Tag Archives: Dorf

Sasa Stanisic – Fallensteller

Im Jahr 2014 gelang Saša Stanišić der bisher größte Erfolg in seiner Karriere als Schriftsteller: Mit seinem zweiten Buch Vor dem Fest errang er den Preis der Leipziger Buchmesse und war in der Folge ganz weit oben in den Bestsellerlisten dieses Landes zu finden. Nun gibt es zwei Jahre nach diesem Triumph neues Material vom bosnischen Erzähler, diesmal in Form von Kurzgeschichten.

Fallensteller von Saša Stanišić

Diese tragen Titel wie Billard Kasatschock oder Die große Illusion am Säge-, Holz-, und Hobelwerk Klingenreiter Import und Export. Den Hauptteil des Buches mit über 100 Seiten macht die titelgebende Erzählung vom Fallensteller aus. Darin kehrt er wieder nach Fürstenwalde zurück, jenes fiktives Dörfchen in der Uckermark, das er schon in Vor dem Fest erkundete. Nun lässt er den Fallensteller durchs Dorf streichen und beobachtet aus den Augen der Dorfbewohner das wunderliche Geschehen rund um Wölfe, Fallen und Dorfgemeinschaft. In anderen, kürzeren Erzählungen blickt er auf Georg Horwath, ein Handlungsreisender, irgendwo lost in translation oder einen leicht tumben und greisen Fabrikerben, dessen größtes Hobby die Zauberei ist. Mal kürzer, mal länger, mal versponnen, mal klarer schreibt sich Stanišić durch sein ganz eigenes Universum.

Seine Kurzgeschichten sind höchst heterogen und stellen damit eine krasse Abkehr zum meinem letzten Erzählband mit Kurzgeschichten von Anthony Marra dar. Wo bei Marra noch ein durchgängiges Erzählkonzept herrschte, sind hier die Fäden subtiler verbunden, zwar tauchen manchmal Charaktere oder Motive auch in anderen Erzählungen wieder auf, doch merkt man dem Fallensteller klar den versammelnden Charakter von Erzählungen jeglicher Couleur an. Viele der Erzählungen wurden schon einmal publiziert, so stammt der Billard Kasatschock etwa aus dem Jahr 2005.

Erzählungen, die irgendwo zwischen magischem Realismus, Dada, Alltagsbetrachtungen und Chiffren liegen, eingepackt in eine höchst außergewöhnliche Sprache, die in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ihresgleichen sucht!

 

 

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Juli Zeh – Unterleuten

„Unterleuten ist ein Gefängnis“ (Kathrin Kron-Hübschke)

„Unterleuten bedeutet Freiheit“ (Gerhard Fließ)

Zwischen diesen zwei Zitaten von Bewohnern des fiktiven Örtchens Unterleuten spielt sich im neuen Buch von Juli Zeh alles ab. Unterleuten liegt irgendwo in Brandenburg, eine Autostunde aber auch eine ganze Welt von Berlin entfernt. Das Dorf ist eigentlich recht pittoresk und wirkt aus der Zeit gefallen (keine Gehsteige, kein gemeinsames Abwassersystem, Lohn und Brot durch die Agrarwirtschaft) – doch wehe man blickt hinter die Fassade.

Unterleuten von Juli Zeh

Unterleuten von Juli Zeh

Der doppeldeutige Titel Unterleuten gibt in diesem Buch eindeutig die Schlagrichtung vor. Juli Zeh lässt vor den Augen des Lesers ein Dorf mit einem Personaltableau entstehen, das so disparat wie funktional ist. Jedes Kapitel wird aus der Sicht eines anderen Dorfbewohners erzählt und so beobachtet man das wunderliche Geschehen, dass sich sukzessive durch immer wieder neue Augen betrachtet ergibt, mit einer Mischung aus Befremden und Faszination,

Das auslösende Momentum für alle Dynamiken, die sich auf über 640 Seiten im Dorf entfalten werden, ist der geplante Bau einer Windkraftanlage. Die Heidelandschaft rund um Unterleuten wurde als Bebauungsgebiet ausgewiesen – diese Pläne lassen nun das ganze Dorf förmlich explodieren. Während die einen um die aus der DDR hinübergerettete Agrargemeinschaft fürchten, sieht ein Vogelschützer die ornithologische Vielfalt in Unterleuten bedroht. Dabei könnte das Geld, das der Bau der Windräder staatlich subventioniert einbrächte, das ganze Dorf auf Vordermann bringen.

Mit großer Lust stößt Juli Zeh den ersten Dominostein in diesem Roman um, dem viele weitere Steine folgen werden. Sie lässt die unterschiedlichen Lebensmodelle aufeinander prallen, lässt Westler an Ostler geraten, lässt Resignierende auf Veränderer stoßen und beobachtet aus den wechselnden Perspektiven, wie sich die ganzen kleinen schlummernden Glutnester langsam zu einem Großfeuer entzünden. Sie arbeitet hierbei auch stark mit den Mitteln der Komödie, denn immer wieder reden die Unterleutner Bewohner aneinander vorbei, wittern Konflikte, wo eigentlich nur Missverständnisse herrschen und manövrieren sich in Situationen, die eigentlich niemand wollte.

Ihr Figuren legt Juli Zeh dabei auch mit einer ordentlichen Lust an der Karikatur an. Im Haus der Vogelschützers (der eigentlich ein gescheiterter Berliner Soziologieprofessor ist) gibt es Hirseauflauf, der Großgrundbesitzer ist feist und versteht es seine Pfründe zu bewahren. Dies ist zwar nicht allzu subtil, macht aber Freude zu lesen. Dieses Dorf könnte man sich auch in einer Serienverfilmung gut vorstellen – hinziehen möchte man aber auf keinen Fall!

 

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Paul Finch – Schattenschläfer

Der Nebel des Grauens

 

Cumbria – im Grenzland zwischen England und Schottland. Unwegsame Täler, nur abgeschiedene Weiler und viel, viel Nebel. Hierhin hat es DS Mark „Heck“ Heckenburg nach den turbulenten Geschehnissen im Vorgänger Spurensammler verschlagen.
SchattenschläferEin verschlafener Landstrich, der nur von wenigen Menschen bevölkert wird und dessen raue Natur eher etwas für Naturfreunde und Wanderer ist. Hier kann eigentlich nichts schiefgehen denkt sich Heck und sieht einer ruhigen Zeit entgegen, als von jetzt auf gleich alles anders wird.
Der nicht enden wollende Nebel nimmt den Landstrich in die Zange und plötzlich macht ein mysteriöser Fremder Jagd auf Menschen. Zwei junge Wanderinnen sehen sich dem tödlichen Fremden gegenüber wie schon bald die komplette Bevölkerung des Lake District.
Da der Mörder stets den Frank-Sinatra-Hit Strangers in the night als Erkennungszeichen pfeift, kommt Heck ein beunruhigender Gedanke – vor zehn Jahren gab es nämlich schon einmal einen Mörder, der sich dieses Liedes bediente.

Damals glaubte man allerdings den Täter tot, nachdem Gemma Piper, Hecks künftige Chefin, als Lockvogel den Täter eigentlich tödlich verwundete. Kann es sein, dass der Fremde, so sein Name damals, zurückgekehrt ist?

Heck schlägt sich durch

Der Vorgängerband - Spurensammler

Der Vorgängerband – Spurensammler

Fein nuancierte Sprache, Figuren mit Tiefe und Widersprüchen oder langwierige Ermittlungsarbeit – das ist alles Paul Finchs Sache nicht. Mit der Dezenz eines Schaufelradbaggers rackert sich Heck stets durch die Bücher von Paul Finch. Egal ob John McClane, Nick Tschiller oder Frank Martin – Heck kann sich in der Reihe der Raubeine und Ein-Mann-Armeen durchaus einreihen.

Selbstverständlich ist im ländlichen Setting das Verbrechen nicht fern, wenn Heck in einem Polizei-Cottage sitzt. Auch wenn es ein wenig unglaubwürdig wirkt, dass der omnipräsente Nebel und ein einziger Mörder ausreichen, um ein komplettes Dorf nebst Polizei in Schach zu halten, so nimmt man es in Schattenschläfer doch hin, da Finch das Tempo hoch hält. Quasi ab der Mitte des Buchs steht die Handlung nicht mehr still, als der Mörder Finch, Gemma und das ganze Dorf unter Beschuss nimmt.
Paul Finch schafft es, mit Cliffhangern, geschickten Perspektivwechseln und viel Atmosphäre für Grusel beim Leser zu sorgen.

Ein typischer Paul Finch

Schattenschläfer reiht sich mit allen Stärken und Schwächen nahtlos in die Heckenburg-Reihe ein.
Die Figuren hätten ruhig etwas mehr Tiefe bekommen dürfen, so agieren sie oftmals sehr stereotyp (Heck als Draufgänger muss natürlich die Frauen und Dorfbewohner schützen und schreckt vor keinem Alleingang zurück). Die Komplexität des Plots ist nicht hoch, dies ist aber auch nicht Ziel Finchs. Das Buch weiß zu unterhalten, Spannung zu erzeugen und den Leser gruseln zu lassen. Mehr bietet das Buch nicht, weniger aber auch nicht. Ein fixer Thriller für Zwischendurch, dessen erneut eingefärbter Buchschnitt sicher ein Hingucker im Buchregal ist!
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Daniel Woodrell – In Almas Augen

Erinnerungssplitter

Er ist einer der großen Unbekannten der amerikanischen Literatur, die in Deutschland meiner Meinung nach sträflich vernachlässigt werden – die Rede ist von Daniel Woodrell. Daniel Wer? In Deutschland wird dieser Autor erst langsam bekannter, obwohl er schon einige formidable Erfolge vorweisen kann. Am bekanntesten dürfte wahrscheinlich sein Buch Winters Knochen sein, das unter dem Originaltitel Winter’s Bone mit Jennifer Lawrence verfilmt wurde. Ein wüster und dreckiger Neo-Country noir, der ins Hinterland von Amerika führt.

Nach einigen Veröffentlichungen liegt nun sein neuestes Werk im Taschenbuch vor, das den Titel In Almas Augen trägt. Dieses Buch hat es bis auf Platz 1 der KrimiZEIT-Bestenliste geschafft, ein beachtlicher Erfolg für den Autor, dem der große Durchbruch noch immer nicht beschieden ist.

In Almas Augen erzählt geschickt montiert die Geschichte eines großen Unglücks, das 1929 eine Kleinstadt in Missouri heimsuchte. Bei einer Ballveranstaltung flog das gesamte Gebäude in die Luft, Augenzeugen berichteten von 30 bis 90 Meter hohen Lohen, die in den Nachthimmel aufstiegen. Zahlreiche Tote waren das Ergebnis des Unglücks – die Erinnerung an die Geschehnisse von damals ist noch höchst lebendig. Doch handelte es sich wirklich um ein Unglück – oder was ist damals wirklich passiert?

40 Jahre nach der Explosion meldet sich die Erinnerung und das Gewissen von Alma, einer alten Haushälterin die damals schon im Ort wohnte, zu Wort. In kleinen Splittern setzt sich langsam ein Bild der damaligen Ereignisse zusammen. In den Erzählungen von Alma bildet sich sukzezzisve ein Mikrokosmos des damaligen Leben, bestehend aus Korruption, Wegschauen und Begehren. Immer wieder werden kleine Miniaturen der Ballbesucher in den Text geschnitten und man betrachtet das Alltagsleben durch die Augen Almas und sieht, wer wen betrog und welche Geheimnisse die Bürger hüteten.

Erst auf den letzten Seiten löst Woodrell die Hintergründe zu der Explosion auf und zeigt dem Leser durch Almas Augen, wie es zu dem Ereignis kam. Bis dahin wurde man mit einer klug gestrickten Erzählung bestens unterhalten. Wem In Almas Augen gefallen hat, der sollte dann auch mal einen Blick zum weiteren Schaffen Woodrells wagen – ich empfehle neben dem eingangs schon erwähnten Winters Knochen auch Der Tod von Sweet Mister, einem eindringlichen Porträt eines Jungen, die wider Willen in kriminelle Umtriebe hineingezogen wird.

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Hakan Nesser – Die Lebenden und die Toten von Winsford

Eine Frau, ein Hund und viel englischer Nebel – dies sind die Hauptkomponenten in Hakan Nessers neuem Roman Die Lebenden und die Toten von Winsford. Nach Himmel über London bleibt der Schwede Nesser nun in England, auch wenn das neue Buch in der englischen Provinz in Cornwall angesiedelt ist.


Maria Andersson: so nennt sich die Frau, die sich im kleinen Dorf Winsford niedergelassen hat. Einen Hund hat sie im Gepäck – und vor allem einige Geheimnisse, die erst langsam ans Tageslicht drängen. Früher hat diese Maria Andersson beim Fernsehen gearbeitet, nun schützt sie allerdings vor, ein Buch zu schreiben. Sie bezieht ein zugiges Cottage und fasst langsam im Dorf Fuß. Ihre Tage werden von Routine bestimmt. Den Hund ausführen, den lokalen Pub besuchen und darauf hoffen, dass die Dorfbewohner nicht hinter die Geheimnisse kommen, die sie so sorgsam hütet.

Eine Frau mit einem Geheimnis

Hakan Nesser - Die Lebenden und Toten von Winsford (Cover)

Genauso wie den Dorfbewohnern ergeht es auch dem Leser. Überlegt man zunächst noch, was die Schwedin von der Geschäftigkeit Stockholms ins ländliche England verschlägt, so kommt man schon bald den Geheimnissen der geheimnisvollen Fremden auf die Spur.

Ist sie vor jemandem auf der Flucht? Welches Schicksal hat die Schwedin in die Provinz gebracht?

Die Idee, die hinter „Die Lebenden und Toten von Winsford“ stehthat durchaus seinen Reiz: Eine Frau, die ein Geheimnis hütet und dieses erst allmählich ans Licht gezerrt wird – dieses Motiv in den Händen von Hakan Nesser, da kann eigentlich nichts schief gehen.

Verschwunden im englischen Nebel

Leider stellt sich mit Fortschreiten des Buchs ein gewisses Gefühl der Redundanz ein. Ähnlich wie mit der Monotonie und Einöde der englischen Landschaft, in der sich Maria befindet geht es dem Leser auch an einigen Stellen. Zahllose Wiederholungen des Wetters und der Beschreibung der Spaziergänge Marias sind nicht gerade dazu angetan, die Spannung des Buchs zu erhöhen. Um einen Krimi handelt es sich bei Die Lebenden und die Toten von Winsford eh nur im weiteren Sinn. Spannung kommt erst im letzten Drittel des Buches auf, das Buch überzeugt vielmehr durch seine dichte Atmosphäre, die Nesser hervorragend einzufangen weiß.

So ist das neue Buch des Schweden eher die Psychostudie einer getriebenen Frau als ein Spannungsroman. Für alle Liebhaber von England und im Speziellen von Cornwall ist dieser Titel auch auf jeden Fall eine Empfehlung wert!

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