der Umgebung keine Mieten mehr leisten kann (etwa in München die Haunersche Kinderklinik), Feuerwehren und andere Einrichtigungen wie Kindergärten stehen vor dem selben Problem. Medienberichte über die Wohnungsnot sind analog zu den steigenden Preisen in der Baubranche geradezu inflationär, beschäftigen Mieter*innen jeglicher Couleur – und die Politik findet keine Lösungen. Dieses Versagen in Sachen bezahlbarem Wohnraum wird in Unser Glück eindringlich vor Augen gefühlt und aus Betroffenen-Perspektive illustriert.

In geschmeidige Sprache gekleidet erzählt Natalie Buchholz von den Kräften, die nun auf das Paar einwirken. Zunehmendes Misstrauen in der eigenen Beziehung, Druck von Außen, um Einkommen, Stabilität und sozialen Status und weiterhin gewährleisten zu können sind nun Fragen, mit denen sich das junge Paar beschäftigen muss. Nachvollziehbar schildert Buchholz aus der Sicht von Coordt die Gedanken und Überlegungen, die ihn vor allem nach Bobos Forderung befallen und nicht mehr loslassen – und schließlich zu einer weitreichenden Entscheidung führen.

Fazit

Und auch wenn man trefflich darüber streiten kann, wie die Lösung der beiden zu bewerten ist und wie man sich selbst angesichts dieses Dilemmas positionieren würde, bleibt festzuhalten, dass Natalie Buchholz einen eindringlichen Roman über eines der größten Probleme unserer Tage geschrieben hat. Unser Glück verhandelt die Frage, wie weit man für bezahlbares Wohnen gehen würde. Auf der Höhe der Zeit, packend erzählt und frei von einfachen Antworten.


  • Natalie Buchholz – Unser Glück
  • ISBN 978-3-328-60188-3 (Penguin)
  • 224 Seiten. Preis: 20,00 €
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Annika Büsing – Nordstadt

Liest man insbesondere Coming of-Age Romane, egal ob von Ewald Arenz, Una Mannion oder Peter Richter, so gibt es unweigerlich immer eine Szene, in der die jugendlichen Protagonist*innen nächstens in das örtliche Schwimmbad einsteigen und zumeist mit billigem Alkohol munitioniert in den Becken planschen, ehe gerne Polizei oder Bademeister auftauchen, um dem Treiben ein Ende zu machen. Als Motiv mittlerweile ziemlich überstrapaziert scheint es für Autor*innen aktuell eine magische Anziehungskraft des Schwimmbads zu geben. Auch in Annika Büsings Roman kommt dem Schwimmbad eine tragende Rolle zu, allerdings in etwas anderer Rolle als bei oben genannten Autor*innen.

Wo bei anderen Schreibenden das Schwimmbecken ein Ort des domestizierten Nervenkitzels, der Gefahr und der Erotik ist, da liegt bei Annika Büsing der Fall anders. Sie erzählt in ihrem Debüt Nordstadt eine Liebesgeschichte, die sich im Schwimmbad entspinnt, geht aber deutlich weiter, als es bei allen braven Adoleszenz-Erinnerungen anderer Autor*innen der Fall ist. Wenn jene Bücher den Nichtschwimmerbereich markieren, dann ist Annika Büsings Roman der Schwimmerbereich. Verlockend, manchmal etwas trügerisch und mit deutlich mehr Tiefe als so manch anderer Roman. Und das, obwohl das Buch doch eigentlich nur gute 120 Seiten umfasst.

Ein Leben in der Nordstadt

Ich will erzählen, wie ich ihn getroffen habe. Ich habe ihn im Schwimmbad getroffen. Bei meiner Arbeit. Ich bin Bademeisterin in einem Schwimmbad. Das Schwimmbad liegt am Stadtrand, an dem Rand, der nicht so schön ist, das ist in meiner Stadt im Norden. Ich habe mal gelesen, dass in vielen Städten der soziale Brennpunkt im Norden liegt und nicht im Süden. Woran das liegt, stand nicht dabei.

Annika Büsing – Nordstadt, S. 6

Ihn, das ist Boris. Er kommt eines Tages in das Schwimmbad, in dem Nene als Bademeisterin arbeitet. Sie leiht Boris ein Schwimmbrett, das er sich von ihr erbittet. Andere Bademeister sind deutlich strikter, was den Verleih der Bretter angeht, Nene lässt jedoch mit sich reden. Boris leidet an Kinderlähmung und versucht im Wasser seine missgebildeten Beine zu trainieren. Zwischen den beiden Figuren entspannt sich eine Liebesgeschichte, die so unkonventionell ist wie die Filme, die sie sich für ihre Kinodates aussuchen (John Wick, Fast & Furious 7, American Sniper etc.).

Man sollte sich dabei allerdings nicht von dem Label der Liebesgeschichte blenden lassen. Denn Nordstadt ist keine Liebesgeschichte. Und doch ist es eine Liebesgeschichte. Es ist eine Geschichte, die von Vernachlässigung, Missbrauch, Armut, Gewalt und sozialer Ausgrenzung erzählt, aber eben auch von Liebe, die hier Nene und Boris zusammenbringt.

Eine widerständige Romanze

Annika Büsing - Nordstadt (Cover)

Dieses Zusammenbringen gestaltet sich aber schwierig. Denn weder Nene noch Boris haben eigentlich die Absicht, jemanden in ihr Leben zu lassen. Nene, Anfang zwanzig, hat mit ihrem Vater gebrochen. Lediglich zu ihrer Halbschwester Alma hält sie den Kontakt. Der Job im Schwimmbad gibt ihr Halt und Stabilität. Und Boris ist das Gegenteil von Stabilität. Er lügt, will keine fremde Hilfe annehmen, leidet unter den Auswirkungen der Entscheidung seiner Mutter, einer Impfgegnerin, ihr Kind nicht gegen die Kinderlähmung impfen zu lassen. Und so etwas wie ein Job ist eh nicht in Aussicht.

Sie sind beide nicht auf der Suche, und doch fassen sie Zutrauen zueinander. Der Ausleihe des Schwimmbretts folgen dann Kinodates – und langsam lassen sie beide den anderen etwas an ihrer Seelenlage teilhaben. Eine widerständige Romanze nimmt ihren Beginn, die aus dem Schwimmbad bis in die Straßen der Nordstadt führt.

Eine Liebes- aber auch Leidensgeschichte

Neben der anschaulichen Schilderung des prekären sozialen Milieus berührt vor allem die Leidensgeschichte von Nene. Dem Buch ist eine Triggerwarnung vorangestellt, die vor den enthaltenen Schilderungen von körperlicher und sexualisierter Gewalt warnt- und tatsächlich ergibt die Warnung hier Sinn. Denn Annika Büsing schildert in einem expliziten Sound die Leiden von Nene, die die Ich-Erzählerin erfuhr. Ein prügelnder Vater, Blutergüsse am Körper, Jugendamt und Wohngruppe und dann wieder zurück zum Vater. Eine Vergewaltigung im Alter von 17 Jahren folgt und traumatisiert die junge Frau weiter – kein Wunder, dass sie sich nur langsam auf Boris einlassen kann und ihn an ihrem Leben teilhaben lässt. Die Leidensgeschichte ist hier ebenso präsent wie die Liebesgeschichte.

Ungeschönt und explizit in der Sprache, das zeichnet Nordstadt aus. Weder in sozialen Fragen noch in der Schilderung von Traumatisierung hält sich Annika Büsing zurück. Auch der Tod spielt eine Rolle, der immer wieder auch unerwartet in Nenes Lebens einbricht, etwa wenn eine betagte Schwimmerin plötzlich tot an Nenes Arbeitsplatz zusammenbricht.

Und doch gelingt es der Debütantin, ein zartes Buch zu kreieren, das neben vielem Schlimmen auch von der Liebe erzählt, die sich unerwartet offenbart und die manchmal die Rettung sein kann. Sie scheut sich nicht, Begehren in Worte zu fassen und entwickelt für ihre Heldin einen unangepassten, manchmal rotzigen und bisweilen sehr dem Mündlichen abgelauschten Ton. Auch ist Nordstadt voll von literarischen Stilmitteln und Kunstgriffen wie scheinbar endlosen, durch „und“ verbundene Satzgebilde, Reihungen oder Rhythmisierungen. Ebenso unkonventionell wie die Romanze ist auch die Struktur des Textes selbst, da Nene immer wieder in ihren Erinnerungen und Gedanken hin- und herspringt und sich erst allmählich ein umfassendes Bild der beiden Figuren zeigt.

Durchaus auch Schullektüre-würdig

Deutschlehrer*innen, die beständig mit ihren höheren Schulklassen noch immer Benjamin Leberts Crazy lesen, halten hier eine frische Stimme und absolute Empfehlung in Händen, die der Lektüre, Interpretation und Analyse verdient und die viele Diskussionen eröffnen kann.

Liebe und Leiden, Nähe und Distanz, Lügen und Wahrheit, sie kennzeichnen das Buch der im Ruhrgebiet tätigen Lehrerin, die hier ein beachtliches und literarisch spannendes Debüt vorlegt. Hier ist dem Steidlverlag eine wirkliche Entdeckung gelungen!


  • Annika Büsing – Nordstadt
  • ISBN 978-3-96999-064-3 (Steidl)
  • 123 Seiten. Preis: 20,00 €
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Mariana Enriquez – Unser Teil der Nacht

Ein Vater mit seinem Sohn auf der Flucht durch Argentinien. Ihnen auf der Spur: die Geister der Vergangenheit und Geister der Gegenwart. Mariana Enriquez hat mit Unser Teil der Nacht ein wuchtiges, dunkles, bisweilen verstörendes Mammutwerk vorgelegt, das zwischen verschiedenen Genres und Stilen oszilliert und sich einer genauen Zuordnung entzieht.


Um ihren Roman zu erzählen, wählt Mariana Enriquez den Erzählansatz verschiedener Stimmen, die mal aus auktorialer oder Ich-Perspektive erzählen. All diese Episoden spielen zu verschiedenen Zeiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ergeben erst langsam ein großes Ganzes. Die Hauptgeschichte entspinnt sich Mitte der 70er Jahren in Argentinien. Es herrscht die Militärdiktatur unter Jorge Rafael Videla, Oppositionelle werden gefoltert und verschwinden spurlos.

Ein Vater und sein Sohn auf der Flucht

In dieser Zeit lernen wir Juan und seinen Sohn Gaspar kennen. Sie befinden sich auf dem Weg zum Landgut Puerto Reyes, wo sie erwartet werden. Schon auf dem Weg der beiden zeigt sich, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Juan ist ständig erschöpft, will seinen Sohn schützen – und dieser sieht in Hotelzimmern Gestalten und Geister, die nicht von dieser Welt stammen.

Mariana Enriquez - Unser Teil der Nacht (Cover)

Schnell stellt sich heraus, dass sowohl Juan als auch Gaspar so etwas wie ein zweites Gesicht haben. Sie können Geister und dunkle Kräfte sehen oder sogar heraufbeschwören. Diese Fähigkeit der Kontaktaufnahme mit der einer dunklen Welt jenseits der unseren macht vor allem Juan für einen zunächst nicht näher definierten Orden höchst interessant. Aber auch Gaspar ist für den Orden von Interesse – schließlich könnten sich die Mediumsfähigkeiten seines Vater ebenfalls auf ihn übertragen haben. Ein mögliches Schicksal, vor dem Juan seinen Sohn um jeden Preis beschützen möchte.

Und während die beiden in Richtung des Landguts Puerto Reyes reisen, treibt Juan eine weitere Sorge um. Seine Frau Rosario ist verschwunden. Ob tot oder nur verschollen, das ist noch fraglich. Um mehr über ihr Verschwinden herauszufinden, beschwört er Geister herauf, um zu klären, was es mit dem Schicksal seiner Frau auf sich hat. Doch die Beschwörungen haben ihren Preis…

Über andere Erzählerinnen und Erzähler in anderen Zeiten klären sich langsam die Rollen von Juan, Gaspar und Rosario. Aber auch in späteren Zeiten, in denen Gaspar dann schon größer ist, ist die Dunkelheit nicht fern. So verliert Gaspar beim Spielen mit Freund*innen in Buenos Aires dann eine Freundin beim Erkunden eines verlassenen Hauses an die Dunkelheit. Denn egal ob in den 70er Jahren oder bis hinein in die 90er Jahre – die Dunkelheit ist nie fern, wofür auch der geheimnisvolle Orden sorgt, der an Gaspar so großes Interesse hat.

Eine wilde Mischung mit hohen Dunkelanteil

Es ist eine völlig wilde Mischung, die Mariana Enriquez hier anrührt. Bislang ist sie mit Kurzgeschichten in Erscheinung getreten (etwa Was wir im Feuer verloren, 2017 bei Ullstein erschienen), nun legt sie ein über 830 Seiten starkes Werk vor, das alle Genrezuordnungen sprengt.

Viele der Geschichten wirken zunächst einmal reichlich unverbunden, die Anknüpfungspunkte zum bisher Gelesenen erschließen sich manchmal erst spät. So gibt es Passagen, die stark an Serien wie Stranger Things und Abenteuerbücher wie die Drei ??? erinnern, dann gibt es Horrorelemente, Beschreibung größter körperlicher Pein und Folter, bei denen die Militärdiktatur manchmal ein guter Deckmantel ist, mit dem man die eigentlichen, unsäglichen Verbrechen des Ordens kaschieren kann. Es gibt explizite Liebesszenen, Fantasy- oder eher Horrorszenen (besonders in den Ritualen, in denen die Dunkelheit beschworen wird). Wir haben es mit einer Familiensaga zu tun, genauso gibt es Okkultes neben Profanen, Orgien und erste Liebe – und die Lyrik ist sowieso immer von Bedeutung.

Stellenweise wirkt Unser Teil der Nacht wie der dunkle Gegenpart zu Carlos Ruiz Zafons Der Schatten des Windes. In Zeiten von Verbrechen und Gräuel suchen ein Vater und ein Sohn nach den Hintergründen des Verschwindens der Frau oder Mutter und erleben dabei Fantastisches, das außerhalb unserer Vorstellungs- und Erfahrungswelt liegt. Wo bei Zafon alles wie in Sepia getaucht wirkt, ist die Welt von Mariana Enriquez bedeutend dunkler. Der Tod und die Geister sind stets präsent, auf dem Landgut Puerto Reyes spielt sich Unsägliches ab. Juan versucht seinen Sohn davor zu schützen, aber die Schatten reichen weit. Und die Toten reisen schnell.

Fazit

Das zeigt Mariana Enriquez eindrücklich, der mit Unser Teil der Nacht ein dunkles, bisweilen schwer erträgliches Buch mit einem hohen Horror-Anteil gelingt. Die Militärdiktatur, ein grausamer Orden, ein Vater, der seinen Sohn vor dem Schicksal bewahren will. Das sind Teile dieser großen, dunklen Saga, die die zweite Hälfte des vergangen Jahrhunderts aus argentinischer Perspektive noch einmal aufleben lässt. Wuchtig, verstörend, dunkel- thematisch wohl eines der ungewöhnlichsten Bücher in diesem Frühjahr, das von Inka Marter und Silke Kleemann ins Deutsche übertragen wurde.


  • Mariana Enriquez – Unser Teil der Nacht
  • Aus dem Spanischen von Inka Marter und Silke Kleemann
  • ISBN 978-3-608-50161-2 (Klett-Cotta)
  • 832 Seiten. Preis: 28,00 €
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