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Familienaufstellung mit Abgründen

Stephan Roiss – Triceratops

In our family portrait, we look pretty happy.
We look pretty normal, let’s go back to that

Pink: Family Portrait

Blickt man auf die Longlist des diesjährigen deutschen Buchpreises, so fällt auf, dass es ein großes, bestimmendes Thema gibt: Dysfunktionale Familien. Da ist Helena Adler, die in Die Infantin trägt den Scheitel links eine solche Familie heraufbeschwört. Hier die bigotte Mutter, da der dem Alkohol nicht abgeneigte Vater. Und mittendrin die Erzählerin, die mit kindlicher Präzision auf dieses familiäre Bildnis blickt. Auch die nächste Österreicherin auf der Longlist, nämliche Valerie Fritsch, hat sich dieses Themas angenommen. Auch bei ihr gibt es in Herzklappen von Johnson & Johnson Abgründiges aus dem Schoß der Familie zu entdecken. Sie erzählt über drei Generationen hinweg von gottesgläubigen Großmüttern, Großvätern mit Herzklappen und schmerzunempfindlichen Kindern. Und von dem, was Generationen verbindet und trennt.

Auch Bov Bjerg präsentiert in seinem nominierten Roman Serpentinen eine besondere Familienaufstellung. Er bringt seine Ahnenreihe auf folgenden Nenner:

„Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt. Zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Pioniere“

Bjerg, Bov: Serpentinen, S. 5

Im Roman erzählt Bjerg von einem Vater und seinem Sohn, die einen Ausflug auf die schwäbische Alb unternehmen. Stets reist die Kenntnis um die suizidalen Tendenzen in der männlichen Ahnenreihe der Familie mit. Und dann ist da auch noch Stephan Roiss, der in seinem Debüt Triceratops einmal mehr von einer dysfunktionalen Familie erzählt.

Eine Familie mit Abgründen

Im Gegensatz zu den anderen Büchern ist die Erzählinstanz in Roiss‘ Fall allerdings ein Wir. Dieses Wir ist ein namenloser Junge. Seine ältere Schwester war ein Wunschkind, er ein Unfall. Die Mutter der beiden glänzt oftmals durch Abwesenheit. Der Grund: sie befindet sich in psychologischer Behandlung. Oder wie sie es später selbst formuliert:

„Keiner kann aus seiner Haut“, sagte Mutter. „Ich war doch krank. Das habe ich mir ja nicht ausgesucht.“

Sie massierte ihre schmalen Handgelenke.

„Mein Vater hat sich das auch nicht ausgesucht. Der Krieg hat ihn krankgemacht. Und dann hat mein Vater mir seine Krankheit vererbt und ich wiederum habe – „

Sie hielt einen Moment inne.

„Ich … Ich habe es von ihm gelernt und – „

Mutter presste die Augen zusammen. Die Nachbarin klopfte das Keschernetz auf den Terrassenfliesen aus.

„Ich habe euch so viel Liebe gegeben, wie ich konnte. Ich wollte nie irgendjemandem etwas Böses.“

Roiss, Stephan: Triceratops, S. 185

Der Großvater hat sich als Kriegsheimkehrer auf dem heimischen Hof erhängt. Die Tochter fand den Vater im Stall. Damals sei dann der Wahnsinn auf die Tochter übergesprungen, so erzählt man es sich. Und nun kämpfen Sohn und Tochter beide auf ihre eigene Art und Weise mit dem familiären Erbe. Dass dieser Kampf nicht für alle Beteiligten gut ausgehen wird, so viel sei an dieser Stelle verraten. Bei dem dunklen und düsteren Ton, der im Buch herrscht, überrascht das allerdings wenig.

Das Wir erzählt

Stephan Roiss hat ein Buch geschrieben, das tief hinabsteigt in die Abgründe einer Familie. Seine Figuren, allen voran der Ich-Erzähler, sind Figuren, die im Kopf bleiben. Diesen Effekt erzählt Roiss durch eine gewisse Beiläufigkeit, mit der manche krassen Begebenheiten geschildert werden. Zudem bedient er sich auch einer verknappten und gerafften Darstellung (auch das so ein Merkmal einiger Bücher auf der Longlist). Viele Seiten sind nicht einmal zur Hälfte gefüllt. Schlaglichtartig skizziert Roiss Dialoge und Szenen, die gerade durch diese Prägnanz im Kopf bleiben.

Stephan Roiss - Triceratops (Cover)

Ganz schlüssig erscheint mir die gewählte Erzählform eines Wir allerdings nicht. Eine dissoziative Persönlichkeitsspaltung seines namenlosen Erzählers oder einen anderen zwingenden Grund für diese außergewöhnliche Erzählperspektive erschloss sich mir nicht. Hätte sich Roiss auf ein handelsübliches (und für mich besser lesbares) Ich oder Er beschränkt, hätte dieser Roman keinerlei Qualitätseinbußen verzeichnet.

Das ist aber auch schon der einzige Kritikpunkt, den ich für mich benennen kann. Ansonsten ist das Buch in seiner Stimmung und seinem Setting als Debüt mehr als beachtlich geraten. Tempo, Sound, Figuren – es stimmt alles. Zwar ist Triceratops alles andere als eine Feelgood-Lektüre. Aber als Schilderung einer österreichischen Familie mit schwerem Erbe weiß dieses außergewöhnlich erzählte Buch zu überzeugen. Und dass man sich gegen sein Schicksal nicht panzern kann wie ein Triceratops, das zeigt Roiss auch äußert eindrücklich. Zurecht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und wieder einmal eine echte Entdeckung des österreichischen Verlags Kremayr & Scheriau.


  • Stephan Roiss – Triceratops
  • ISBN 978-3-218-01229-4 (Kremayr & Scheriau)
  • 208 Seiten. Preis: 20,00 €

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Christine Wunnicke – Die Dame mit der bemalten Hand

Um den deutschsprachigen historischen Roman ist es nicht gut bestellt. Er gleicht oftmals lieblos produzierter Dutzendware, gerne auch in Form von Trilogien oder mehr, und liest sich, als hätten die Autor*innen eine Geschichte aus der heutigen Zeit einfach ein paar Jahrhunderte nach hinten datiert. Autos werden durch Kutschen oder Pferde ersetzt, die weiblichen Heldinnen sind durchweg tough und emanzipiert und man redet wie im 21. Jahrhundert miteinander. Belanglosigkeit allenorten.

Christine Wunnicke - Die Dame mit der bemalten Hand (Cover)

Doch da gibt es dann zum Glück auch noch Christine Wunnicke. Die Münchner Autorin hat sich im Lauf der Jahre ihre eigene Nische erschrieben. Geschichten voller Exotik, skurrilem Humor und fantasievollen Handlungsbögen, die alle anderen historischen Romane noch blasser wirken lassen, als sie es eh schon sind. Zweimal gelang ihr eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis (Der Fuchs und Dr. Shimamura im Jahr 2015, Katie 2017). Nun erscheint dieser Tage ihr neues Werk Die Dame mit der bemalten Hand. Und siehe da: auch dieses dritte Buch schaffte den Sprung auf die Longlist des Preises.

Und das zurecht, denn auch dieser Roman ist wieder ein origineller historischer Roman, der diesmal auf eine Insel in Indien entführt.

Drei Männer auf einer Insel

Dort, auf der Insel Elephanta beziehungsweise Gharapuri treffen 1764 zwei ganz unterschiedliche Männer aufeinander. Da ist zum Einen der aus Bremen stammende Carsten Niebuhr, den ein Forschungsauftrag seiner Göttinger Universität hierhergeführt hat. Eigentlich sollte ihn die Reise mit einer Gruppe anderer Forscher nach Arabien führen. Aber es kam alles etwas anders.

Jahrs darauf verließ Carsten Niebuhr Göttingen, um sich mit dem Philologus von Haven, dem Physikus Forsskål, einem Zeichner, einem Arzt und einem schwedischen Diener von Kopenhagen nach Konstantinopel einzuschiffen. Ein vielhundertseitiges Schriftstück, das die Instruktionen und alle Fragen enthielt, welche Professor Michaelis an die Bibel und ans Morgenland stellte, lag in seinm Gepäck. Vueke Gelehrte, aus vielen Ländern Europas, hatten brieflich etwas dazu beigesteuert.

Wunnicke, Christine: Die Dame mit der bemalten Hand, S. 38

Auch der zweite Mann auf der Insel hatte eigentlich ein anderes Reiseziel, nämlich Mekka. Dorthin wollte sich der Astrolabienbauer Musa al-Lahuri samt seines Helfers Malik aus Jaipur ursprünglich begeben. Doch die Windstille hat auch dieses Gespann auf Gharapuri stranden lassen. Dort, auf dieser von wenigen Menschen und vielen Affen bewohnten Insel stößt al-Lahuri nun auf den vom Fieber gezeichneten Niebuhr. Ein Schiff zur Abfahrt von der Insel ist nicht in Sichtweite. Und so lernen sich die beiden Männer allmählich kennen. Man erzählt sich gegenseitig die Lebensgeschichten oder das was man dafür hält. Man redet miteinander und aneinander vorbei, beobachtet den Himmel und kommt ins Philosophieren. Orient trifft auf Okzident.

Präzise gesetzt und von Humor durchdrungen

Die Dame mit der bemalten Hand ist ein Buch, das trotz oder gerade wegen seiner Kürze von 166 Seiten eine genaue Lektüre erfordert. Wunnicke lässt ihre Figuren sich ein ums andere Mal in einem babylonischen Sprachgewirr zwischen Sanskrit, Deutsch und Arabisch verfangen. Die skurrilen Figuren agieren mal hinterlistig, mal tollpatschig, mal staunend, mal salbadernd. Durch Wunnickes ganz eigene Sprache, die pointierten Dialoge und den ihr eigenen Humor entfaltet sich in diesem Buch ein originell verknapptes Panorama zwischen Ost und West.

Der Eingang zum Tempel auf der Insel Elephanta (Stahlstich). Quelle: Wikipedia

Leser*innen, die historische Romane als breit auserzählte Auswanderer-Pilger-Königskinder-Sagas kennen, dürfte das freilich irritieren. Hier ist alles reduziert und mit Genauigkeit gesetzt. Die Figuren, obwohl oft historisch verbürgt, werden von Christine Wunnicke wild auf dem Schachbrett der Geschichte hin- und hergezogen und sind von eigensinnigem Leben erfüllt.

Wie angenehm ist es, dass solche Originalität auch ihren Platz auf dem Buchmarkt hat – wenngleich Christine Wunnicke immer noch den Status eines Geheimtipps besitzt und auch der Berenberg-Verlag, in dem die Autorin erscheint, mit seinen wunderbar gestalteten Büchern eine eher kleinere Rolle auf dem Buchmarkt spielt. Umso schöner, wenn solch literarischer und verlegerischer Mut belohnt wird, wie in diesem Falle mit einer abermaligen Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises. Für die Shortlist ist dieses Buch wahrscheinlich zu eigen und wenig massenkompatibel, da es sich den gängigen Schemata widersetzt und für viele zu reduziert und karg sein könnte. Ich freue mich aber wirklich für Christine Wunnicke und die Aufmerksamkeit, die diesem Buch hoffentlich zuteil wird! Die Dame mit der bemalten Hand verdient es.

Marie Schmidt traf die Autorin für die SZ, Hauke Harder verfasste für den Leseschatz ebenfalls eine Rezension. Und auch bei Sätze&Schätze findet sich seit neuestem eine Rezension zum neuen Buch von Christine Wunnicke.


  • Christine Wunnicke – Die Dame mit der bemalten Hand
  • ISBN 978-3-946334-76-7 (Berenberg-Verlag)
  • 168 Seiten. Preis: 22,00 €
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Deniz Ohde – Streulicht

Von der Rückkehr an den Ort der Kindheit, vom schwierigen Kampf um Bildung und gesellschaftliche Anerkennung und von unsichtbaren Schranken erzählt Deniz Ohde in ihrem Debüt Streulicht. Endlich eine deutsche Antwort auf Didier Eribon, Annie Ernaux und Co.


Schon seit längerem machen es uns die Literat*innen aus Frankreich vor. Autor*innen wie Didier Eribon oder Annie Ernaux erkunden auf Grundlage ihrer eigenen Biografien Mechanismen und Schranken der Gesellschaft. Sie versuchen, über die eigene Geschichte (oder mithilfe von Autofiktion) die Bruchlinien und blinden Flecken der gesellschaftlichen Gegenwart zu erkunden. Im Falle von Didier Eribons Rückkehr nach Reims gelang dem Franzosen auch bei uns einer veritabler Bestseller. Darin setzt sich Eribon mit der Frage auseinander, warum in seiner Heimat nun so viele Menschen den Front National unterstützen und vom linken Spektrum ins rechte übergewechselt sind. Eine Analyse, die auch bei uns viele Leser*innen interessierte.

Oder etwa Annie Ernaux, die in ihren Werken anhand ihrer eigenen Biografie genaue Erkundungen des Milieus ihrer Eltern (Der Platz und Eine Frau) oder ihrer eigenen Sozialisation unternimmt. Mit wachsendem Erfolg wird die französische Autorin auch in Deutschland übersetzt und gelesen.

Deniz Ohde - Streulicht (Cover)

Bei aller Begeisterung für diese Werke stellte sich doch die Frage, warum man bei solch soziologisch grundierter Literatur eigentlich immer nur bei unseren Nachbarn fündig wurde. Das Interesse ist ja da, was nicht auch die Bestsellerplatzierungen der beiden Autor*innen zeigen. Nur deutsche Stimmen, die eine solche Art von Literatur schrieben, waren bislang nicht wirklich präsent. Bislang.

Denn mit Streulicht ist nun ein Roman zu entdecken, der genau hinschaut auf die Mechanismen und Ausschlusskriterien unserer Gesellschaft. Der den versteckten Rassismus genauso wie den offenen beleuchtet. Sich für die Verwerfungslinien unseres Miteinanders interessiert. Und der Klassismus, Identität und Herkunft erforscht und betrachtet. Dies gelingt der 1988 geborene Deniz Ohde, indem sie einmal mehr eine Heimkehrer-Geschichte erzählt.

Heimkehr an den Rande des Industrieparks

Die namenlose Erzählerin zieht es zurück an den Ort ihrer Kindheit, ihr Zuhause. Der Vater lebt noch, die Mutter ist schon verstorben. In dem trostlosen Haus, das sich Zuhause nennt, kehren die Erinnerungen zurück an ihre Kindheit und ihre Familie. Wie sie dort aufwuchs in der Siedlung hinter dem Industriepark, dessen Schlote und Rohre die ganze Silhouette der Stadt prägen. Dort, wo die meisten ihrer Mitmenschen in Lohn und Brot steht und auch ihr Vater schaffte, vierzig Jahre lang vierzig Stunden die Woche, Bleche in Lauge tauchte. Dort, wo der Industrieschnee an kalten Tagen auf alle Häuser niedersinkt und alles mit Asche und Grau überzieht. Und dort, wo der Park nachts glüht wie eine riesige gestrandete Untertasse und orangeweises Streulicht aus Neonröhren die Nacht hell macht (S. 14).

Dorthin kehrt die Erzählerin zurück und nimmt uns als Leser*innen mit in ihre Kindheit. Als sie mit Pikka und Sophia das Gebiet rund um die Chemiefabrik durchstreifte. Als sie in die Schule kam und an sich und den Lehrern scheiterte. Und wie sie trotzdem beharrlich gegen alle Wahrscheinlichkeiten zur Bildungsaufsteigerin wurde. Wie sie beschloss, beginnend mit einem Zeitabonnement, dass für sie trotz ihrer Herkunft (die Mutter stammt aus einem Dorf an der türkischen Schwarzmeerküste) trotzdem mit der Hauptschule nicht Schluss sein sollte. Dass ihr Name nicht ihre Karriere vorbestimmen sollte. Wie sie sich ihren Weg erkämpfte, durch alle Bildungsinstitutionen hindurch, von der Hauptschule bis zur Akademikerin. Davon erzählt Streulicht. Und das tut das Buch auf beeindruckende Art und Weise.

Vom unsichtbaren Rassismus

Das Buch erzählt aber auch von Rassismus, vom Gefühl, nicht dazuzugehören. Vom Gefühl, den einen Namen, der einen zum Ausländer macht, lieber zu verschweigen. Und von der Notwendigkeit, sich immer etwas mehr anstrengen zu müssen als die anderen.

Was sie nicht erzählen würde, wäre die Geschichte von meinem zwölften Geburtstag, als ich auf einem der Schultische einen Kuchen auspackte, den meine Mutter für die Klasse gebacken und in Alufolie eingeschlagen hatte. „Was ist das, ein Dönerspieß?“, hatte sie damals aus dem hinteren Ende des Raums gerufen und gelacht, dieses Lachen, das ich seitdem immer wiedererkenne, vor dem ich bis heute zurückschrecke, wie wenn man aus Versehen mit der Fingerspitze eine heiße Herdplatte streift, ein siebter Sinn. […]

„Das bildest du dir ein“, sagte Sophia. Es gäbe keine feindliche Gruppe, keine feindliche Umgebung. „Du nimmst die Dinge eben immer gleich persönlich“, sagte sie, und alle Anfeindungen glitten mir aus den Händen, glitten an der verspiegelten Scheibe herab und rutschen langsam zu Bode, wo sie kleben blieben wie zerkautes Zellophan. Jede Anfeindung spielte sich zwischen den Zeilen ab und war immer schon wieder verschwunden, wenn ich sie ansprechen wollte.

Ohde, Deniz: Streulicht, S. 123 f.

Fazit

Damit passt dieses Buch auch sehr gut in diese Zeit, in der die Debatten über Rassismus und Chancengerechtigkeit leider viel zu oft im Nichts versanden. Streulicht erzählt uns, wie es ist, wenn man nicht so wirklich dazugehört und sich seinen Platz im Leben gegen Widerstände erobern muss. Sein genauer Blick auf die Mechanismen unserer Gesellschaft und das Bildungswesen zeichnen das Buch dabei aus.

Dass das Buch nun auch selbst ausgezeichnet wurde, und zwar mit einer Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises, das ist nur folgerichtig. Denn Ohdes Buch ist präzise in seiner Beschreibung unserer Gesellschaft. Der Blick in die Unterschicht und das moderne Industrie-Proletariat überzeugt. Genauso schafft sie es, den Weg einer Bildungsverliererin hin zu einer -gewinnerin plausibel zu erzählen, auch gerade durch die Nicht-Verhaftung an Realien, die das ganze Buch kennzeichnet. Für mich ist Streulicht ein Kandidat für die Shortlist des Buchpreises. Gerade auch, da das Buch eben eine deutsche Antwort auf die eingangs erwähnten (zumeist) französischen Autoren ist.

Weitere Meinungen zum Buch gibt es hier: Hubert Winkels schreibt in der SZ über Ohdes Buch. Auch im Deutschlandfunk wurde Streulicht besprochen und zwar hier. Die taz widmete dem Buch ebenfalls eine Besprechung.


  • Deniz Ohde – Streulicht
  • ISBN: 978-3-518-42963-1 (Suhrkamp)
  • 284 Seiten. Preis: 22,00 €

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Iris Wolff – Die Unschärfe der Welt

Als letzten Dienstag die Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises verkündet wurde, fand sich auch dieses Buch auf der Liste: Iris Wolff mit ihrem Roman Die Unschärfe der Welt. Eine fragmentarisch erzählte Geschichte einer Banater Familie, die ich persönlich nicht auf der Liste erwartet hätte.


Denkt man an die Region des Banat beziehungsweise an Banater-Schwaben, dann sind es die Namen der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller und Richard Wagner, die wohl die prominentesten Vertreter*innen der Literatur dieses Landstrichs sind. Ein Gedicht Richard Wagners ist auch Iris Wolffs Roman vorangestellt. Wie der 1952 geborene Wagner stammt auch Iris Wolff aus dem Banat. 1977 wurde sie in Hermannstadt in Siebenbürgen geboren, zog jedoch 1985 mit ihrer Familie aus Rumänien nach Deutschland. Heute lebt und schreibt die Autorin in Freiburg im Breisgau.

Von der Frage der Heimat

Die Umkreisen der Frage der Heimat, es ist ein Thema, das auch ihrem neuen Buch zugrunde liegt. Von der Entfremdung und der doch stets präsenten Anziehung der Heimat erzählt ihr Buch, das sich aus sieben Kapiteln zusammensetzt. In jedem der Kapitel steht eine andere Figur im Mittelpunkt, die sich jedoch alle um die Familie von Samuel gruppieren. Sein Vater Hannes ist Pastor im Banat, seine Frau Florentine kümmert sich um Haus und Hof. Ein solch gastfreundliches Haus wie das der Eltern Samuels erregt natürlich Aufmerksamkeit, besonders die Securitate interessiert sich für das Treiben im Pfarrhaus.

Iris Wolff - Die Unschärfe der Welt (Cover)

Später wird Samuel spektakulär die Flucht in den Westen bis nach Deutschland antreten. Die Heimat wird er und die Heimat wird ihn aber nie so wirklich los. Spätestens nach dem Fall der Mauer zieht es den jungen Banater-Schwaben wieder in seine rumänische Heimat, wo er feststellen muss, dass man die Vergangenheit nicht einfach hinter sich lassen kann.

Iris Wolff hat ein Buch geschrieben, bei der die titelgebende Unschärfe wirklich Programm ist. Denn dieses Prinzip der Unschärfe ist für ihr Erzählen maßgeblich. So wechselt sie in jedem der sieben Kapitel die Erzählfigur, wodurch manchmal Irritationen ausgelöst werden, bis sich im Laufe des Kapitels die Bezüge zu den bislang eingeführten Figuren ergeben. Die Figuren werden hierbei nur skizziert, in kurzen, aber entscheidenden Momenten gezeigt. Sie bleiben eben unscharf. Das Buch besticht nicht wirklich durch eine genaue Figurenzeichnung, dafür ist auf den etwas mehr als 200 Seiten zu wenig Raum.

Auch für die genauen politischen Hintergründe oder eine genaue Verortung in einen Zeit- und Ortsgefüge interessiert sich die Autorin weniger. Vielmehr liegt der Fokus auf der flüchtig erzählten Familiengeschichte, deren Schicksal symptomatisch für viele andere Schicksale von Banater-Schwaben ist.

Sprachlich schwierig

Sprachlich stehe ich dem Buch etwas indifferent gegenüber. Denn Iris Wolff gelingen mitunter wirklich schöne Sätze und Aphorismen sowie genaue Beobachtungen. Dem stehen aber auch Passagen und Satzperioden entgegen, die für mich nicht nur am Kitsch entlangschrammen, sondern ausgiebig in ihm baden. Beispielsweise seien hier zwei Passagen kurz angeführt:

Er strich über die Zehen, die glatte Haut der Ferse, die Waden, die etwas von der Zeit bewahrt hatten, da Samuel ein Säugling gewesen war. Etwas blieb immer erhalten, erlaubte einen langsamen Abschied, Die Weichheit, die Glätte, das Zartgliedrige, Florentine nahm wahr, dass Bene diese Empfindungen nicht suchte, er nahm sie beiläufig auf, während er vorlas.

Wolff, Iris: Die Unschärfe der Welt, S. 25

Oder hier noch folgendes Beispiel:

Sie zog die Decke bis unters Kinn. Samuel hatte, ohne es zu wissen, die Landkarte ihres Körpers für sich eingenommen, und wenn es etwas gab, wofür sie an diesem Abend dankbar war, dann, dass dieser Atlas unsichtbar war.

Wolff, Iris: Die Unschärfe der Welt, S. 101

Solche Passagen ließen mich etwas mit dem Buch fremdeln, dass ansonsten doch eine Familiengeschichte bietet, die einer durchaus elegant skizzierten Aquarellzeichnung gleicht. Interessant montiert, für mein Empfinden allerdings nicht unbedingt buchpreiswürdig.

Das sieht auch Katharina Herrmann auf ihrem Blog Kulturgeschwätz so. Inzwischen wurde der Roman noch für einige weitere Buchpreise nominiert. So ist Iris Wolff neben dem Deutschen Buchpreis nun auch für den Bayerischen Buchpreis sowie den Wilhelm Raabe-Preis nominiert.


  • Iris Wolff – Die Unschärfe der Welt
  • ISBN: 978-3-608-98326-5 (Klett-Cotta)
  • 215 Seiten. Preis: 20,00 €
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Robert Seethaler – Der letzte Satz

Der Meister der literarischen Verknappung ist wieder zurück. Zwei Jahre nach seinem polyphonen Totengesang gibt es nun eine neue Erzählung des österreichischen Romanciers Robert Seethaler. Diesmal konzertriert er sich auf eine historisch verbürgte Figur, die er in Der letzte Satz zu Wort kommen lässt – Gustav Mahler.

Dieser befindet sich auf der Überfahrt nach Amerika. Die Kaiserkabine auf einem Schiff der Norddeutschen Lloyd AG ist für ihn gebucht. Ein eigner Schiffsjunge steht für den Maestro auf Abruf bereit – doch Mahler kann all den Komfort und Luxus überhaupt nicht genießen. Bluthusten und andere körperliche Gebrechen quälen den zeitlebens mit einer schwächlichen Konstitution geschlagenen Komponisten und Dirigenten. Während er an der Reling des Schiffs steht, fliegen seine Gedanken davon.

Erinnerungen an sein verstorbenes Kind peinigen ihn; die schwierige Beziehung zu seiner Frau Alma treibt ihn genauso um wie entscheidende Wegmarken seines Lebens, die er in Gedanken noch einmal passiert. Modellsitzen für Rodin, das für damalige Verhältnisse megalomanische Konzert der Tausend, seiner 8. Sinfonie, die er in der eigenes umgebauten Konzertsaal in München vor 3000 Zuhörern aufführte oder auch seine musikalischen Siege und Niederlagen. Eine große assoziative Revue eines musikalischen Lebens ist es, die Seethaler uns Leser*innen hier in denkbar verknappter Form darbietet.

Rückblick auf ein Künstlerleben

Hierfür durchbricht er die Rahmenhandlung auf dem Schiff für Einschübe und Rückblicke, die allmählich das Bild eines hochtalentierten, aber auch gequälten Arbeiters ergeben, der weniger Musik-Genie, denn wirklicher Tonarbeiter war. Der mit seinem Wirken, seiner Ehe und seiner Religion haderte.

Robert Seethaler - Der letzte Satz (Cover)

Den Mythos des komponierenden und dirigierenden Talents, dem die Einfälle nur so zuflogen, Seethaler bricht es bewusst. Hier liegt ein Künstlerroman vor, der seine Figur nicht verklärt, sondern auch ihre Kämpfe und ihr Scheitern nicht verschweigt.

Das ist gut gemacht und liest sich absolut flüssig weg. Nach gerade einmal 125 großzügig gesetzten Seiten ist dieses Mahler-Porträt schon am Ende angelangt. Die letzte Reise des österreichischen Musikers, sie findet ihr Ende. „Und das war gut, denn es war Zeit zu gehen“ (S. 126). Mit diesem letzten Satz endet Der letzte Satz.

Bei aller literarischen Kunstfertigkeit, die Seethaler zweifelsohne zueigen ist. So sehr wie im Trafikanten oder auch in Ein ganzes Leben rührt Mahlers Schicksal dann aber doch nicht an. Denn für ein wirklich ergreifendes Porträt bleibt Seethaler viel zu sehr an der Oberfläche und wagt zu wenig Introspektion.

Fehlende Widerhaken

Im Gegensatz zum Vorgängerroman Das Feld ist dieses Buch nun schon wieder fast zu einfach zu lesen. Man fliegt förmlich durch die Seiten und damit durch Mahlers Leben, immer eng entlang der tatsächlichen historischen Begegebenheiten. Aber was bleibt am Ende von der Lektüre? Für mich leider nicht allzu viel, das von diesem Buch in Erinnerung bleiben wird. Als biographischer Roman ist es etwas dünn, als Künstlerroman ebenfalls nicht wirklich ausgearbeitet. Eine Studie über einen innerlich zerrissenen Mann vielleicht? Oder doch eher eine biographische Skizze?

Egal was dieses Büchlein ist. Unterhaltsam ist es auf alle Fälle und sprachlich auf dem gewohnt knapp-souveränen Seethaler-Niveau. Auch wird das Buch sicher die Leser*innen wieder für sich einnehmen und die Bestsellerlisten erklimmen, was dem Österreicher und seinem Verlag ja zu wünschen ist. Aber die literarischen Widerhaken, die das Buch langfristig in meinem Kopf verankern, sie fehlen mir hier leider. Leider nur ein sprachlich ansprechendes Porträt von Stationen aus dem Leben des Meisters, in dem für mich nicht genug Musik drin ist.

Eine andere spannende Stimme (die sich auch mit meiner deckt) gibt es bei Aufklappen,


  • Robert Seethaler – Der letzte Satz
  • ISBN 978-3-446-26788-6 (Hanser)
  • 128 Seiten. Preis: 19,00 €
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