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Anna Katharina Hahn – Der Chor

Ob betagte Lektorin oder erfolgreiche Managerin – beim Singen sind sie alle gleich. Anna Katharina Hahn erzählt in ihrem Roman Der Chor von einem weiblichen Laienchor – und drei Generationen von Frauen, die sich im Chor begegnen.


Jeden Mittwochabend treffen sie sich in einem Stuttgarter Gemeindesaal, die Cantarinen. Unter wechselnder Leitung von Musikstudierenden proben die Mitglieder dieses Chors ihr Material. Basisdemokratisch darf jeder eigene Liedvorschläge mitbringen, die dann gemeinsam erarbeitet werden. Sogar die Einschränkungen in der Coronapandemie hat man mit digitalen Chorproben irgendwie überbrückt und nun findet man sich wieder direkt zusammen in der kirchlichen Atmosphäre des Gemeindesaals.

Viele verschiedene Charaktere sind es, die dort am Mittwoch unter der Leitung der jungen Estin Terje zusammenkommen. Unter dreißig ist niemand, die Altersspanne reicht von hochbetagt bis hin zu Frauen, die mitten im Berufsleben stehen. So wie im Falle von Alice, für die das Singen im Chor einen Ausgleich zu ihrer fordernden Tätigkeit im Management eines Stuttgarter Kaufhauses darstellt. Eine Chorfreundschaft verbindet sie mit Lena, die zwar schon lange im Ruhestand ist, dennoch aber immer noch mit dem geschriebenen Wort beschäftigt, wie sie es beruflich viele Jahre lang tat.

Der Chor der Cantarinen

Die eingeübte Praxis und die Routinen im Chor werden aber nun schon auf der ersten Seite des Romans von Anna Katharina Hahn empfindlich gestört – denn es steht einer neuer Gast auf der Schwelle des Gemeindesaals, um im Chor mitzusingen. Bei diesem Gast handelt es sich um die junge Sophie, die Alice sofort ins Auge fällt.

Das Mädchen verharrt auf der Schwelle, es scheint sich nicht hineinzutrauen. Während Alice näher kommt, tritt es von einem Fuß auf den anderen in ihren schmutzigen Sneakers, springt sogar zaghaft auf und ab. Alice findet die Hüpfbewegungen rührend, das ganze Geschöpf hat in seiner Unsicherheit etwas Kaninchenhaftes. Als sie mit einem Lächeln vor ihr steht, streift sich die junge Frau ihre Kapuze vom Kopf. „Möchtest du zur Chorprobe? Komm doch rein“, sagt Alice.

Anna Katharina Hahn – Der Chor, S. 7f.

Schon ab dem ersten Moment rührt die junge Frau etwas in Alice an. Die Überlassung einer teuren Jacke ob der mangelhaften Kleidung des Mädchens bei ungastlichen Temperaturen ist nur ein erster Schritt. Die weiteren Chorproben verstärken in Alice den Wunsch, das Mädchen näher kennenzulernen. Eine für die so kontrollierte Frau aus der Stuttgarter Oberschicht ganz untypische Regung, die Anna Katharina Hahn im Folgenden genau beobachtet.

So erzählt sie von der Faszination für Sophie und beobachtet Alice, die durch das Auftreten des Mädchens dazu animiert wird, ihre eingefahrenen Bahnen zwischen Europaviertel und Killesberg zu verlassen. Sogar an ihren schon längst überwunden geglaubten mütterlichen Gefühlen rührt die Begegnung.

Beziehungen und Freundschaften im Frauenchor

Anna Katharina Hahn - Der Chor (Cover)

Aber auch andere Damen rücken ins Zentrum des Romans, dessen Gravitationszentrum Alice ist. So haben Animositäten und die skeptischen Betrachtungen anderen Frauen genauso ihren Platz, wie Hahn gekonnt auch ihre Protagonistin Alice in das Bedürfnis nach Nähe und Anerkennung verstrickt. Mal aktiv in Form von mütterlichen Instinkten für Sophie und deren Leben, mal passiv in Form von mütterlicher Nähe, die sie selbst bei Lena sucht.

Dies ist überzeugend gezeichnet, da Hahn ein großes Gespür für Ambiguitäten und Widersprüche auszeichnet. Welche Formen weibliche Freundschaft und Abneigung haben kann, das untersucht Hahn in Der Chor eingehend. Zudem ist ihr Roman das fein gezeichnete Porträt ganz unterschiedlicher Frauen, deren Geschichte tatsächlich immer wieder mit „Geschichte“ übertitelten Rückblenden kurz erzählt wird, um dann mit der Gegenwart verschmolzen zu werden.

In der zweiten Hälfte verliert der Roman dann etwas seinen zuvor so ruhigen Rhythmus, wenn die Faszination für Sophie überhandnimmt. Dann wechselt das Ganze in ein schon fast hektisches Allegro zwischen einem Ausflug nach Paris, einem Todesfall und überraschender Enthüllungen. Das zuvor so wohlgeordnete Nebeneinander zwischen Alice und ihrem Mann gerät aus der Bahn, Geheimnisse und Unausgesprochenes drängt zwischen die Figuren und sogar die verlässliche Statik der Chormitgliedschaft gerät ins Wanken. Die literarische Harmonie des Beginns weicht einem polyphonen, manchmal schon etwas verwirrenden Stimmen- und Handlungsgewirr.

Stuttgart vom Kessel bis zum Killesberg

Nicht alles löst sich zufriedenstellend auf, es bleiben kleine Leerstellen wie die des Zerwürfnisses zwischen Alice und ihrer ehedem besten Freundin und Mitsängerin Marie. Auch bezüglich der genauen Beziehung und der Entwicklung zwischen Alice und ihrem Mann Fred bleiben offene Fragen. Stattdessen konzentriert sich Der Chor merklich auf die Frauenfreundschaften – oder etwas neutraler formuliert: die Beziehungen der Frauen untereinander und deren Dynamiken.

Das gelingt Anna Katharina Hahn sehr gut, die ihren schwäbischen Chor mitsamt seiner Mitglieder aus der gesamten Stuttgarter Stadtgesellschaft hier ein genau beobachtetes, in Teilen sogar fast hyperrealistisches Denkmal setzt. Zwischen Schicksalen, sozialen Biografien und einer Stuttgartrundfahrt vom Kessel bis hinauf zu den Oberschichtswohnung am Hang liefert die Stuttgarter Autorin ein polyphones Bild von (weiblichen) Beziehungen im 21. Jahrhundert.


  • Anna Katharina Hahn – Der Chor
  • ISBN 978-3-518-43160-3 (Suhrkamp)
  • 283 Seiten. Preis: 25,00 €
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Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir?

Eine Frau zwischen Performancekunst und Love-Scamming, Annäherung und Abstoßung, Melancholia und Pas de Quatre. In Martina Hefters Roman Hey guten Morgen, wie geht es dir? steht all das nebeneinander. Die Autorin liefert einen Text, der weniger durch einen Erzählbogen denn durch sein Gefühl für Gleichzeitigkeiten überzeugt. Jüngst wurde das Buch mit einem Platz auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 belohnt.


Es ist ein ganzes Füllhorn an Motiven und Themen, das Martina Hefter vor ihren Leser*innen ausgießt und das die Grundstruktur ihres Romans bildet. Für ihre Lyrik und Prosa jüngst mit dem Großen Preis des Deutschen Literaturfonds ausgezeichnet stellt die Autorin in diesem Text eine Frau in den Mittelpunkt, die auf den ersten Blick viele Berührungspunkte mit der Autorin selbst aufweist. Von einem an der bayerischen Vils gelegenen Ort stammend hat es die Künstlerin Juno Isabella Flock nach Leipzig verschlagen. Dort teilt sie sich mit ihrem Lebensgefährten namens Jupiter eine gemeinsame Altbauwohnung.

Das prekäre Künstlerdasein verbindet sie mit dem an den Rollstuhl gefesselten Jupiter, in dem sich einige Züge von Jan Kuhlbrodt erkennen lassen, mit dem Hefter tatsächlich in Leipzig zusammenlebt, und der laut dem Nachwort zu diesem Roman auch nichts dagegen hatte, „hier und da mit Jupiter verwechselt zu werden, sondern den Gedanken sogar schön fand“.

Juno und Jupiter

Man schlägt sich so durchs Leben. Sie besorgt für ihn Pizzazungen und löst Rezepte ein, da Jupiter die Wohnung fast nicht mehr verlassen kann. Ab und an gastiert Juno mit Gastspielen auf Bühnen und zeigt Performances und Texte. Manchmal reicht das Geld kaum zum Leben, und doch hat man sich mit dem Zustand und dem Dasein als Kreativschaffende arrangiert und ist gewillt, in diesem Zustand bis zur Rente irgendwie durchzuhalten.

Beim Sommerfest würden sie den Pas de Quatre von Jules Perrot tanzen. Ein berühmtes Stück von 1854, erschaffen für die damals vier berühmtesten Tänzerinnen der westlichen Welt. Marie Taglioni, Carlotta Grisi, Lucile Grahn und Fanny Cerrito.

Sie waren damals Superstars. Zur Aufführung des Stücks trafen sie das erste Mal zusammen und traten gemeinsam auf. Das war eine Sensation.

Juno sollte die Position der Marie Taglioni tanzen.

Es gab keine Handlung in dem Stück, nur eine Situation: Vier Frauen tanzten zusammen. Geometrische Muster, Vierecke, Kreise, Diagonalen.

Planeten, die sich treffen, beinah kollidieren.

Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir?, S. 133

Dieses berühmte Tanzstück ist ein guter Ausdruck auch für das erzählerische Konzept von Hefters Roman. Denn Hey guten Morgen, wie geht es dir? besticht weniger durch eine konsistent durchgearbeitete Handlung, als durch viele Elemente, die hier nebeneinanderstehen, ebenso wie die Tänzerinnen in dem Stück alle ihr eigenes Stück tanzen – oder eben die Planeten, die auf die Erzählerin ebenfalls einen großen Reiz ausüben.

Briefwechsel mit einem Love-Scammer

Martina Hefter - Hey guten Morgen, wie geht es dir? (Cover)

Größtes Verbindungsstück über den Text hinweg dürfte das Love-Scamming sein, das dem Buch auch den Titel verleiht. Love-Scamming bezeichnet den Betrugsversuch, bei dem Klickarbeiter unter einer falschen Identität den Kontakt zu anderen Menschen im Netz suchen, um sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen diesen zu nähern, einzuschmeicheln und schlussendlich Kapital aus dieser Nähe zu schlagen.

Mit einem dieser Scammer, der sich mit der nichtssagenden und doch irgendwie interessiert wirkenden Floskel bei Juno meldet, steigt sie – wohlwissend um dessen falsche Identität – in einen Chat ein, aus dem sich ein Gespräch und schließlich sogar Videotelefonate entwickeln, bei dem die beiden Einblicke in ihr Leben gewähren, sich aber dann doch wieder nicht wirklich in die Karten schauen lassen.

Junos Scammer stammt – wie so häufig – aus einem Entwicklungsland und hört auf den Namen Benu. Er lebt in Nigeria, von wo aus er seine digitalen Köder auswirft und versucht, sich anderen Menschen anzunähern. Im Lauf des Romans schreiben sich die beiden immer wieder, versuchen sich in die gegensätzlichen Lebenswelten einzufühlen und kreisen in ihren Gesprächen immer wieder um Themen, die vor allem Juno am Herzen liegen. Insbesondere Lars von Triers Film Melancholia, die Stimmungen, die dieser evoziert, und andere planetare Gegebenheiten sind Themen, die immer wieder in den Chats auftauchen und die Juno Isabella Flock stark beschäftigen.

Inhaltliche und formale Vielfalt

Um diese ganzen digitalen Gespräche herum passiert auch in der analogen Welt das Leben in seiner ganzen Fülle, was Martina Hefter mit einem Gespür für Gleichzeitigkeit und das Nebeneinander von großen und kleinen Themen schildert.

Jupiter gewinnt einen Literaturpreis (kaum verhüllt liest man hier von der tatsächlich stattgefundenen Preisverleihung des Alfred Döblin-Literaturpreises an Jan Kuhlbrodt im Literarischen Colloquium Berlin im vergangenen Jahr), nachts schleicht sich Juno durch die Wohnung, um mit Benu zu skypen und sich in Chats zu verlieren. Dann stehen plötzlich wieder Performance-Texte beziehungsweise Performance-Anweisungen im Text.

Es ist eine große Vielfalt, die Hey guten Morgen, wie geht es dir? sowohl in der äußeren Form mit der Mischung aus Dialogen, Anweisungen und Erzähltexten kennzeichnet, als auch inhaltlich, wie eben schon dargestellt.

Themen umkreisen sich wie Planeten

Eine wahllose Aneinanderreihung von Beliebigkeiten ist das Ganze allerdings keineswegs. Denn obschon das Buch ohne größeren erzählerischen Bogen angelegt ist, gibt es doch Bewegungen, die sich in Hefters Text ausmachen lassen. So ist es die nonchalante Maskierung der biographischen Folie dieses Künstlerromans, die mit einer De-Maskierung des falschen Love-Scammers einhergeht. Dergleichen mehr an Bewegung findet sich in diesem Text, kreist umeinander und berührt sich mal, bleibt sich dann wieder fern, eben wie die Planeten oder die vier Tänzerinnen im Pas de Quatre.

Mit Dialogen aus der Digitalen Welt einem Aufbrechen herkömmlicher narrativer Strukturen ist dieses postmoderne Werk ganz zeitgemäß, schwingt auch die Autofiktion stets in diesem Text mit. Lesbar ist Hey guten Morgen, wie geht es dir? als Künstlerroman, als Briefroman, als Blick auf den Kunstbetrieb im Allgemeinen und den Literaturbetrieb im Speziellen oder als das Porträt einer Frau, die sich mit ihrer künstlerischen und privaten Identität auseinandersetzt. Als Buch am (ästhetischen) Puls der Zeit verwundert die Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 nicht.

Weitere Meinungen zu Martina Hefters Buch gibt es unter anderem bei Kulturgeschwätz, Bookster HRO und Deutschlandfunk Kultur.


  • Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir?
  • ISBN 978-3-608-98826-0 (Klett-Cotta)
  • 224 Seiten. Preis: 22,00 €
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Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend

In ihrem zweiten Roman dringt Deniz Ohde tief in das komplizierte Beziehungsgeflecht zweier Menschen ein, die nicht wirklich mit, aber auch nicht ohne sich können. Ich stelle mich schlafend ist das Porträt einer Beziehung zwischen Symbiose und Folie á deux.


„Alles weg“. Mit diesen Worten blickt der Wirt Ante auf eine Brache, die sich als erstes Bild in der Ouvertüre von Deniz Ohdes Roman darbietet. Einst stand auf dieser Brache ein Haus, das von Yasemin bewohnt wurde. Doch dieses Haus ist nicht mehr, was Ante und Yasemin bei ihrer gemeinschaftlichen Betrachtung der Leerstelle feststellen.

Und was siehst du jetzt, Yasemin? Sie sprach zu sich, vor der Brache stehend: Du kannst dich noch so weit vorbeugen, noch so sehr deine Stirn gegen den Drahtzaun drücken, als schautest du durch ein Schlüsselloch, in den verstaubten Mülltonnenverschlägen wirst du nichts erkennen, die Steine sprechen nicht, wofür soll ein zerstörtes Haus ein Zeichen sein?

Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend, S. 18

Auch wenn Yasemin für sich noch nach einer Ausdeutung des zerstörten Hauses als Symbol sucht: Deniz Ohde liefert auf den folgenden gut 220 Seiten eine eindrückliche Antwort auf diese Frage. Denn ebenso wie dieses Haus erst zerstört wurde und dann verschwand, erging es auch der Beziehung von Yasemin zu Vito.

Aufwachsen in der Vogesenstraße

Dieser wuchs als Nachbar von Yasemins Familie in der Vogesenstraße auf. Schon früh übte der Junge mit dem Kurt Cobain-Poster an den schwarzgestrichenen Wänden seines Zimmers eine große Anziehung auf Yasemin aus. Ihrer Freundin Immacolata, Tochter einer religiösen Familie und ebenfalls Nachbarin in der Vogesenstraße, beschrieb sie ihr Aufeinandertreffen sogar als schicksalhaft, Zeichen eines größeren Plans.

Eines flüchtigen Blickes würdigte Vito sie, und Yase legte alles hinein. Sie hatte einmal gelesen, wenn man der Liebe seines Lebens in die Augen sehe, dann spiegelten sich alle nachfolgenden Generationen darin. Genau das passierte ihr – so erzählte sie es Imma – am elften Januar um sieben Uhr siebenundzwanzig, sieben Wochen vor ihrem vierzehnten Geburtstag. Ganz merkwürdig sie das Licht in seine Augen gefallen, die aus der Ferne dunkel schienen, aber mit dem Einfall der Sonne aufleuchteten wie eine Glasmurmel, die sich nicht entscheiden konnte, ob sie braun oder grün oder golden sei.

Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend, S. 41

Doch selbst wenn für Yasemin die Begegnung Schicksal und planhaft war, so folgte das Miteinander keinem solchen Plan. Anfängliches Desinteresse, später eine lose Beziehung mit diesem Mann, den weder Yasemin noch sonst irgendwer wirklich zu fassen bekommt. Auch eine deutlich solidere Beziehung mit einem Mann namens Hermann kann Yasemin nicht von ihrer Faszination und der Anziehung zu Vito kurieren, der von der Bildfläche verschwindet, um Jahre später in Bad Kissingen wieder zu Yase zu finden.

Eine Anziehungskraft, der man sich nicht widersetzen kann

Für sie, die sie als Tochter zweier Erwachsener „aus einem Willensbruch gezeugt wurde“, wie es in Ohdes Roman heißt, ist dieser unergründliche Vito ein Anziehungspunkt, dem sie sich nicht entziehen kann und auch nicht will. Hier findet sie zur Ruhe, obschon Vito immer wieder verschwindet, Anflüge fast manische Verhaltens an den Tag legt, auch vor Kleinkriminalität nicht zurückschreckt.

Deniz Ohde - Ich stelle mich schlafend (Cover)

Gerade der Widerspruch der ordentlichen, in einem Kaufhaus arbeitenden Yase und des selbstzerstörerischen, unergründlichen und sprunghaften Vito ist es, der dieses Paar irgendwie zusammenhält – bis hin zur Katastrophe.

Tief taucht Deniz Ohde in dieses komplizierte Beziehungsgeflecht und das Seelenleben ihrer Heldin Yase ein. Wie schon in ihrem ersten Roman Streulicht verzichtet Deniz Ohde dabei auf eine allzu konkrete Verortung ihres Handlungsortes und verleiht damit ihrem Roman einen universellen Charakter.

Die Vogesenstraße als Ort des Aufwachsens von Yasemin, Immacolata und Vito bleibt schemenhaft. Es handelt sich um eine Stadt, die nicht näher benannt wird. Später fällt einmal der Name von Bad Kissingen als Handlungsort, recht viel mehr an Realia bekommen wir aber nicht zu lesen. Dafür ist die Ausstattung dieser Straße und ihres Umfelds umso universeller. Die Wohnungen, die mal voller Nippes und mal Nagelstudio sind. Heruntergekommene Spielplätze, Wohnblöcke und mit Händen zu greifende Vernachlässigung. Später dann die Enge und Kargheit der Wohnung, die sie im Haus vor der Kneipe des Wirts Ante bezieht: die Trostlosigkeit dieser Umgebung ist universell, das Seelenleben ihrer Heldin umso spezieller.

Eine Beziehung zwischen Symbiose und Folie á deux

Das jugendliche Schwärmen, der „Zauber“, der Vito und Yasemin zusammengeführt haben muss, die Unmöglichkeit, dieser Prägung zu entkommen, dazu noch die Metapher des Schlafs, die sich in vielfacher Ausprägung in diesem Roman findet. Deniz Ohde beschreibt eine graue, traurige und manchmal geradezu toxischer (Beziehungs-)Welt, in der auch andere Menschen und Partner Yase nicht aus ihrer kindlichen Disposition für Vito befreien können und von der sie sich auch nicht befreien lassen will.

Das Miteinander dieser beiden Figuren ist mal Symbiose, im Großteil scheint es aber eher einer Folie á deux zu entsprechen, die in einer entsprechenden Finalhandlung enden wird, ja sogar muss. Da nutzt es auch nichts, die Augen zu schließen und sich schlafend zu stellen. Das Aufwachen in dieser Zweierbeziehung wird ein umso dramatischeres sein – und das nicht nur für Yase. Denn die Gewalt gegen Frauen, die Verachtung von deren Bedürfnissen ist ebenfalls ein Thema, das sich durch Ich stelle mich schlafend zieht.

Fazit

Freude beim Lesen bringt das alles nicht. Vielmehr muss man sich wirklich auf diese graue, wenig hoffnungsstiftende Welt einlassen wollen, in die uns Deniz Ohde hier mitnimmt. Zwischen Clownsnippes, Wohnkomplex, Kurt Cobain-Poster und beengten Räumen ist Ich stelle mich schlafend ein konsequent ausgeführtes, stilistisch gut umgesetztes Porträt einer verhängnisvollen Beziehung, in die Deniz Ohde tief vordringt und die trotz aller psychologischen Tiefenbohrung letzten Endes doch nicht ganz zu ergründen ist.


  • Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend
  • ISBN 978-3-518-43170-2 (Suhrkamp)
  • 248 Seiten. Preis: 25,00 €
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Ron Rash – Der Friedhofswärter

Kollegen wie Richard Russo bezeichnen ihn schon als „einen der besten amerikanischen Autoren“. Nun ist der Amerikaner Ron Rash dank Übersetzerin Sigrun Arenz und dem herausgebenden Ars Vivendi-Verlags aus dem fränkischen Cadolzburg nun auch auf Deutsch zu entdecken. Sein Roman Der Friedhofswärter entführt ins ländliche North Carolina zu Beginn der 1950er Jahre und schildert eine Geschichte, die fast einem Shakespear’schen Drama entnommen sein könnte.


Die Grundidee, die Ron Rashs Roman zugrundliegt, sie könnte tatsächlich aus einem Shakespeare-Drama, einer großen Oper oder wenigstens einem bürgerlichen Trauerspiel stammen:

Nachdem sie bereits zwei Kinder auf dem Friedhof von Laurel Fork beerdigen mussten, ist Jacob das letzte lebende Kind von Cora und Daniel Hampton. Sein Leben ist allerdings auch in Gefahr, denn er wurde als Soldat eingezogen, um im Koreakrieg zu kämpfen.

Als er nun bei seinem Einsatz schwer verwundet wird, nutzen seine Eltern diesen Umstand für eine perfide Intrige. Denn eigentlich wollte Jacobs Vater seinen Sohn bereits verstoßen, da er sich mit einem für die Begriffe seiner Eltern völlig unstandesgemäßen Mädchen eingelassen hat.

Die doppelte Täuschung

Gerade einmal sechzehn war Naomi, als diese mit Jacob zusammenkam und dann den Bund der Ehe schloss. Ein Annullierungsversuch dieser Ehe durch Jacobs Eltern blieb erfolglos. Nicht einmal die schwere Arbeit im familieneigenen Sägewerk, mahnende Gespräche und Verstoßungsdrohungen konnten der Beziehung der beiden etwas anhaben. Im Gegenteil. Nun, während Jacob in Korea kämpft, harrt Naomi nun hochschwanger daheim aus. Für die Hamptons wie auch die ganze Kleinstadt Little Rock dort im ländlichen North Carolina ist dieser Umstand eine einzige Provokation.

Ron Rash - Der Friedhofswärter (cover)

Das „schamlose“ Mädchen und die Ehe ihres Sohnes, die der der puritanischen Einstellung der Eltern aus Anstand und harter Arbeit zuwiderläuft, das alles soll nun ein Ende haben. Und so täuschen sie Naomi den Tod Jacobs vor und sorgen mit viel Geld für einen Wegzug der Familie, die an anderer Stelle ein neues Leben beginnen soll, um so den vermeintlich toten Jacob zu vergessen.

Im Umkehrschluss täuschen die Hamptons Jacob nach dessen Rückkehr aus Korea den Tod von Naomi und ihrem gemeinsamen Kind vor. Sie scheuen für ihre Inszenierung weder Geld noch Mühe. Sogar eine Beerdigung samt Sarg organisieren die Hamptons, um die Illusion des Todes Naomis zu perfektionieren und um so das Band der beiden Liebenden zu zerstören.

Die Zweifel des Friedhofswärters

Während sich nun Jacob und Naomi ihrerseits in Trauer zurückziehen, gibt es ein verbindendes Element zwischen den beiden jungen Menschen, gewissermaßen der dritte Beziehungspunkt in ihrem besonderen Dreieck. Den während Jacob in Korea weilte, bat er den von einer Polio-Infektion entstellten Friedhofswärter Blackburn, sich um Naomi zu kümmern. Das tat er auf einfühlsame Weise, sodass der englische Originaltitel The caretaker hier eigentlich noch viel besser greift als die alleinige Funktionsbezeichnung, die der deutsche Titel bemüht.

Nun, da auf dem von ihm betreuten Friedhof von Laurel Fork der Sarg von Naomi bestattet wurde, mag er sich trotz allem tief in seinem Herzen nicht mit der vermeintlichen Wahrheit des Todes von Naomi abfinden. In seinem Beistand für Jacob wächst doch auch die Irritation und das Gefühl, das etwas nicht wirklich stimmt, je mehr Jacobs Eltern nicht nur auf ihren Sohn, sondern auch auf den Friedhofswärter Einfluss nehmen wollen.

Zart und gerade dadurch so wuchtig kommt Ron Rashs Roman daher. Ebenso wichtig wie die Landschaft der Kleinstadt und der Weite North Carolinas ist auch die Seelenlandschaft seiner Held*innen.

Der Friedhofswärter spürt Verletzungen und Verwundungen in vielfacher Form nach. Von den erlebten Kriegsgräuel am eigenen Körper und den Verheerungen in der Seele, vom psychologischen Druck der eigenen Eltern, die wiederum den Verlust ihrer anderen beiden Kinder auch durch die Manipulation und Lenkung Jacobs erzielen wollen. Von der Ausgrenzung des jungen Paares in der Kleinstadt Blowing Rock oder das Mobbing Blackburns, der als Friedhofswärter und Poliokranker gleich zweifach stigmatisiert ist, erzählt Ron Rash anschaulich und fühlt sich mühelos in die Figuren ein, denen er ihre Vielschichtigkeit und Widersprüche lässt.

So ist Ron Rash selbst auch gewissermaßen ein Caretaker, der sich um seine Figuren kümmert, ihre Bedrüfnisse ernst nimmt und gerade daraus die Qalität seiner Prosa schöpft, die aufbauend auf der starken Grundidee des Plots auch die psychologische Ebene seines Romans sauber grundiert und dadurch auf Effekthascherei oder große Volten in der Erzählung verzichten kann.

Fazit

Übersetzt von Sigrun Arenz ist so ein ruhiger, glaubwürdiger und erinnerungswürdiger Roman entstanden, der das Lob von Richard Russo und Konsorten für Ron Rashs Schreiben eindrücklich beweist und untermauert. Verwundungen, Intrigen und die allesüberdauernde Kraft der Liebe auch gegen Widerstände sind die Themen, die Der Friedhofswärter behandelt. Entstanden ist in Rashs Bearbeitung daraus ein unsentimentaler und unkitischiger Roman, der mit wenigen Strichen das Leben und die Moralvorstellung der 50er Jahre in einer amerikanischen Kleinstadt plastisch wiederauferstehen lässt.


  • Ron Rash – Der Friedhofswärter
  • Aus dem Englischen von Sigrun Arenz
  • ISBN 978-3-7472-0607-2 (Ars Vivendi)
  • 240 Seiten- Preis: 24,00 €
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Claire Keegan – Reichlich spät

Wie prägen einen Menschen erlernte Verhaltensmuster? Claire Keegan untersucht es in ihrer kurzen Erzählung Reichlich spät auf eindringliche Art und Weise – und legt auf gerade einmal gut 50 Seiten Misogynie im Charakter eines Menschen und Frauenfeindlichkeit in einer ganzen Gesellschaft offen.


Achte auf deine Gedanken, denn sie formen deine Worte. Achte auf deine Worte, denn sie formen deine Taten. Achte auf deine Taten, denn sie formen deinen Charakter.

Diese Weisheit aus dem Talmud könnte man im Falle von Claire Keegans Erzählung Reichlich spät noch eine Dimension weiter fassen. Denn aus dem Charakter formt sich nicht nur ein Mensch alleine, auch formen die Charaktere die ganze Gesellschaft.

Das, was man hierzulande in Form von Gewaltexzessen gegen Wahlkämpfende und Politiker als Konsequenz einer Verrohung der politischen Sprache und des Diskurses beobachten kann, es ist auch im Text Keegans eine mitschwingende Dimension, die sich allerdings erst spät im Text offenbart.

Charakterliche Fehlstellen im Erscheinungsbild eines durchschnittlichen Iren

Zunächst beginnt alles höchst alltäglich und wenig aufsehenerregend. Ein Mann names Cathal sitzt in einem Büro und geht seiner buchhalterischen Tätigkeit nach. Es ist kurz vor drei Uhr an diesem 29. Juli und der Feierabend steht bevor.

Vom Merrion Square im Zentrum Dublins aus nimmt er den Bus, um nach Hause in Richtung Arklow zu fahren. Alles ist eigentlich so unscheinbar wie die übliche Bürokluft aus Hemd, Anzug und Krawatte, die ihn kleidet. Doch nicht nur die Schuhe des Mannes sind ungeputzt – es gibt auch charakterliche Fehlstellen im Erscheinungsbild dieses so durchschnittlichen Iren.

Es war ein ereignisarmer Tag gewesen, fast ein Tag wie jeder andere. Dann kam, nach der Haltestelle Jack White’s Inn, eine junge Frau den Gang entlang und setzte sich auf den freien Platz ihm gegenüber. Er saß da und atmete ihren Duft ein, bis ihm der Gedanke kam, dass es Tausende, wenn nicht Hundertausende von Frauen geben musste, die genauso dufteten.

Claire Keegan – Reichlich spät. S. 17

Von der Bewunderung bis zu Abfälligkeit und Abwertung von Frauen ist es nur ein kleiner Schritt bei Cathal, wie sich nicht nur bei dieser Busfahrt zeigt. Denn die Prägung durch einen misogynen Haushalts, in dem seiner Mutter eigentlich nur eine Rolle als Essensproduzentin und als Opfer von Spott und Erniedrigung durch die Männer der Familie zukam, sie ist eine, die bei Claire Keegan auch für einen Teil der irischen Gesellschaft gilt.

Ein Kennenlernen, die wenig Schmeichelndes offenlegt

Dies wird besonders deutlich in Cathals Gegenpart, seiner Partnerin Sabine, die Cathals Verhalten und seine Äußerungen hinterfragt.

Claire Keegan - Reichlich spät (Cover)

Über ein Kennenlernen bei einer Konferenz, folgende Dates und ein gemeinsames Zusammenziehen bis hin zum wenig romantischen, mit der Frage „Warum heiraten wir nicht?“ halbgar eingeleiteten Hochzeitsantrag, sind sich die beiden immer nähergekommen. Diese Annäherung legt aber auch die wenig schönen Seiten von Cathal offen, bei denen der Geiz noch zu den geringeren Problemen zählt.

Bis zur Pointe des Textes hin schält Claire Keegan in diesem wieder äußerst fein, mit Nuancen und Andeutungen spielenden Text immer stärker den wahren Charakter Cathals heraus. Das gelingt ihr – ganz im Sinne des Talmud-Zitats – indem sie die Worte und Taten dieses vordergründig so durchschnittlichen Büroarbeiters zeigt, die seinen Charakter formten – und nicht nur seinen, wie die Französin Sabine durch ihre Außenperspektive im Gespräch mit einer Bekannten feststellt:

„Sie hat gesagt, dass die Dinge sich jetzt vielleicht ändern, aber dass gut die Hälfte der Männer in deinem Alter einfach nur will, dass wir den Mund halten und euch geben, was ihr verlangt, dass ihr verzogen seid und verachtenswert werdet, wenn die Dinge nicht so laufen, wie ihr es wollt.“

„Ist das so?“

Er wollte es leugnen, aber was sie gesagt hatte, kam einer Wahrheit, die er bis dahin kein einziges Mal in Erwägung gezogen hatte, unangenehm nahe. Ihm ging durch den Sinn, dass er nichts dagegen hätte, wenn sie in diesem Moment den Mund hielte und ihm gäbe, was er verlangte.

Claire Keegan – Reichlich spät, S. 40f.

So hat dieser Text neben der beobachtenden Bestandsaufnahme von Cathals Charakter auch wieder eine gesellschaftliche Dimension, die hier angedacht und angedeutet ist.

Knappe Erzählung, großer Raum dahinter

Mit nicht einmal fünfzig, äußert großzügig gesetzten Textseiten, öffnet Reichlich spät einen großen Raum, der sich mit den Mechanismen von Zusammenleben und erlernter Misogynie (so auch der Originaltitel der im vergangenen Jahr erstmals veröffentlichten Erzählung) beschäftigt.

Obschon noch einmal knapper als die letzten beiden vom Steidlverlag veröffentlichten und ebenfalls von Hans-Christian Oeser übersetzten Erzählungen Kleine Dinge wie diese und Das dritte Licht zeigt auch dieser Text Keegans erzählerische Kunst. Nicht ohne Grund wurde die Autorin jüngst mit dem 6. Internationalen Siegfried Lenz-Preis ausgezeichnet, dessen Jury Keegan vor allem für die Knappheit und Dichte ihrer Prosa rühmte. Das Ausgesparte sei bei ihr mindestens ebenso von Bedeutung wie das Gesagt, so du Jury in ihrer Urteilsbegründung zur Preisvergabe.

Das lässt sich zweifelsohne auch über Reichlich spät sagen, auch wenn diese Entzauberung einer Beziehung und eines Mannes in Sachen Verknappung und Reduzierung noch einmal ganz neue Höhen erklimmt.


  • Claire Keegan – Reichlich spät
  • Aus dem Irischen von Hans-Christian Oeser
  • ISBN 978-3-96999-325-5 (Steidl)
  • 64 Seiten. Preis: 16,00 €
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