S. A. Cosby – Blacktop Wasteland

Dieser Thriller nimmt sein verhandeltes Thema ernst. Schon ab den ersten Seiten presst einen S. A. Cosby mit seinem Roman um einen eigentlich ausgestiegenen Fluchtwagenfahrer in den Sitz. Rasante Unterhaltung mit einem leider etwas überzogenen Gewaltanteil. Blacktop Wasteland.


Alles beginnt mit einem geheimen Rennen im Dinwiddie County, mitten im Nirgendwo von Virginia. Beauregard, genannt Bug, ist auf Vermittlung seines Cousins Kelvin angetreten, um mit seinem hochmotorisierten Duster ein Rennen zu fahren. Als Preisgeld locken einige hundert Dollar. Geld, das Bug gut gebrauchen kann, befindet er sich doch knöcheltief im Dispo. Seine Autowerkstatt wirft aufgrund von billiger Konkurrenz vor Ort kaum mehr etwas ab. Seine Kinder brauchen Geld für die Schule, die Kreditkarten sind ausgereizt. Und so versucht er dieser prekären Situation mithilfe eins Autorennens zu entkommen. Doch das Rennen geht schief und Beauregard steht ähnlich klamm wie zuvor da.

Da wird Bug rückfällig und dient sich lokalen Gangstern noch einmal als Fluchtwagenfahrer an. Zusammen mit zwei wenig intellektuellen Amateurgangstern will er einen Juwelier überfallen, um sich so seine Schulden vom Hals zu schaffen und seiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen. Doch wie es zumeist bei solchen Geschichten der Fall ist: auch hier geht einiges schief und Bug macht sich mit dem Überfall gehörig Feinde.

Ein klassischer Krimi mit klassischen Motiven

S. A. Cosby - Blacktop Wasteland (Cover)

Behauptet der Grandseigneur Walter Mosley in seinem Lob des Buchs auch, S. A. Cosby erfände hier den amerikanischen Kriminalroman neu, würde ich konstatieren, dass hier genau das Gegenteil der Fall ist. Blacktop Wasteland ist ein klassischer, in manchen Momenten fast wie aus der Zeit gefallener Thriller. Das Motiv ist altbekannt: ein Fluchtwagenfahrer, der eigentlich ausgestiegen ist, nun aber noch einmal einen letzten Coup drehen möchte, um alle Altlasten hinter sich lassen (James Sallis lässt grüßen).

Auch der Überfall selbst wirkt schon fast antiquiert: in Zeiten von Hacking, dem Verschwinden des Bargelds und digitalen Geldströmen wirkt so ein Überfall auf einen Juwelier direkt nostalgisch. Dass die tölpelhaften Gangster den Coup dann natürlich verstolpern, in ihrer Großmäuligkeit zu Fehlern neigen und dann von weitaus gefährlicheren Gangstern ins Visier genommen werden, das kennt man doch eigentlich schon zur Genüge. Von einer Neuerfindung des Krimis würde ich deshalb hier keinesfalls sprechen.

Ein Thriller mit Beschleunigungsfaktor und mit Gewalt

Doch auch wenn S. A. Cosby hier nichts neu erfindet, so spielt der doch gekonnt mit den Themen und Motiven. Man nimmt ihn seinen Helden, den herzensguten Fahrer, der eigentlich nur seine Familie zusammenhalten will, durchaus ab. Auch ist das Buch in seinen Fluchtwagenszenen, den Rennen und der permanent lauernden Gefahr gelungen und presst übertragen gesprochen in den Sitz. Bei der Laufzeit des Romans ist keine Seite zuviel, das Tempo durchgehend hoch und wird zum Ende hin sogar noch beschleunigt.

Das alles wäre ein Ereignis, ein Meisterwerk, wenn da nur diese überzogene Gewalt nicht wäre. Das beginnt schon in der Eingangsszene und setzt sich im Lauf des Buchs inkremental fort.

Warren setzte gerade an, sich umzudrehen, als Beauregard den Schraubenschlüssel auf seinen Trapezmuskel krachen ließ. Beauregard hörte ein feuchtes Knacken, wie früher, wenn sein Großvater am Esstisch Hähnchenflügel gebrochen hatte. Warren ging zu Boden, und sein Urin spritzte über die Karosserie des Oldsmobile.

Er rollte sich auf die Seite, und Beauregard verpasste ihm einen weiteren Schlag auf die Rippen. Warren wälzte sich auf den Rücken. Blut tropfte aus seinem Mund un über sein Kinn. Beauregard kniete sich neben ihn, nahm den Schraubenschlüssel und legte ihn wie einen Knebel quer über Warrens Mund. Er packte beide Enden und legte sich mit seinem ganzen Gewicht darauf. Warrens Zunge krümmte sich wie ein dicker rosa Wurm um den Schaft des Werkzeugs. Blut und Speichel strömten aus seinen Mundwinkeln über seine Wangen.

S. A. Cosby – Blacktop Wasteland, S. 23

Fazit

Das war mir seiner Brutalität und der Explizität der Schilderungen dann doch etwas zu heftig, als dass ich dieses Buch vorbehaltlos weiterempfehlen könnte. Das ist schade, weil Blacktop Wasteland ansonsten eigentlich ein rundum gelungener, schneller und mitreißender Thriller aus der amerikanischen Einöde ist. Nur der Punkt der schon fast splatterhaften Gewalt, er störte mich doch erheblich, vor allem wenn gegen Ende alles in einem Gemetzel versinkt (ohne an dieser Stelle zu viel von der Handlung vorwegnehmen zu wollen). Hier wäre weniger definitiv mehr gewesen – was S. A. Cosby dann hoffentlich im dieser Tage erscheinenden neuen Thriller Die Rache der Väter dann beherzigt. Dann könnte er wirklich in die Premiumliga der amerikanischen Spannungsautor*innen aufsteigen!


  • S. A. Cosby – Blacktop Wasteland
  • Aus dem Englischen von Jürgen Bürger
  • ISBN 978-3-7472-0220-3 (Ars Vivendi)
  • 320 Seiten. Preis: 22,00 €
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Sarah Crossan – Verheizte Herzen

Ein Buch, das weniger durch seinen Inhalt

denn durch seine außergewöhnliche Form besticht.

Sarah Crossan hat mit Verheizte Herzen

einen Roman in Versform geschrieben.

Über eine Frau, die nach dem Tod ihrer Affäre den Halt verliert.


Der Versroman hat in letzter Zeit eine kleine Renaissance erlebt. Bereitete etwa Christoph Ransmayr mit Der fliegende Berg eine Renaissance dieser uralten Form vor, so war dann spätestens mit Annette – Ein Heldinnenepos, Anne Webers mit dem deutschen Buchpreis gekrönten Hommage an die französische Widerstandskämpferin Annette Beaumanoir, die Versform wieder im breiten literarischen Bewusstsein angekommen.

Mit Verheizte Herzen liegt nun ein weiterer Roman in Versen vor, der diesmal aus dem englischen Sprachraum kommt und von Maria Hummitzsch ins Deutsche übertragen wurde. Und während der englische Originaltitel Here is the beehive gerade in Verbindung mit dem bienenumschwärmten Cover eine sinnvolle Verbindung eingeht, präsentiert sich der deutsche Titel doch etwas unverbunden.

Mittendrin im Bienenstock

Sarah Crossan - Verheizte Herzen (Cover)

Das geschäftige Treiben des titelgebenden Bienenstocks lässt sich gleich in zweifacher Hinsicht auf die Heldin Ana Kelly übertragen. So gleicht deren Zuhause mit ihrem Mann Paul, einem Lehrer mit höheren Ambitionen, und ihren Kindern bisweilen wirklich einem Bienenstock. Ein stetes Miteinander, Leben, die nebeneinander hergelebt werden, Kinder, die ständig Aufmerksamkeit einfordern und doch auch Wärme, die da im Inneren dieses Verbunds herrscht.

Doch auch Anas Herz selbst gleicht einem unablässig brummenden Inneren eines solchen Bienenstocks. Denn schon auf der ersten Seite wird sie mit einer Todesnachricht in Verbindung mit einer Testamentsvollstreckung konfrontiert. Das wäre eigentlich nichts besonderes, ist Ana doch als Anwältin in solchen Fällen beschlagen. Der Name, der ihr von der Frau des Toten am Telefon genannt wird, wirft sie allerdings völlig aus der Bahn: es handelt sich um Connor Mooney. Jenen Mann, mit dem Ana seit geraumer Zeit eine Affäre verband.

Und so muss sie nun einerseits das Testament ihres heimlichen Geliebten vollstrecken und sich auf der anderen Seite nichts anmerken lassen im Umgang mit der trauernden Witwe. Eine Spagat, der Ana einiges abverlangt und sie nicht zur Ruhe kommen lässt, besonders als sie Connors Familie näher kennenlernt.

Ein überheiztes Herz

Verheizte Herzen erzählt die Geschichte einer Frau, deren Herz und Seele wirklich an Überhitzung leiden. Da ist ihre eigene Familie, das tägliche Miteinander. Und da war bis vor wenigen Momenten noch die Affäre mit ihrem Klienten, die sich doch auch zu mehr auswuchs, wenngleich sich Connor im Gegensatz zu Ana nicht ganz in diesen Seitensprung hineingab. Und so ringt Ana den ganzen Roman über mit der Frage, was sie falsch gemacht hat, wie sie sich nun verhalten soll und welche Schritte angezeigt sind. In ihrer Trauer stellt sie fest:

Die Uhren springen zurück.
Eine Stunde Extraschlaf.

Die Zeit verschiebt sich.
Tick.
Tack.

Hätte ich nur.

Ich wäre freundlicher.
Ich würde dich retten.
Eine Minute nur.
Nur eine.

Die übrigen neunundfünfzig
kann wer anders
haben.

Schenk sie Rebecca.
Überlass Rebecca neunundfünfzig Minuten mit dir.
Eine mir.
Eine.

Nur diese letzte.

Sarah Crossan – Verheizte Heren, S. 143 f.

Von solchen Überlegungen und Reflektionen ist Verheizte Herzen randvoll. Das ist bisweilen für meinen Geschmack etwas larmoyant und rührselig, hat in seinen besseren Momenten aber auch starke Wucht und Emotionalität. Vor allem im letzten Teil gelingt Sarah Crossan dann wieder der Ringschluss zum Beginn ihres Buchs, der durch den Verzicht auf naheliegenden Kitsch überzeugt.

Nötige Versform?

Nur eine einzige Frage bleibt nach der Lektüre für mich bestehen, bei deren Antwort ich mir selbst unschlüssig bin. Geht die Idee der freien Versform wirklich auf – oder ist sie für Crossans Erzählung eigentlich gar nicht zwingend notwendig?

Lässt sich eine solche freie Versform ja eh nicht ganz verlustfrei in eine andere Sprache hinüberretten, besitzt Sarah Crossans Roman doch auch im Deutschen eine besondere Form, die es zwar nicht mit klassischen Versepen aufnehmen kann, die in ihrem Tasten und Suchen, Nachdenken und Trauern aber doch eine ganz eigene Tonalität findet und das starke Bild einer trauernden Frau ergibt, deren sämtlichen Sicherheiten und Gewissheiten sich auflösen. Insofern gewinne ich der Versform dieses Buches durchaus etwas ab, die der Thematik der trauernden Affäre und Mutter eine literarisch interessante Note beifügt und so über andere, ähnlich angelegte Bücher hinausragt.

Fazit

Bislang trat Sarah Crossan eher auf dem Feld der Jugendbücher in Erscheinung. Mit Verheizte Herzen gelingt ihr nun ein überzeugender Wechsel in das Fach der Erwachsenenunterhaltung. Ein interessant gestaltetes Buch, das das Trauern in lyrische Worte setzt und dabei ähnlich wie auch Ruth Lillegraven eine eindringliche Geschichte erzählt, die durch die gewählte Form zusätzlich gewinnt.


  • Sarah Crossan – Verheizte Herzen
  • Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch
  • ISBN 978-3-462-00060-3 (KiWi)
  • 272 Seiten. Preis: 22,00 €
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Don Winslow – City on fire

Ist das noch Troja oder schon Dogtown, dass da brennt? Zum (angeblich) letzten Mal beglückt uns Don Winslow mit einer Trilogie um Rache, Verrat, Mobster, Gewalt und Liebe. City on fire ist eine klassischen Tragödie im Gewand eines Mafiathrillers, der den Auftakt zu einer Reihe um Danny Ryan bildet. Dieser findet sich in einem verzehrenden Kampf zwischen italienischer und irischer Mafia wieder. Nicht ganz so voluminös wie Winslows Zyklus um den DEA-Agenten Art Keller und dessen Kampf gegen das mexikanische Kartell, aber auf dem erfreulich hohem Niveau, das er zuletzt nach den Tiefschlägen mit seinem Kurzgeschichtenband Broken wieder erreichte.


In letzter Zeit machte Don Winslow eher auf dem Feld der Social-Media-Kommunikation denn literarisch von sich reden. Mit seinen Kurzfilmen griff er in den US-Wahlkampf ein, twitterte und positionierte sich lautstark gegen die Politik Donald Trumps. Auch in seinem letzten, 2019 erschienenen Teil der Art-Keller-Trilogie ließ er Trump, dessen Schwiegersohn Jared Kushner und den Rest des damaligen republikanischen Regierungsapparat kaum verfremdet auftreten und zog dabei mächtig vom Leder, um die Bigotterie und Korruption im System mithilfe des fiktionalen Thrillers aufzuzeigen.

Seine politische Positionierung und klaren Ansichten etwa der amerikanischen Einwanderungspolitik an der Grenze zu Mexiko führte er auch in seinem zuletzt veröffentlichten Kurzgeschichtenband Broken fort. Und auch künftig gedenkt Winslow dieses politische Engagement nicht ruhen zu lassen, vielmehr will er seine schriftstellerische Karriere zugunsten der Verhinderung einer Wiederwahl Donald Trumps aufgeben, wie jüngsten Pressemeldungen zu entnehmen war.

Der Auftakt zu Winslows letzter Trilogie

Bis es nun aber soweit ist, gibt es mit City on fire den Auftakt seiner vielleicht letzten Trilogie zu lesen, die sich wieder etwas von der politischen Agenda Winslows entfernt. Denn anstelle von der gegenwärtigen Politik und Gesellschaft zu erzählen, begibt sich der Autor fast vierzig Jahre zurück, nämlich ins Jahr 1986, genauer gesagt in den August jenes Jahres.

Don Winslow - City on fire (Cover)

Alles beginnt mit einem Clambake, also einem Zusammentreffen beim italienischen Padrone Pasco Ferri am Goshen Beach in Rhode Island. Wenn Ferri einlädt, dann kommen sie alle, egal ob irische oder italienische Mobster. Man trifft sich bei gegrillten Meeresfrüchten und Bier, badet und parliert am Strand.

Es sind friedliche Treffen, genauso wie es eigentlich friedliche Zeiten im kriminellen Milieu sind. Iren und Italiener haben sich miteinander arrangiert, es herrscht der Zustand einer friedliche Co-Existenz. Die Iren kontrollieren die Gewerkschaften und den Hafen, die Italiener Drogen und Glücksspiel. Alles könnte eigentlich in bester Ordnung sein. Doch Ferris Einladung zu seinem Clambake ist neben den jeweiligen Sprösslingen der Anführer auch Pam gefolgt, die neue Freundin von Paulie Moretti. Sie verdreht mit ihrem Sexappeal und Aussehen sämtlichen Männern und Frauen am Goshen Beach den Kopf.

Danny Ryan sieht die Frau dem Wasser entsteigen, sie taucht auf wie ein Bild aus seinem Traum vom Meer, wie eine Vision. Nur dass sie real ist und es wegen ihr Ärger geben wird.

Wie meistens mit schönen Frauen.

Danny weiß das; nur ahnt er nicht, was für einen Wahnsinnsärger diese hier lostreten wird. Wüsste er, was passieren wird, würde er vielleicht zu ihr in die Wellen waten und ihren Kopf unter Wasser drücken, bis sie sich nicht mehr rührt.

Aber er weiß es nicht.

Don Winslow, City on fire, S. 11

Eigentlich ist Pam, die hier Botticelli-gleich den Fluten entsteigt, die Freundin von Paulie Moretti, dem Sohn des italienischen Paten. Doch auch bei Liam Murphy, dem Sohn des irischen Paten, weckt Pam Begehrlichkeiten. Er spannt Paulie Moretti seine Freundin aus – und setzt damit eine blutige Dominokette in Gang. Denn den Verlust seiner Freundin kann und will Moretti nicht hinnehmen, und so entspinnt sich ein tödlicher Kampf, in dem Autobomben und Drive-by-Shootings, viele Tote und noch mehr Leid zu beklagen sind.

Klassischer Tragödienstoff

Es ist ein klassischer Tragödien-Stoff, den Winslow hier verarbeitet. Der Kampf zweier Männer um eine Frau, der anschließende Krieg, Täuschungsmanöver und Verrat mit sich bringt und ganze Reiche in den Abgrund reißt. Die Themen sind die immergleichen, egal ob Trojanischer Krieg oder der Kampf um Dogtown in Rhode Island. Mögen sich auch die Mittel und Worte unterscheiden, die Konflikte, sie bleiben doch gleich. Und so setzt Winslow seinen verschiedenen Kapiteln auch Zitate etwa von Homers Ilias oder Virgils Aeneis voran, um das Klassische seines Stoffs hervorzuheben. Das ist zwar in seiner Überdeutlichkeit nicht besonders subtil, für die ganz feinen Zwischentöne sollte man aber eh zu anderen Autor*innen denn Winslow greifen.

Wo bei Homer das Versmaß und die Abgewogenheit in Form und Inhalt herrschte, so geht Winslow literarisch durchaus rustikaler zu Werke. In der für ihn so typischen atemlos hetzenden Prosa (abermals von der verdienten Winslow-Übersetzerin Conny Lösch ins Deutsche übertragen) beschreibt er die eskalierende Gewalt in Rhode Island, reißt kurz, aber wirkungsvoll die Hintergrundgeschichten seiner Figuren an, lässt seine Figuren und damit die Leser*innen kaum zur Ruhe kommen und kegelt seine Figuren schnell wieder vom literarischen Spielbrett, nachdem er sie zu Beginn sorgsam platziert hat.

Das hat einen enormen Drive, ist mitreißend geschildert und lässt durch den gut gesetzten Cliffhanger am Ende des ersten Buchs schnell auf das zweite Buch namens City of Dreams hoffen, dessen in Kalifornien spielender Beginn schon als Leseprobe dem ersten Teil beigefügt ist. Geht es auf diesem Niveau weiter, wäre der Entschluss Winslows zum Ende als Schriftsteller zugunsten seines politischen Engagements wirklich bedauerlich. Hier schreibt ein echter Könner, der die Welt der amerikanischen Mobster eindrücklich zu schildern weiß und dessen Ideen der Überführung eines antiken Tragödienstoffs ins Mafiamilieu der 80er Jahre plausibel aufgeht.


  • Don Winslow – City on Fire
  • Aus dem Englischen von Conny Lösch
  • ISBN 978-3-7499-0320-7
  • 400 Seiten. Preis: 22,00 €
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Eduardo Lago – Brooklyn soll mein Name sein

Fahrgeschäfte auf Coney Island, der Suizid von Mark Rothko, ein Seemann im Bann einer Femme fatale, die Geschichte des legendären Chelsea-Hotels, Brigadisten, die ein fremdes Kind aufziehen, eine Liebesgeschichte mit Spionagecharakter. Was sich wie eine Ideensammlung für Kurzgeschichten oder Teile eines Sachbuchs anhört, sind in Wahrheit nur ein paar wenige Puzzleteilchen, aus denen Eduardo Lago sein Gesamtkunstwerk namens Brooklyn soll mein Name sein zusammensetzt. Ein wild assoziative Lektüreerfahrung, die durch den steten New York-Bezug zusammengehalten wird.


Die letzte Ruhestätte! Soll ich dir die letzte Ruhestätte zeigen, Ness?

Ich verstand nicht, Ohne meine Reaktion abzuwarten, hast du eine Leiter geholt und mich gedrängt:

Geh rauf!

Du hast darauf bestanden, dass ich die Türen zur letzten Ruhestätte öffnete, und in dem Augenblick, da ich es tat, kamen sie mir vor wie zwei Grabtafeln.

Schau genau hin! Siehst du, was da ist? Vor ein paar Monaten, als ich gerade dabei war, ein Manuskript herauszusuchen, fühlte ich mich plötzlich wie ein Totengräber, der dabei ist, ein Grab zu öffnen, um die Überreste umzubetten. Genau da habe ich sie so getauft. Schau mal rein, schau rein, dann wirst du es selbst sehen!

Eduardo Lago – Brooklyn soll mein Name sein, S. 23 f.

Die letzte Ruhestätte, so nennt Gal Ackerman den Manuskriptfriedhof, in dem er all die Schreibentwürfe aufbewahrt, die ihm durch Freunde und Fremde in die Hände geraten sind. Dort oben im Schrank verstauben und verblassen diese Buchfragmente – und niemand wird sie je lesen.

Das unvollendete Romanprojekt Brooklyn

Dieses Schicksal könnte auch Gal Ackerman selbst beschieden sein, der zeitlebens an verschiedenen Entwürfen und literarischen Skizzen arbeitete, diese aber doch nie zu einem Roman fügen konnte. Und nun ist er tot und mit ihm die Chance, sein Werk namens Brooklyn jemals zu lesen. Doch damit will sich Ackermans Bekannter Néstor Oliver Chapman nicht begnügen.

Er beschließt, die Papiere seines Freundes zu sichten, um das Brooklyn-Dokument doch noch zu einem Ende zu bringen. Immer tiefer gräbt er sich in die Schriften und damit die Seele von Gal Ackerman ein – und stößt auf die Spuren einer großen Liebe zu einer Frau. Und einer großen Liebe zu New York und insbesondere Brooklyn, die Ackerman vor allem in Form der Bar Oakland immer Heimstatt war.

Am Abschluss seiner Geschichten stand stets ein feierlicher Sinnspruch. Hier ist mein Lieblingsspruch: „Nun, jeder Bezirk hat seine eigene Welt, und Brooklyn ist ihr Universum.“

Eduardo Lago – Brooklyn soll mein Name sein, S. 230 f.

So formulierte es Ackermans Großvater David Ackerman, der in einer Kolumne für den Brooklyn Eagle die Faszination und Besonderheiten Brooklyns erfasste und beschrieb. Und auch Eduardo Lago versucht das in seinem Buch – schafft dabei aber ein komplexes und bisweilen kompliziertes Universum aus Figuren, Orten und Schicksalen, die allesamt mit Gal Ackerman und Néstor Chapman verwoben sind.

Ein Buch wie ein Manuskripteberg

Eduardo Lago - Brooklyn soll mein Name sein (Cover)

So beginnt alles mit dem Tod von Gal Ackerman und dessen Begräbnis am Fenners Point, einem fiktiven Friedhof an der Ostküste. Von dort aus steigt Ackerman tief hinab in die Manuskripte Gals, richtet sich in seiner Ansprache an den toten Freund, um dann zu Ackerman als Erzähler zu wechseln. So erzählt uns Lago dann von der besonderen Liebe zu Nadja Orlov, die Ackerman zunächst beschattete und beschatten ließ, ehe sich ihre Liebesgeschichte entspann. Seine Herkunft, die in den spanischen Befreiungskampf zurückführte, das Schicksal eines alten Seemanns, der schon mehr oder minder zum Inventar der Bar Oakland zählt, all das ist nur der Anfang.

So gibt es Hefte, in denen Kriminalfälle erzählt werden, literarische Entwürfe zum Suizid von Mark Rothko, Erinnerungen an die Kolumnen und Ausflüge mit Gals Großvater David durch das Universum von Brooklyn. Man fühlt sich so manches Mal, als wühle man sich persönlich durch Gal Ackermans Manuskript-Ruhestätte und verliere sich ein einem Irrgarten aus Ebenen, Bezügen und Geschichten.

Die Entscheidung, bei der wörtlichen Rede die Anführungszeichen wegzulassen, immer wieder mithilfe von Briefen und Tagebucheinträgen den Erzählfluss zu brechen und und sowohl in Erzählformen als auch in Handlungssträngen wild hin und herzuhüpfen macht die Sache dabei nicht einfacher.

Kurzum: es braucht viel Durchhaltevermögen und leserische Orientierung, um hier nicht Schiffbruch zu erleiden. Auch ich stand so manches Mal knapp vor einem Lektüreabbruch, wenn mir die Übersicht über den aktuellen Erzähler oder den Kontext der aktuellen Episode so gar nicht gelingen wollte. Doch am Ende rundet sich tatsächlich Vieles. Ein Zeitstrang neben einem Dramatis Personae erleichtert die Orientierung und die Übersicht über die Handlung (was mir bei der Einordnung des soeben Gelesenen dann doch noch einmal sehr hilfreich war).

Fazit

Brooklyn soll mein Name sein ist ein mehr als verschachteltes und herausforderndes Leseerlebnis, das dem Lesenden einiges abverlangt. Am Ende wird man aber mit einer komplexen Geschichte belohnt, die tatsächlich eine erneute Lektüre reizvoll macht, wie es auch die Pressestimme der Le Monde auf dem Buchrücken preist. Besonders für anspruchsvolle Lektüreliebhaber*innen mit Schwäche für Metaebenen und New York ist Eduardo Lagos Buch ein trickreiches Leseerlebnis, das am Ende für die Mühen tatsächlich doch noch belohnt und dessen Erzähllabyrinth doch einem Plan folgte, wie man in der Rückschau feststellen wird.

Schön, dass sich der Kröner-Verlag 16 Jahre nach dem ursprünglichen Erscheinen dran gemacht hat, in der Übersetzung von Guillermo Aparicio und unter Mitwirkung von Carlos Singer dieses Buch uns deutschen Leser*innen auch in Lagos verwinkeltes Brooklyn zu locken!


  • Eduardo Lago – Brooklyn soll mein Name sein
  • Aus dem Spanischen von Guillermo Aparicio. In Zusammenarbeit von Carlos Singer
  • ISBN 978-3-520-62401-7 (Kröner)
  • 464 Seiten. Preis: 25,00 €
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Richard Wright – Der Mann im Untergrund

Erstaunt blickt man während der Lektüre auf das ursprüngliche Erscheinungsjahr von Richard Wrights Roman Der Mann im Untergrund. Dieses Buch soll von 1941 sein? Dabei liest sich das ursprünglich als Kurzgeschichte erschienene Werk des 1908 geborenen Schriftstellers wie ein Kommentar auf Polizeigewalt und Rassismus aus der Jetztzeit. Ein beeindruckendes und fiebriges Werk, das hier in seiner ursprünglich vorgesehenen Form erstmals zugängig gemacht wird.


Dabei begnügt sich der Herausgeber Malcolm Wright nicht mit der schieren Reproduktion des ursprünglich geplanten Textes, der zunächst abgelehnt und später als Erzählung in der Anthologie Cross Section: An Anthology of New American Writing erschien. Es ist vielmehr ein ganzes Bündel von Texten, den der Herausgeber um Wrights Erzählung spinnt.

So gibt es neben einer Einleitung und einem Nachwort auch einen Text, der sich mit der Genese des Werks und der Versionsgeschichte von Der Mann im Untergrund beschäftigt. Darüber hinaus ist dem Buch ein Text von Richard Wright selbst beigefügt, der den Titel Erinnerungen an meine Großmutter trägt. Darin erinnert sich Wright der Glaubenswelt seiner Großmutter, die er in Verbindung zu Schwarzem Denken, Blues und der Jazzhaftigkeit seiner eigenen Prosa setzt.

Und auch wenn ich mich persönlich damit immer schwer tue, wenn uns ein Autor sein Werk selbst erklärt, Ausdeutungen vornimmt und damit die eigene Lesart und Interpretation verengt, so hat Wrights Text doch auch noch einmal eine ganz eigene Qualität, da er Quellen und Einflüsse seines Schreibens nennt und sein Buch in die Tradition des Jazzs stellt.

Und auch Malcolm Wrights Nachwort führt weitere Deutungsebenen von Der Mann im Untergrund, indem er Verweise auf Platons Höhlengleichnis und die christliche Mystik im Text herausarbeitet. Wer solche Interpretationen lieber Lektüreschlüsseln überlässt und auf die eigene Assoziationswelt beim Lesen setzt, der kann die Nachworte natürlich weglassen – aber man bringt sich im Fall dieses Buchs wirklich um bedenkenswerte Ansätze, die auch Einblicke in die Kulturwelt ihrer Verfasser erlauben.

Ein zeitloses Buch

Richard Wright - Der Mann im Untergrund (Cover)

Warum aber ist nun Der Mann im Untergrund so modern und geradezu zeitlos, wie ich in der Einleitung dieser Besprechung schrieb? Das liegt am Thema, das leider auch achtzig Jahre nach dem Erscheinen unvermindert aktuell (oder vielleicht sogar noch aktueller geworden) ist. Es geht nämlich um den Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft, der sich schon auf den ersten Seiten des Buchs Bahn bricht.

Der Erzähler (Fred Daniels, wie uns Wright später indirekt wissen lässt) befindet sich auf dem Nachhauseweg von der Arbeit, als er von einem Polizistentrio festgenommen wird. Sie verhaften ihn, bringen ihn auf das Polizeipräsidium und misshandeln ihn. Er soll ein Geständnis für einen Mord unterschreiben – was Daniels nach schier endlosen Qualen und Unverständnis über seine Lage dann tut. Ihm wird noch ein letzter Besuch bei seiner hochschwangeren Frau zugestanden, die kurz vor der Entbindung steht. Im Krankenhaus flüchtet Daniels anschließend mehr oder minder stümperhaft und entdeckt durch einen Gullydeckel eine Welt tief verborgen unter der unseren.

In der Tiefe der Kanäle

Und so steigt der moderne Hades hinab in die Unterwelt, um dort die dunkle Welt der Kanäle und Kavernen zu erkunden. Drei Tage wird er der Welt abhanden kommen, die Kanäle durchmessen, in Häuser einbrechen und durch das Dunkle irren. Doch nicht nur in der Tiefe der Stadt droht er sich zu verlieren, auch sein Verhalten und sein Geist irrlichtern teilweise beträchtlich, während er die unterirdische Architektur seiner eigentlich vertrauten Heimatstadt neu kennenlernt.

Dabei eröffnen sich ihm ungewohnte Perspektiven auf die „normale“ Welt, die Ähnlich wie etwa in Lukas BärfußHagard erleben wir auch hier einen Mann, der binnen Kurzem aus der gewohnten Lebensumgebung herausfällt und fortan als Außenseiter neben der übrigen Gesellschaft herlebt. Das eröffnet Richard Wright viel Raum zur Schilderung von gesellschaftlichen Prozessen und der Ausgrenzung von Schwarzen in der Gesellschaft. Zur bitteren Lektüreerfahrung gehört neben der Erzählung Wrights selbst die bittere Erkenntnis, das sich trotz der Benennung von Rassismen und der Schilderung der Polizeigewalt nichts zum Besseren gewandt hat.

Fazit

George Floyd, Black Lives Matter, die jüngste rassistische Schißerei in Buffalo und Co belegen leider die Zeitlosigkeit von Wrights Roman, der hier nun erstmals wieder in der ursprünglich geplanten Version inklusive Komponenten wie der explizit genannten Polizeigewalt les- und erlebbar gemacht wird. Es ist eine begrüßenswerte Entscheidung, der hoffentlich viele Leser*innen vergönnt sind. Denn dieses Roman hat eine unglaubliche Wucht, einen wild puckernden Rhythmus und eine Zeitlosigkeit, die ob des Entstehungsdatums von 1941 staunen lässt. Hätten Ann Petry, James Baldwin und Eugene Sue ein Buch zusammen ein Buch verfasst, dann wäre wohl Der Mann im Untergrund herausgekommen. Ein beeindruckendes Werk!


  • Richard Wright – Der Mann im Untergrund
  • Mit einem Nachwort von Malcolm Wright
  • Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
  • ISBN 978-3-0369-5873-6 (Kein & Aber)
  • 240 Seiten. Preis: 24,00 €
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