Daniel Mellem – Die Erfindung des Countdowns
Ein Leben als Countdown. Von Zehn auf Null erzählt Daniel Mellem in Die Erfindung des Countdowns vom Leben des Raketenpioniers Hermann Oberth. Eine widersprüchliche Figur, die Mellem manchmal nicht widersprüchlich genug schildert – aber dennoch gute Unterhaltung bietet.
Dabei ist das Thema der Physik eines, das Mellem schon vor seinem Roman umtrieb. Der 1987 geborene Autor studierte in London und Hamburg Physik und promovierte. Anschließend wechselte er von der Physik zum Fach der Literatur und studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Schon im Vorfeld konnte er einige Preise für sein Debüt einsammeln. So durfte er 2018 an der Schreibwerkstatt der Jürgen Ponto-Stiftung teilnehmen. Unter der Anleitung von Angelica Ammar und Saša Stanišić trieben 10 Nachwuchsautor*innen die Arbeit an ihren Romanmanuskripten voran. Dass nun ein Blurb von Stanišić auf dem Cover des Buchs prangt, das überrascht kaum.
Aber auch den Retzhof-Preis für junge Literatur und den Hamburger Literaturförderpreis konnte Daniel Mellem erringen. Viel Vorschusslorbeeren also, die bei mir unweigerlich die Frage evozierten: was kann das Buch wirklich?
Das Leben des Herrmann Oberth
Für seinen Roman hat sich Daniel Mellem eine spannende historische Figur ausgesucht. Herrmann Oberth gilt als einer DER Väter der Raketentechnik. In Schäßburg im heutigen Rumänien geboren fand er sich nach dem Ersten Weltkrieg in Rumänien plötzlich als Ausgestoßener wieder. Als deutsche Minderheit, ein sogenannter Volksdeutscher, wandelte er verloren zwischen Heimat in Siebenbürgen und Deutschland. Ebenso verloren fühlte sich Oberth auch mit seinem Dissertationsthema. Gegen den Wunsch seines Vaters verspürte er schon als Kind eine Faszination für Physik und forschte mit Feuereifer. Schon bald hatte er ein klares Ziel, auf das er hinarbeitete: eine funktionsfähige Rakete. Doch der Weg zu Sternen ist eben doch mehr als steinig.
Das muss Oberth auch in Mellems Buch feststellen. Daheim in Siebenbürgen wartet die Frau. Doch verbissen und unerbittlich treibt Oberth seinen Wunsch nach der Rakete voran. Er macht die Bekanntschaft mit Max Valier, dem Schrifsteller und sogenannten „Raketenmann“. Auch die Wege von Fritz Lang kreuzt Oberth, als er an der Entwicklung von dessen legendärem Film Frau im Mond mitwirkt (bei dem dann auch nebenbei auch der titelgebende Countdown erfunden wird, wie man aus Mellems Buch erfährt).
Eine prägende Gestalt, die für die weitere Karriere von Oberth entscheidend wird, ist Wernher von Braun. Oberth wird zu dessen Lehrmeister und gelangt dadurch bis nach Peenemünde, wo er sich inmitten der Raketenversuche der Nationalsozialisten wiederfindet.
Eine widersprüchliche Gestalt – nicht ganz widersprüchlich erzählt
Viel Material also und eine Figur, die durch ihre Widersprüche lebt. Ein Raketenwissenschaftler, der verloren zwischen Rumänien und Deutschland mäandert. Der die Schrecken des Ersten Weltkriegs am eigenen Leib miterlebt, der aber trotzdem an die Raketentechnik auch als Waffe glaubt. Der sich den Nazis andient, ihre Positionen mindestens in Teilen gutheißt. Der dann nach Amerika auswandert, sich aber nie vom Glauben an die Rakete losreißt, später sogar NPD-Mitglied wird.
Bei solch einer interessanten Figur überrascht es dann doch, wie glattpoliert und bruchlos Mellem vor allem den ersten Teil seines Buchs gestaltet. Dieser liest sich eher wie ein unterhaltendes Buch aus dem Diogenes-Programm (Kategorie Flutschbuch) denn ein wirklich tiefgehender und damit interessanter Roman.
Bezeichnend jener Dialog, den Oberth führt, um in Deutschland einreisen zu dürfen, obwohl er neuerdings als Rumäne nicht mehr einreisen dürfte.
Nach zwei Wochen kam er bei Salzburg endlich an der deutschen Grenze an. Erschöpft reichte er dem Grenzbeamten seinen Pass. Der warf einen Blick darauf und schüttelte den Kopf. „Sie können wider umkehren. Ausländer dürfen nicht einreisen.“
„Ich komme aus Siebenbürgen“.
„Eben“, sagte der Beamte. „Sie sind Rumäne“. (…)
„Und wenn Siebenbürgen überflutet worden wäre?“, fragte er. „Was wäre ich dann? Ein Fisch?“
Der Beamte mustere ihn stirnrunzelnd, schaute wieder in den Pass. Er zog seine Schublade auf, holte ein Dokument heraus, lächelte schließlich. Er drückte einen Stempel in Hermanns Pass.
„Na dann kommen Sie mal an Land“.
Mellem, Daniel: Die Erfindung des Countdowns, S. 76 f.
Auch ist die Figur des Hermann Oberth vor allem in jener ersten Hälfte wenig stimmig gezeichnet. So operiert sich der junge Mann in einer Schlacht des Ersten Weltkriegs kurzerhand selbst eine Kugel nach einem Steckschuss aus dem Bauch und ohrfeigt wenig später einen Arzt. Er füttert im Lazarett einen Soldaten, dem der Unterkiefer fehlt. Hingegen scheitert er zwecks Unkenntnis der Anatomie am Vollzug der ehelichen Pflichten. Auch seinen neugeborenen Sohn vermag er kaum im Arm zu halten. Alle das scheint mir im Kontext des Buchs als wenig stimmig.
Mit fortlaufender Dauer glätten sich diese Unstimmigkeiten allerdings und zeigen die Widersprüche im Denken und Handeln Oberths auf. Der Leitspruch Per aspera ad astra, also Durch Mühen zu den Sternen, in diesem Leben ist er plastisch zu bestaunen.
Im Countdown durch ein Leben
Schön auch die Idee, sich per Countdown in zehn Kapiteln durch das Leben Oberths zu erzählen. Von diesem strukturellen Kniff abgesehen bleiben Inszenierung und Sprache recht konventionell. Unterhaltsam ist es aber alle mal.
Und auch wenn ich selbst nicht restlos überzeugt von dem Buch bin: eine Empfehlung spreche ich für Die Erfindung des Countdowns trotzdem aus. Ebenso wie für das von mir schon besuchte Hermann-Oberth-Museum, das in Oberths früherem Wohnhaus im fränkischen Feucht beheimatet ist. In diesem kleinen Museum wird auf ehrenamtlicher Basis die Geschichte der Raumfahrt und Oberths Beitrag an dieser Geschichte vermittelt. Ein kleines Museum, das einen Besuch wert ist.