Jonathan Coe – Mr. Wilder und ich

Eine junge Frau, ein alternder Regisseur, Dreharbeiten und viel Brie. Aus diesen Zutaten bastelt Jonathan Coe einen Roman, der die Spätphase des Wirken Billy Wilders beleuchtet. Einen Roman, der gut unterhält, aber leider auch etwas zu erwartbar und brav bleibt.


Die Erzählkonstellation kennt man von biographischen Romanen zur Genüge. Ein junger, unbedarfter Mensch gerät durch Zufall in den Dunstkreis eines Künstlergenies. Durch den Blick der jungen Person bekommt das Genie menschliche Tiefe abseits des Bekannten, man kann Wirken und Werk noch einmal frisch betrachten (schließlich kennt die junge Person zumeist Mensch und Mythos nicht). Ebenso kann man so Widersprüche und Fehler des Genies ausleuchten. Zuletzt praktizierte das etwa Robert Seethaler in seinem Roman Der letzte Satz, in dem ein Schiffsjunge dem österreichischen Komponisten Gustav Mahler begegnete. Auch Jonathan Coe wählt dieses Erzählmodell für seinen Roman Mr. Wilder und ich, der die erzählerische Grundkonstruktion schon im Titel verrät.

Calista und Billy Wilder

Jonathan Coe - Mr. Wilder und ich (Cover)

Bei Coe ist es die junge Athenerin Calista, die durch einen Zufall in den Nahbereich Billy Wilders gerät. Die Ich-Erzählerin trampt mit ihrer Freundin quer durch Kalifornien, als sie zu einer Abendgesellschaft in ein edles Restaurant in Beverly Hills eingeladen werden. Die Eltern ihrer Freundin scheinen gut bekannt mit dem Regisseur, den die jungen Frauen dort treffen sollen. Einen Film über Sherlock Holmes hat er gedreht, jetzt soll er aber schon jenseits der Siebzig sein. Mehr wissen die jungen Frauen nicht. Dementsprechend unbedarft stolpern die beiden Mädchen in das Dinner, in dem sich der Regisseur namens Billy Wilder, sein Drehbuchpartner Iz Diamond und die jeweiligen Partnerinnen versammelt haben. Calistas Freundin empfindet die Abendgesellschaft als wenig inspirierend, sodass sie Calista kurzerhand mit der Clique alleine lässt.

Ausgezehrt nach dem ausgiebigen Trampen erweist sich der Weingenuss in dem teuren Restaurant als fatal für Calista. Sie wacht nach dem Dinner im Haus von Billy Wilder auf, wo sie der Regisseur nach ihrem weininduzierten KO vorsorglich gebracht hat . Und so beginnt diese Geschichte, die Calista mitten hinein in die Dreharbeiten von Fedora, einem der letzten Filme Billy Wilders führen soll.

Jonathan Coe zeigt einen Billy Wilder in der Spätphase seines Schaffens. Es sind die von ihm Milchbärte geheißenen Jung-Regisseure, die den Exil-ÖSterreicher in Sachen Relevanz bereits hinter sich gelassen haben. Für Billy Wilders Filme interessiert sich das Publikum immer weniger, längst sind es Regisseure wie etwa Martin Scorsese mit Taxi Driver oder Steven Spielberg mit Der weiße Hai, zu neuen Taktgebern in Hollywood geworden, die die Menschen in Scharen ins Kino locken. Die Hochphase Billy Wilders ist vorbei, womit er und sein kongenialer Partner Iz Diamond hadern. Nichts scheint ihnen mehr wirklich zu gelingen. Ein zweites Manche mögen’s heiß oder Das Appartement, das wäre es. Und so ruhen die ganzen Hoffnungen auf Fedora, einem Film, über den der Filmdienst später schrieb:

Der Film ist ein Boulevard der Dämmerung als Satire, ein Abgesang auf Hollywood, auf das Kino alter Schule, auf Billy Wilders klassische Filme nicht zuletzt. […] Ein Alterswerk, das seinen Rang vornehmlich dadurch erreicht, dass es in Kauf nimmt, von allen missverstanden zu werden.

Filmdienst 14/1978

Konventionell erzählt, durchaus mit guten Einfällen

Calista wird in zu einer tragenden Säule der Filmarbeiten. Als Griechin kann sie bei den Dreharbeiten in Griechenland als Dolmetscherin und Koordinatorin helfen. Als persönliche Assistentin unterstützt sie Iz Diamond und verliebt sich darüber hinaus auch noch während der Arbeiten vor Ort. In Rückblenden blickt sie als Ich-Erzählerin auf das damalige Geschehen und erzählt vom Filmprozess und davon, wie Billy Wilder in ihr die Liebe zum Brie weckte.

Dankenswerterweise bricht Jonathan Coe in der Mitte mit der Konventionalität dieses schon oft gelesenen Erzählens etwas. So lässt er Billy Wilder seiner Erfahrungen im Dritten Reich und mit der Immigration in Form eines Drehbuchs erzählen. Ein Einfall, der dem Buch merklich gut tut, bringt er doch die innere Zerissenheite und seelischen Narben gelungen auf den Punkt. Von diesen Einfällen hätte das Buch durchaus noch etwas mehr vertragen, bleibt es sonst doch etwas arg konventionell in Sachen Struktur und Erzählen. Wirklich hinter die Fassaden seiner Figuren blickt Coe selten, auch dringt er mit diesem sommerleichten Buch wenig in die Tiefe des Erzählens vor.

Vielleicht war ich auch etwas enttäuscht von der Harmlosigkeit des Buchs, war doch Middle England mein erster Kontakt mit dem Autor, der mich im letzten Jahr begeisterte. Darin erzählte er breit angelegt von den Hintergründen des Brexit und dessen Auswirkung auf ein ganzes Ensemble von Figuren. Diesen gesellschaftlichen, weitgefassten Anspruch hat Mr. Wilder und ich nicht. Jonathan Coe besitzt Humor, auch hat er sich für sein Buch ausführlich mit dem Oeuvre Billy Wilders auseinandergesetzt (die Inspiration für die München-Passagen des Buchs lieferte ihm nicht nur Tanja Graf, die Leiterin des Münchner Literaturhauses, sondern auch Patrick Süskind höchstselbst, wie das Nachwort verrät).

Fazit

Doch bei allem vorhandenen Humor und der merklichen Sympathie für Billy Wilder: die Prägnanz und Klasse des vorherigen Buchs besitzt Mr. Wilder und ich leider nicht. Eine Nahaufnahme des Menschen Billy Wilder, allerdings für meinen Geschmack dann doch etwas zu harmlos und oberflächlich, als dass sich das Buch lange in meiner Erinnerung verhaften würde. Ein nettes Sommerbuch und eine Verbeugung vor einer echten Größe in der Filmgeschichte, bei der für mein Gefühl deutlich mehr drin gewesen wäre.


  • Jonathan Coe – Mr. Wilder und ich
  • Aus dem Englischen von Cathrine Hornung
  • ISBN 978-3-85356-833-1 (Folio-Verlag)
  • 276 Seiten. Preis: 22,00 €
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Ulrich Woelk – Für ein Leben

Ulrich Woelk verfolgt in Für ein Leben das Leben seiner beiden Protagonistinnen um die halbe Welt. Ein Berlin-Roman, der den verschlungenen Wegen des Schicksals nachspürt und mit einer erstaunlich hohen Genitalien-Dichte aufwartet.


Schon auf den ersten Seiten des Romans kommt es zu einer schmerzhaften und beinahe folgenschweren Hodentorsion, die Clemens Rubener fast seiner Zeugungsfähigkeit beraubt hätte.

Als Nikisha Lamont ihrem späteren Ehemann, Clemens Rubener, erstmals begegnete, hätte sie ihm um ein Haar die Fruchtbarkeit geraubt.

Ulrich Woelk – Für ein Leben, S. 9

Mit diesem Paukenschlag beginnt Ulrich Woelk seinen Roman. Auf den folgenden Seiten wird noch viel die Rede sein von jener Hodentorsion, die die Ärztin Nikisha Lamont aufgrund mangelnder Erfahrung und Überarbeitung bei Rubener fehldiagnostizierte. In den Nachwehen der gerade erfolgten Maueröffnung ist Nikisha Lamont in ihrem Weddinger Krankenhaus überlastet und erkennt verwirrt von ihrem Patienten die eigentliche Verletzung Clemens Rubeners nicht. Doch die Diagnose kann korrigiert werden, ein anderer Arzt erkennt den kritischen Zustand der Hoden und alles nimmt ein glimpfliches Ende.

Viele Episoden um Erektionsprobleme, Pornoproduktionen, entblößte Genitalien, Priapismus und mehr werden in Woelks Roman folgen. Sie verbinden die Schicksale der Figuren miteinander. Immer wieder kommt es in Für ein Leben zu Kontraindikationen von Geist und (Unter)Leib. Verschiedene Figuren lieben und begehren sich, verbinden und trennen sich und bilden somit eine vielschichtige Erzählung, die den unerklärlichen Wegen der Liebe und des Schicksals nachspürt.

Von Mexiko in den Wedding

Ulrich Woelk - Für ein Leben (Cover)

Nachdem jüngst Regina Scheer im Wedding schon den Wohnsitz Gottes verortete und Nicola Karlsson von Schicksalen im Viertel erzählte (Lichter über dem Wedding) wählt nun auch Ulrich Woelk jenen Arbeiterkiez als Kulminationspunkt verschiedener Schicksale. Da ist Nikisha Lamont, die als Kind zweier deutschen Hippies schon als Kleinkind um die halbe Welt reist. Die Eltern lassen sich in Mexiko nieder, die Tochter beschließt, Medizin zu studieren und gelangt schließlich zurück nach Deutschland, wo sie in einem Weddinger Krankenhaus ihren Dienst versieht.

Dann ist da Clemens Rubener, der mit einem Roman einen großen Erfolg gelandet hat. Eine Verfilmung des Stoffs ist in Planung, in die sich Clemens mit Hingabe stürzt – muss er sich so doch nicht um das drängende Problem der fehlenden Inspiration für einen neuen Roman kümmern. Er hält den Verlag in Gestalt seiner Lektorin hin und erwirbt in Sachen Prokrastination fast virtuose Fähigkeiten.

Auch die in einem Miethaus im Wedding wohnhafte Lu muss kreativ werden, um ihren Alltag zu meistern. Ihr Vater neigt nach dem Tod seiner Frau wechselweise dem Alkoholmissbrauch und der Suche nach einem Ersatz seiner verstorbenen Gattin zu. In diesem unsteten Umfeld findet Lu bei ihren Nachbarn, dem vergeistigten Musiker Hans Krol und dem jungen Victor Belkow Zuflucht. Sind die Eskapaden ihres Vaters zu krass, flüchtet sie zu den ganz unterschiedlichen Männern, um in ihren Wohnungen Distanz zu ihrem Vater herzustellen.

Viele Episoden ergeben ein Ganzes

Die Erzählung um die Hauptfiguren Nikisha, ihren späteren Ehemann Clemens und Lu umspinnt Woelk mit Erzählungen weiterer Nebenfiguren wie etwa jene eben schon erwähnten Hans Krol oder Victor Belkow, dessen Flucht aus der DDR einst scheiterte. Neben der Fülle von Figurenschicksalen sind es noch zahlreiche andere Elemente, die Woelk in diesen motivreichen Roman integriert. So erzählt er vom Schmuggel von Pornos aus Westberlin in den Osten, Filmarbeiten rund um den apokryphen Film Mexican von Gore Verbinski mit Brad Pitt und Julia Roberts oder lesbische Filmtage eines Kollektivs in einem Weddinger Kiez Kino.

Die Kunst, die Woelk hier deutlich besser als in seinem letzten Roman Der Sommer meiner Mutter gelingt, ist es, die Vielschichtigkeit von Liebe und Begehren darzustellen. So führt das Schicksal Niki und Lu zusammen, lässt sie sich lieben und trennen, sich begehren und abstoßen. Immer wieder ergeben einzelne Episoden Querbezüge und runden sich zum Ende hin – was für eine derart umfangreiche Laufzeit eine wirklich beachtliche Leistung ist. Woelks Buch kann man als Studie über die Macht des Schicksals lesen. Genauso funktioniert der Roman auch als breit gefächertes Panoptikum der verschiedenen Erscheinungsformen von Liebe. Für ein Leben ist aber ein Porträt des Weddings und seiner diversen Bewohner*innen. Medizinische Diagnosen spielen eine Rolle (siehe die hohe Genitalien-Dichte), Kunst und Kultur im Wandel der Zeit sind ebenso Themen, die hier beleuchtet werden. Kurzum: dieser Roman ist eine Wundertüte, die unterhält und erfreulich vielgestaltig daherkommt.

Fazit

Für ein Leben ist ein Roman, der Komplexität wagt und sich nahezu keinen Durchhänger leistet. Was zieht uns an, was stößt uns ab? Wie sehen die Wege des Schicksals aus, sind sie durch etwas zu beeinflussen? All das thematisiert dieses Buch und bietet höchst unterschiedliche Leseweisen an. Ein starkes, vielschichtiges Buch und für mich ein Kandidat für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2021!


  • Ulrich Woelk – Für ein Leben
  • ISBN 978-3-406-77451-5 (C. H. Beck)
  • 632 Seiten. Preis: 26,00 €
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Elena Ferrante und ich – eine Kapitulation

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen

Schon ein Jahr lang schaute mich das Leseexemplar von Elena Ferrantes neuestem Roman Das lügenhafte Leben der Erwachsenen vorwurfsvoll aus dem Regal heraus an. Irgendwie gab es immer etwas anderes zu lesen, neue Bücher , beruflich zu Lesendes, scheinbar Interessanteres – kurz, ich schob die Lektüre des Romans wieder und wieder vor mir her. Doch genug damit. Nun im Juli griff ich zu Ferrantes Buch. Italien beziehungsweise Sizilien als Schauplatz des Buchs schien mir als Sehnsuchtsort für diesen alles andere als sommerlichen Sommer die richtige Wahl. Doch leider musste ich dann schon nach gut der Hälfte des Romans kapitulieren. Das mit Elena Ferrante und mir wurde nichts. Aber warum?


Elena Ferrante - Das lügenhafte Leben der Erwachsenen (Cover)

Mit dem Erscheinen von Ferrantes Neapolitanischem Quartett war ich in Neugier versetzt. Jedes große Feuilleton schrieb über die vierbändige Saga um Lila und Lenu, angeheizt durch eine kluge Marketingkampagne setzt das #ferrantefieber in Deutschland ein. Sogar als Serie wurde das Quartett in der Folge adaptiert.

Auch ich las die Werke mit Interesse und fand mich wieder in einem Neapel, das wenig mit Pizza und Funiculì Funiculà-Folklore gemein hatte. Stattdessen dominierten Gewalt, unzufriedene und fluchende Figuren und wenig Aufstiegschancen die Welt der Freundinnen. Kinder, später Frauen, die mit ihrem Schicksal haderten, in großer Armut, enttäuscht von den Männern lebten, sich auch gerne einmal beschimpften und hinter dem Rücken schlecht redeten. Wenig Glück, dafür umso mehr Düsternis, Dumpfheit und Elend. Das war das Neapel, das ich in Elena Ferrantes Büchern vorfand.

Frauen im Dunkeln, wenig Hoffnung und Freude

In der Folge machte sich der Suhrkamp daran, die Backlist der Autorin zu erschließen. Zumeist in der Übersetzung von Karin Krieger erschienen nach und nach ältere und vergriffene Werke der Autorin, darunter auch der Roman Frau im Dunkeln. Auch hier stand wieder eine Frau Mittelpunkt, deren Leben wirklich im Dunkeln stattfand. Sie stiehlt am Strand die Puppe eines kleinen Mädchens und beobachtet, was diese Tat mit dem Kind und seiner Mutter macht.

Damals schrieb ich in meiner Besprechung von überspannten Frauenfiguren, wahren Furien, deren Handlungsmotivation unklar bleibt. Ein Einfühlen in den geschilderten Kosmos wollte mir so gar nicht gelingen, sodass ich konstatierte:

Von Strand, la dolce vita und Entspannung ist bei Elena Ferrante nicht viel übrig. Auf ihre Welten muss man sich einlassen – mir ist das hier leider überhaupt nicht gelungen. Die Faszination für die Frau im Dunkeln liegt für mich im Dunkeln.

Meine Rezension vom 11. Februar 2019

Zurück in Neapel

Seit jener Besprechung waren zwei Jahre ins Land gegangen, Zeit also für einen abermaligen Versuch mit Elena Ferrante und mir. Und schon nach wenigen Seiten fühlt man sich wieder heimisch in dieser Welt. Abermals ist die Erzählung in Neapel angesiedelt, diesmal erzählt die junge Giovanna, die sich am Beginn der Pubertät befindet. Ein Schlüsselsatz prägt sich bei ihr ein, der ihre Welt erschüttern soll.

Zwei Jahre, bevor mein Vater von zu Hause wegging, sagte er zu meiner Mutter, ich sei sehr hässlich. Der Satz wurde leise gesprochen, in der Wohnung, die sich meine Eltern, frisch verheiratet, im Rione Alto, oben in San Giacomo dei Capri, gekauft hatten. Alles – Neapels Orte, das blaue Licht des eisigen Februars, jene Worte – ist geblieben.

Elena Ferrante – Das lügenhafte Leben der Erwachsenen, S. 9

Ihr Vater, ein bewunderter Intellektueller, vergleicht in jenem Gespräch das Aussehen Giovannas mit dem seiner Schwester, die in der Familie totgeschwiegen wird. Das weckt das Interesse des Mädchens, die sich nun für die familiären Wurzeln zu interessieren beginnt. Sie lernt ihre Tante kennen, eine ausgesprochen vulgäre Erscheinung, die Giovanna fasziniert. Immer mehr pflegt sie den Kontakt mit ihrer Tante und muss erkennen, dass auch ihre eigenen Eltern Lügen leben und obschon besserer Umgangsformen und Manieren durchaus auch schlechte Seiten haben.

Davon erzählt Elena Ferrante ausführlich, indem sie durch Giovanna auf diese lügenreiche Welt der Erwachsenen blickt, die voller Widersprüche und Heuchelei steckt. Die vulgäre Tante wird damit zum Gegenpol, da sie all das in ihrem derben Dialekt thematisiert und Giovanna damit auch ein Stück weit die Augen öffnet.

Monothematisch und voller überspannter Figuren

Alleine, mir war das irgendwann zu viele. Diese Monothematik von fluchenden und bigotten Figuren, einem Neapel, in dem scheinbar nie die Sonne scheint, die völlige Abwesenheit von Hoffnung und Freude, all das war mir nun im sechsten Buch der Autorin zu viel. Was im vierbändigen Freundinnen-Quartett schon manchmal kaum erträglich war, hat mir hier endgültig die Freude an der Lektüre vermiest, sodass ich dieses Buch wider meinen eigentlichen Gewohnheiten abbrach.

Nun muss es natürlich nicht die oben angesprochene Neapel-Pizza-Romantik mit jodelnden Pizzaoilo, stundenlangem Bad im Meer und Schlendern durch die engen Gassen im Abendlicht sein. Aber ein klein wenig mehr mediterranen Charme, eine nuancen- und kontrastreichere Welt und wenigstens ein bisschen Zufriedenheit oder ausgeglichenere Figuren anstelle von Überspanntheit, Schimpfen und Betrügen, das hätte mir gefallen, besonders in diesem so trostlosen Sommer, in dem ich zum Buch griff.

So muss ich leider konstatieren, dass das mit Elena Ferrante und mir wohl nichts mehr wird, habe ich doch das Gefühl, stets das gleiche Buch in leicht variiertem Setting zu lesen. Elena Ferrante seien die vielen euphorischen Leserinnen und Leser gegönnt, ich zähle mich nun nach diesem Lektüreabbruch nicht mehr dazu.


  • Elena Ferrante – Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
  • Aus dem Italienischen von Karin Krieger
  • ISBN: 978-3-518-42952-5 (Suhrkamp)
  • 414 Seiten. Preis: 24,00 €
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Das Deutscher-Buchpreis-Lotto 2021

The same pocedure as every year. Und so gibt es auch in diesem Jahr wieder mein traditionelles Buchpreislotto. Welche Bücher könnten es auf die Liste geschafft haben? Auch wenn ich natürlich keine Glaskugel besitze ich, weiß ich zumindest, dass im Anschluss an die Veröffentlichung der Liste die üblichen Diskussionen einsetzen werden. Wie viele Männer, wie viele Frauen finden sich auf der Liste? Zu wenig Zeitgeist, zu viel? Zu wenig Kleinverlage, eine zu große Konzentration auf die Big Player? Wie viele PoC (also schwarze Autor*innen) und wie viele migrantische Stimmen finden sich auf der Liste, welche Titel wurden übersehen, welche Nominierung erscheint schwerlich nachvollziehbar?

All diese Diskussionen zählen zur Folklore um den Preis, der es sich immerhin zum Ziel gesetzt hat, den Roman des Jahres zu finden. Auch ich als meinungsfreudiger Blogger beteilige mich an den (inzwischen schon ritualisierten Diskussionen) und trage in Form dieser Kaffeesatzleserei mein Scherflein zum alljährlichen Buchpreiszirkus bei. Ob ich diesmal meine Quote von einem Viertel korrekt vorhergesagten Titeln übertreffen kann? Ich weiß es nicht. Aber was ich weiß: erneut bloggen unter dem Hashtag #buchpreisbloggen 20 höchst kompetente Blogger*innen über ihr jeweiliges Patenbuch. Man darf gespannt sein!

Meine Tipps:

Die Titel noch einmal in Schriftform:

Emine Sevgi Özdamar – Ein von Schatten begrenzter Raum (Suhrkamp), Peter Stamm – Das Archiv der Gefühle (S. Fischer), Mithu Sanyal – Identititti (Hanser), Michael Köhlmeier – Matou (Hanser), Matthias Nawrat – Reise nach Maine (Rowohlt)

Marin Mosebach (Krass), Ulrich Woelk – Für ein Leben (C. H. Beck), Jessica Lind – Mama (Kremayr&Scheriau), Felicitas Hoppe – Die Nibelungen (S. Fischer), Jenny Erpenbeck – Kairos (Penguin)

Eva Menasse – Dunkelblum (KiWi), Gert Loschütz – Besichtigung eines Unglücks (Schöffling), Julia Franck – Welten auseinander (S. Fischer), Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein (Suhrkamp), Beatrix Langner – Der Vorhang (Matthes&Seitz Berlin)

Angelika Klüssendorf – Vierundreißigster September (Piper), Antje Rávik Strubel – Blaue Frau (S. Fischer), Georg Klein – Bruder alle Bilder (Rowohlt), Ulrich Peltzer – Das bist du (S. Fischer), Svealena Kutschke – Gewittertiere (Claassen)

Ansonsten gäbe es natürlich noch viele weitere (übliche) verdächtige: Maxim Biller? Christian Kracht? Christoph Ransmayr? Oder Autor*innen rund um den Bachmannpreis wie Ferdinand Schmalz, Sharon Dodua Otoo oder Timon Karl Kaleyta? Oder warum nicht einmal den besten Krimi des Jahres in Form der virtuosen Geschichtsstunde nominieren?

Ich lasse mich auf alle Fälle überraschen, was der Deutsche Buchpreis so aufs Tapet bringt und welche Entdeckungen man machen kann. Am 24. August wissen wir mehr, dann wird die Longlist des Preises veröffentlicht.

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Freya Sampson – Die letzte Bibliothek der Welt

Es war eine Nachricht aus meiner Heimat, die mich vor zwei Jahren aufhorchen und den Kopf schütteln ließ. Ähnlich wie in anderen Gemeinden ist auch in meiner Heimatstadt die finanzielle Situation defizitär, der Rotstift muss angesetzt werden. Und ähnlich vorhersehbar wie andernorts verlief auch hier die Suche nach Einsparpotenzialen. Schnell landete man bei den freiwillig erbrachten kommunalen Aufgaben wie etwa Schwimmbad oder Eisstadion. Unweigerlich führte die Suche nach Möglichkeiten zur Kostensenkung auch zur städtischen Bücherei. Die Diskussion nahm hier dann aber eine wirklich bedauerliche Wendung. Ein Stadtrat forderte mit der Aussage, man sammele hier eh nur Papier, die komplette Schließung der Bibliothek. Eine Äußerung, die ein Maß an grotesker Uninformiertheit an den Tag legte, wie sie mir schon lange nicht mehr untergekommen war. Ignoriert eine solche Aussage nicht nur die Vielfalt moderner Bibliotheksarbeit, zeigt sie auch ein Maß an Geringschätzung, das mich seinerzeit fassungslos zurückließ.

Dem Stadtrat (der diesen Antrag dann wenig später wieder zurückzog) und allen, die schon lange keinen Fuß mehr über die Schwelle einer Bücherei gesetzt haben, sei Freya Sampsons Roman Die letzte Bibliothek der Welt ans Herz gelegt. Ein kraftvolles Plädoyer für die Bedeutung von Bibliotheken und wider die ökonomische Kaltherzigkeit, Leseförderung mit nackten Kennzahlen gegenzurechnen. Ein Buch, das die soziale Rolle von Büchereien in den Blick nimmt, von der Bedrohung dieser Institutionen erzählt. Und nicht zuletzt auch ein Buch, das eine warmherzige Komödie ist, die von einem ganz besonderen Kampf gegen den Neoliberalismus erzählt.


„Und wir kämpfen für soziale Gerechtigkeit, für Bildung und die Zukunft unserer Kinder.“ Mrs B fuchtelte mit dem Zeigefinger vor Junes Nase herum. „Wussten Sie, dass in den letzten zehn Jahren an die achthundert Büchereien in diesem Land dichtgemacht wurden? Und wenn es nach unserer beschissenen Regierung geht, werden es noch einige mehr. Wir mögen zwar ein kleines Dorf sein, aber unser Kampf ist größer als Chalcot. Wir müssen um unsere Bücherei kämpfen, als wäre es die letzte Bibliothek der Welt.“

Freya Sampson – Die letzte Bibliothek der Welt, S. 184

Von der Überlebenswichtigkeit von Bibliotheken

Freya Sampson - Die letzte Bibliothek der Welt (Cover)

Chalcot ist eigentlich ein beschauliches Dörfchen. Doch eine Nachricht erschüttert das gesamte Dorf. Die Bücherei soll geschlossen werden, zu gering sind Ausleihzahlen und Nutzungsfrequenz in den Augen der lokalen Behörden. Doch das lassen sich die Bewohnerinnen und Bewohner von Chalcot nicht sagen. Ihre Bücherei ist für viele der Mittelpunkt des Dorfs und die Identifikation mit der Bücherei ist hoch. So stürzen sich die Chalcoter*innen in den Kampf wider die kaltherzige Bürokratie und rufen eine Initiative zur Rettung der Bücherei ins Leben. Zunächst ungewollt wird auch die Bibliothekarin June Jones in den Kampf involviert. Obwohl es ihr von der Büchereileitung untersagt wurde, mischt sie anfangs undercover im Kampf für die Bücherei mit. Denn nach dem Tod ihrer Mutter verheißt ihr der Job in ihrer geliebten Bücherei Halt und Sinn. Als gute, aber durchaus schüchterne Seele des Hauses ist ihr am Erhalt der Bibliothek gelegen. Und schon bald müssen die Analysten und windigen Lokalpolitiker feststellen, dass die Gruppe um June höchst findig und kreativ in Sachen Widerstand ist.

Man kann Freya Sampsons Buch als leichte und sehr gut gemachte Komödie über die Emanzipation einer jungen Frau und den Widerstand eines Dorfes gegen die Obrigkeit lesen. Der Humor des Buchs ist durchaus filmreif, man könnte sich eine Übernahme des Stoffs ohne weitere große Bearbeitung sofort vorstellen. Jim Broadbent, Maggie Smith und ein paar andere talentierte Mimen – und schon hätte man eine perfekte englische Komödie im Stile von Grasgeflüster.

Ein Haus für alle Gesellschaftsschichten

Man kann das Buch aber auch als entschiedenes Plädoyer für Bibliotheken besonders auf dem Land betrachten. In Zeiten, in denen das Dorfleben zum Erliegen kommt, Gewerbegebiete in Randlagen die Innenstädte ausbluten und in denen Gasthäuser und Pubs nach und nach schließen, kommt den Bibliotheken eine immense Bedeutung zu. Als nicht-kommerzielle Einrichtung ist sie für alle Gesellschaftsschichten da – was Freya Sampson anhand ihres ebenso eigenwilligen wie erinnerungswürdigen Figurenensemble durchexerziert.

Da ist der Senior, der in der Bücherei Ansprache und seinen Zeitungslesestoff findet. Da ist die Geflüchtete, die sich mithilfe des Buchbestands die Kultur ihres neuen Landes erschließt. Da sind auch die, die einfach nach Lesestoff oder sozialem Austausch suchen. Da ist aber auch die Mutter, die nur hier einen kostenfreien Internetzugang und Hilfestellung für Themen wie Bewerbungen oder schriftlicher Konversation findet. Schüler*innen, die nur hier abseits des Trubels daheim lernen können. June als gute Bibliothekarin verschafft den Menschen eben nicht nur die gesuchte Lektüre, sondern auch Ansprache, Respekt und Austausch. Diese ganzen Faktoren sind es, die dann natürlich bei einem nüchternen Blick auf Zahlen und Effizienz schnell hintenüberfallen, kann man sie doch kaum messen, aber nicht genug wertschätzen.

„Wir haben sechs Bibliotheken im County identifiziert, die sich unserer Ansicht nach am besten für eine Restrukturierung eignen. (…). Im Laufe des nächsten Quartals werden wir eine gründliche Performance-Analyse dieser Häuser durchführen, um zu ermitteln, welche Bibliothek das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweist.“

„Wie bitte? Das ist eine Bücherei und kein Start-up-Unternehmen!“ sagte eine der Strick&Schwatz-Frauen, woraufhin unterdrücktes Gelächter ertönte.

„Ruhe, bitte“ mahnte Brian.

Richard fuhr ungerührt fort. „Zu diesem Zweck haben wir eine Unternehmensberatungsfirma damit beauftragt, diese Performance-Analyse durchzuführen und die Kreisverwaltung dadurch bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen. Dabei geht es in erster Linie um Besucherzahlen und Ausleihstatistik. Daraus lässt sich dann die Kosteneffektivität der einzelnen Bibliotheken ableiten.“

„Und wie gedenken Sie den ideellen Wert der Bücherei in Ihrer Kostenanalyse zu berücksichtigen?“ June sah sie nicht, wusste aber sofort, dass es Mrs B war, die sprach. „Bildung, Inklusion, Leseförderung der Jüngsten. Lassen sich diese Werte beziffern, Mr Donelly?“

Freya Sampson – Die letzte Bibliothek der Welt, S. 58

Bedrohte Büchereien

So mochte sich der Stadtrat in meiner Heimatgemeinde bei einem oberflächlichen Blick über die Kennzahlen der Stadtbibliothek bestätigt fühlen. Was dieser Antrag dann aber eindeutig unter Beweis stellte war die Tatsache, dass er schon lange keine Bibliothek mehr aufgesucht hatte und ihre verschiedenen Wirkungsfelder überhaupt nicht kannte. Damit ist er natürlich nicht alleine, sieht man sich auch die Zahlen in Deutschland an. Erst im letzten Jahr sorgte der Fall die geplante Schließung der Ernst Abbe-Bücherei in Jena-Lobeda über die Stadtgrenzen hinaus für Aufsehen. Die Bürger*innen vor Ort initiierten eine Online-Petition gegen die Schließung, die schlussendlich auch zum Erfolg führte. Aber solche Einrichtungen sind besonders in ökonomisch schwachen und dünn besiedelten Gegenden bedroht, wie Marius Elfering in seinem informativen Feature über die Bücherei in Jena-Lobeda und ihre Bedeutung für den Stadtteil schreibt. Zählte man 2009 in Deutschland noch 11.000 Bibliotheken, waren es zehn Jahre später bereits rund 2000 weniger. Das System Bibliothek ist durchaus bedroht und es kommt auf uns alle an, für diese Einrichtungen einzustehen.

https://twitter.com/_Sara_Ca/status/1421534667543613448

Hierfür ist Die letzte Bibliothek der Welt ein eindrucksvolles Plädoyer, das mithilfe des Humors wichtige Einsichten und Botschaften transportiert. Dass das Buch dabei nicht unbedingt beim Booker Prize Berücksichtigung finden dürfte, das will ich nicht verschweigen. Einiges ist vorhersehbar, manche Figuren wandelnde Klischees, die Sprache auch eher funktional. Aber das macht überhaupt nichts.

Fazit

In unserer Kosten-Nutzen-optimierten Zeit, in der oftmals reine Statistiken zur Entscheidungsfindung herangezogen werden, zeigt die Engländerin, dass man Bibliotheken (und natürlich nicht nur sie) nicht einfach nur rein nach ökonomischen Aspekten beurteilen kann. Ihr Buch ist ein Plädoyer für einen ganzheitlicheren Blick auf Bibliotheken, ihre vielfältigen Nutzer*innen und die Bedeutung, die sie im ländlichen Raum haben. Ein engagierter literarischer Zwischenruf und gute Unterhaltung mit komödiantischem Schmelz. Nicht nur als Bibliothekar empfehle ich dieses Buch nachdrücklich!


  • Freya Sampson – Die letzte Bibliothek der Welt
  • Aus dem Englischen von Lisa Kögeböhn
  • ISBN: 978-3-8321-6567-3 (Dumont)
  • 368 Seiten. Preis: 20,00 €

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