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Maggie Shipstead – Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit

Solch ein grandioser Titel – und der Inhalt stimmt auch. Maggie Shipstead in Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit über drei Tage Ausnahmezustand im Vorfeld einer Hochzeit – und den unbedingten Wunsch, in den feinen Kreisen dazugehören zu wollen. Eine feine Sezierung der amerikanischen Oberschichtswelt – und das Porträt eines Mannes mit Fehl und Tadel.


Alles ist bereit auf Waskeke Island, einer Insel vor der Küste Maines. In drei Tagen soll die Hochzeit von Daphne Van Meter stattfinden, der Tochter von Winn Van Meter. Deshalb setzt der Familienpatriach auf die Insel über, um seinen Frauen das benötigte Brautkleid und Unterstützung zu liefern.

Vor Ort gleicht das Treiben im Anwesen der Familie auf der Insel einem Bienenstock. Die Brautjungfern müssen zu Kostüm- und Figurproben, die Hochzeitsplanerin will letzte Details durchgehen, die Familie des Bräutigams hat sich angekündigt und dann sind dann da auch noch die Erinnerungen an eine Begegnung mit einer der Brautjungfern, die so gar nicht schicklich und gesittet ablief, wie es sonst die Art von Winn ist.

Ein Leben wie aus dem Upperclass-Bilderbuch

Maggie Shipstead - Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (Cover)

Denn eigentlich lebt Winn ja ein Upperclass-Leben wie im Bilderbuch. Der Nachlass seiner Väter hat ihm finanzielle Unabhängigkeit beschert, mit seiner Frau hat er zwei Töchter (wenngleich ihm Jungen erheblich mehr bedeutet hätten) und Mitglied in den richtigen Clubs und Verbindungen ist er auch noch. Wenn da nur nicht die erstrebte Mitgliedschaft im Golfclub Pequod wäre, die ihm bislang verwehrt blieb und für ihn die Erfüllung seiner Träume bedeuten würde.

Ob diese ausbleibende Einladung in den Golfclub mit alten Rivalitäten zu tun haben könnte, darüber wird er das ganze Buch über nachgrübeln, besonders da seine jüngere Tochter eine Liasion an die Familie eines alten Intimus und Intimfeind band.

Das alles dröselt Maggie Shipstead Stück für Stück auf und verquickt die turbulente Gegenwart der drei Hochzeitstage gekonnt mit der Vergangenheit Winns und dessen Lebensweg, der ihn bis nach Waskeke führte.

Ein Familienpatriach mit Fehl und Tadel

Dabei zeichnet sie das Bild eines Mannes, der sich in der Rolle des Familienpatriarchen gefällt, dessen Leben aber doch mehr Fehl und Tadel bereithält, als die Fassade den Anschein macht. Denn neben seinem Traumhaus, der materiellen Sorglosigkeit und seinem Dasein als Hobbykoch, der für ein Dinner mit der Schwiegerfamilie schon einmal zwanzig respektive 19 Hummer in den Topf wirft, gibt es noch andere, deutlich weniger hell glänzende Punkte in seiner Vergangenheit.

Das seziert Magie Shipstead gekonnt und zeichnet leichtfüßig und mit viel Humor das Treiben auf Waskeke, das mich persönlich an zwei filmische Referenzen erinnerte. Da wäre das chaotische und familiäre Treiben rund um die Hochzeit auf einer Insel, das an das Abba-Musical Mamma Mia erinnert. Ebenso trägt das Geschehen von Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit aber auch Züge des Weihnachtsfilm-Klassikers National Lampoon’s Christmas Vacation beziehungsweise Schöne Bescherung, wie der Film mit Chevy Chase in der deutschen Fassung hieß.

Auch hier gerät die Welt eines Familienvaters gehörig ins Wanken, als in dessen Haus neben der eigenen Familie auch noch die Schwiegerfamilie einfällt uns sich die Ereignisse überstürzen. Alles kommt anders als geplant und am Ende entpuppen sich im Strudel der Ereignisse grundfeste Gewissheiten als durchaus trügerisch, eben Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit.

Fazit

Die komischen Züge dieses filmischen Geschehens trägt auch die Geschichte von Maggie Shipstead ein Stück weit und schafft damit ein leichtes, aber keineswegs belangloses Buch, das gekonnt vom Treiben der Oberschicht an der amerikanischen Ostküste erzählt. Es ist auch das Bild eines Mannes, dessen Leben leicht in Turbulenzen gerät, als sich Gewissheiten verschieben und der Strömungsgeschwindkeit, die ihn bislang durchs Leben trug, nun doch mit Abriss droht. Das ist verngüglich, nah an den Figuren und von daher mehr als ein gelungener Sommerschmöker. Jetzt in der Neuauflage auch nicht zuletzt endlich mit einem annehmbareren Bild als jenem, das die Erstausgabe aus dem Jahr 2012 zierte.


  • Maggie Shipstead – Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit
  • Aus dem Englischen von Karen Nölle
  • ISBN 978-3-423-14837-5 (dtv)
  • 440 Seiten. Preis: 13,00 €

José Ovejero – Aufstand

Wohl jeder, der schon einmal in einer WG gewohnt hat, kann bestätigen, dass eine gemeinsame Wohnung noch lange nicht für gemeinsame Weltanschauung oder Werte sorgt. Doch auch wenn man in völlig unterschiedlichen Verhältnissen lebt, kann es mit der gemeinsame Sicht auf die Dinge weit her sein, sogar wenn es sich um Vater und Tochter handelt. Das zeigt José Ovejero in Aufstand auf eindrückliche Weise und lässt gesetzten Radiomoderator auf Hausbesetzer-Tochter treffen. Mit explosiven Folgen.


Im Mittelpunkt von Aufstand steht der Radiomoderator Aitor, der getrennt von seiner Frau lebt und sich in Madrid mit seinen beiden Kindern eine Wohnung teilt. Ihn führt José Oevejero mit folgenden Worten ein:

Aitor konnte sich an kein Ereignis in seinem Leben erinnern, das ihm so nahegegangen wäre wie das Verschwinden seiner Tochter. Obwohl Ana nach mehrmaliger Ankündigung, vielmehr Drohung, das Haus freiwillig verlassen hatte, fühlte Aitor die gleiche Verzweiflung wie jemand, der bei einem Unfall oder einer Katatstrophe einen geliebten Menschen verloren hat. Dass er selbst sich niemals eigene Kinder gewünscht hatte, tröstete ihn nicht.

José Ovejero – Aufstand, S. 7

Schon früher hatte Ana immer wieder das gemeinsame Zuhause verlassen, war nach Tagen mit neuen Piercings oder Tätowierungen nachhause gekommen. Doch nun ist alles anders, denn es sind schon mehr Tage als bisher üblich vergangen – und von Ana fehlt weiterhin jede Spur.

Die Hausbesetzerin und ihr Vater

Was mit ihr in der Zwischenzeit passiert ist, das erzählt Ovejero in der zentralen zweiten Perspektive des Buchs. Denn Ana ist zur Hausbesetzerin geworden, hat mit anderen illegal ein Haus bezogen, das auf den Namen El Agujero hört. Dort lebt sie mit andere auf siffigen Matratzen, zieht durch die Straßen, bettelt und plant Unternehmungen in jenem Kampf, den sie gegen die Touristenhorden führen, die Madrid überfluten.

Jose Ovejero - Aufstand (Cover)

Das bedeutet dann schon einmal, dass Ana und Gleichgesinnte ein durchsichtiges Seil spannen, um eine geführte Tourist*innengruppe auf Segways zu Fall zu bringen. Doch auch vor anderen Aktionen wie einer Bombe vor einem Polizeipräsidium schreckt Ana nicht zurück, wenngleich die Bombe den Worten ihres Bruders zufolge eher ein Knallkörper war.

Und so beobachet José Ovejero, wie Vater und Tochter auf ganz unterschiedliche Art und Weise mit der neuen Lebenssituation umgehen. Ana widmet sich ihrem Kampf – und Aitor beauftragt einen Privatdetektiv, der seiner Tochter nachspüren soll, während er beruflich unter Druck steht.

Denn die anonymen CEOs des Radiosenders, für den Aitor arbeitet, sparen den Sender immer weiter kaputt und rationalisieren alle bestehenden Strukturen völlig weg. Um weiterhin seinem Beruf nachgehen zu können, schließt Aitor einen folgenreichen Deal mit seinen Vorgesetzten. Und auch seine Wohnsituation ändert er – zwar nicht so entscheidend wie seine Tochter, aber dennoch wird auch das eine folgenreiche Entscheidung, die im Buch noch eine Rolle spielt.

Angespannter Wohnungsmarkt, angespannte Beziehungen

Aufstand ist ein Buch, das einen Blick auf den angespannten Wohnungsmarkt in Madrid wirft, in dem Ovejero Aitors bourgeoise Situation mit der der Wohnungsbesetzer vergleicht, die in der spanischen Hauptstadt und anderswo schon längst viele Dutzende Wohnungen als Gegenmodell zu Mietwucher und Co besetzt haben (die sogenannten Okupados).

Ovejeros Buch erzählt aber auch von Radikalsierung und Entfremdung in Beziehungen. So sind es bei Aitor und dessen Tochter Ana gerade einmal hastig an den Kühlschrank gepinnte Gedichte, über die die beiden noch kommunizieren, wenn die Lebensrealitäten schon so unterschiedlich geworden sind.

Was das Buch neben diesen sehr aktuellen und weit über Spanien hinausweisenden Themen so herausfordernd macht, ist die Erzählweise. Denn neben der hauptsächlichen Perspektiven von Aitor und Ana schleicht sich auch der Privatdetektiv Javier in den Fokus des Buchs – und Aitors Exfrau Isabel spielt ebenfalls eine Rolle.

Während diese Figuren eigentlich durch ihr Biografien sehr unterschiedlich angelegt sind, so verschwimmen diese Unterschiede auf sprachlicher Ebene stark. Denn Ovejero wählt einen ungewöhnlichen Erzählkniff, indem er die Erzählperspektiven konsequent durcheinanderwürfelt. Über alle Figuren wird mal in der Ich-Perspektive erzählt, dann werden sie wieder mit Du adressiert oder man schaut ihnen in der 3. Person über die Schulter (Übersetzung aus dem Spanischen von Patricia Hansel).

Gedichte und seitenweise Dialoge ergänzen das Geschriebene – und erfordern viel Konzentration beim Lesen, da es der vielperspektivische Erzählansatz nicht immer leicht macht, den Überblick über das Geschehen zu bewahren und der Handlung zu folgen.

Fazit

So ist Aufstand ein literarisch herausfordernder Kommentar auf Wohnungsnot und Entfremdung im Spanien dieser Tage geworden. José Ovejero gelingt ein Buch, das von Radikalisierung erzählt, und das durch einen ebenso genauen Blick auf die Hausbesetzerszene in Madrid wie auch auf eine komplexe Vater-Tochter-Beziehung besticht.


  • José Ovejero – Aufstand
  • Aus dem Spanischen von Patricia Hansel
  • ISBN 978-3-96054-296-4 (Nautilus)
  • 328 Seiten. Preis: 26,00 €

Cay Rademacher – Die Passage nach Maskat

Wenn es ein Motiv in der Kriminalliteratur gibt, das nicht aus der Mode zu kommen scheint, dann ist es wohl das des Mords auf einem Schiff. Agatha Christie popularisierte es mit ihrem Tod auf dem Nil (immer wieder verfilmt, etwa jüngst von Kenneth Branagh), Sebastian Fitzek gelang mit Passagier 23 ein (ebenfalls verfilmter) Bestseller, im letzten Jahr war es Stuart Turton, der die hermetische Enge des Schiffs für einen historischen Krimi nutzte. Und nun hat auch Cay Rademacher das Schiff als Schauplatz eines Krimis für sich entdeckt. In Die Passage nach Maskat schickt er Ende der 20er Jahre einen Pressefotografen an Bord eines Ozeanliners auf die Suche nach seiner eigenen Frau.


Rademacher, der bislang mit historischen Stücken (Der Trümmermörder) und Frankreich-Krimis (Gefährliche Côte Bleu) in Erscheinung trat und damit gleich zwei boomende Themen im Kriminalroman besetzte, spendiert nun im Jahr 1929 dem für die Berliner Illustrirte arbeitenden Pressefotografen Theodor Jung eine Reise an Bord des Ozeanliners Champollion.

Von Marseille bis Maskat

Cay Rademacher - Die Passage nach Maskat (Cover)

Von Marseille aus soll die Reise über den Suezkanal bis nach Maskat, die Hauptstadt des Oman, führen. Doch Jung reist nicht alleine. Ihn begleitet seine Frau Dora – wobei man eigentlich eher davon sprechen müsste, dass Jung seine Frau Dora begleiten darf. Denn diese entstammt der reichen Gewürzhandelsdynastie Rosterg, die in Form des Patriarchen Hugo Rosterg, dessen Gattin und Sohn sowie des Prokuristen Lüttgen mit an Bord ist. Im Oman hofft man auf ertragbringende Geschäfte für das Gewürzhaus – und Lüttgen auf das Ende der Beziehung von Dora und Theodor, möchte er doch selbst in der Familie aufsteigen und die Tochter des Patriarchen ehelichen.

Und so schippert man vom Hafen von Marseille aus über Port Said, parliert an Bord, während Theodor Fotos von seiner Reise knipst – schließlich hofft die Berliner Illustrirte auch auf exotische Fotos aus Afrika, die bei der Reise abfallen sollen. Doch plötzlich bekommt die Reise eine unerwartete Wendung. Eines Abends fehlt ein Stuhl am Tisch der Familie Rosterg – und Dora ist verschwunden. Als jeder der Familie behauptet, dass Dora nie an Bord gewesen sei, beginnt Jung an seinem Verstand zu verzweifeln. Nirgendwo auf dem Schiff finden sich Spuren seiner Frau – hat er sich alles nur eingebildet? Oder treibt die Familie ein doppeltes Spiel mit ihm, um Geheimnisse zu kaschieren?

Das Schiff als nimmermüdes Kriegsmotiv

Das Schiff als Schauplatz, es hat seine Vorzüge, was es für Krimis zum immer wieder beliebten Motiv werden lässt. Ein abgeschlossener Raum auf dem Meer, keine Fluchtmöglichkeiten, ein überschaubares Personenensemble und damit auch viele Möglichkeiten für die Leserinnen und Leser, mitzuraten. Wer ist verdächtig? Was könnte hinter dem Verschwinden von Dora stecken? Stellvertretend für uns Leser*innen tappt Theodor über das Schiff, an seiner Seite die Stwardess Fanny, die dem durch seine Erlebnisse als U-Boot Besatzungsmitglied im Ersten Weltkrieg traumatisierten Fotografen beisteht. Zusammen ermitteln sie sich durch das Schiff, begegnen gefallenen Tanzstars, kriminellen Schlägern und der (scheinbar) feinen Gesellschaft an Bord der Champollion.

Dabei braucht Cay Rademachers Schiff dann allerdings einige Zeit, ehe es in kriminellen Gefilde kommt. Die ersten hundert Seiten vergehen doch eher wie auf dem Traumschiff, statt durch atemlose Spannung zu bestechen. So gibt es zwar eine Drohung durch den Prokuristen der Familie Rosterg, die gegen Jung ausgesprochen wird. Aber bis der versprochene Krimi wirklich losgeht, dauert es einige Zeit.

Man schlendert durch Marseille, Theodor Jungs traumatisierende U-Boot-Erfahrungen und sein Job bei der Berliner Illustrirten wird vorgestellt, das Personenensemble an Bord gemächlich eingeführt (dass dann aber größtenteils doch blass und rein funktional bleibt).

Häufig ist auch viel Kulissenschieberei dabei, etwa wenn man extra zu den Ausgrabungen von Howard Carter in der Wüste Ägyptens aufbricht, um so die zur selben Zeit staffindenden historischen Ausgrabungen auf dem Schauplatzzettel abhaken zu können. Oftmals kaschieren diese Schauwerte den geringen kriminalliterarischen Gehalt des Buchs. Das ist doch alles recht brav und bieder gehalten und weiß weder als Krimi noch als historischer Roman so recht zu überzeugen. Etwas mehr Schwung und neue Ideen fernab der bekannten Ermittlungstropen und Motive, das hätte hier Not getan.

Fazit

So ist Cay Rademachers Buch in meinen Augen dann bisweilen dann doch eher kriminalliterarisches Traumschiff als wirklich mitreißend erzähltes Spannungswerk, das auch mit seiner Auflösung nicht ganz überzeuen kann. Als solide Spannungsware ohne viel Gemetzel oder Blutfontänen taugt Die Passage nach Maskat allemal, aber leider verzichtet das Buch auf Überraschendes oder wirklich mitreißende Spannungsmomente.


  • Cay Rademacher – Die Passage nach Maskat
  • ISBN 978-3-8321-8197-0 (DuMont)
  • 368 Seiten. Preis: 22,00 €

Tessa Hadley – Freie Liebe

Der Ehebruch, er ist in der Literatur ja ein mehr als gut verhandeltes Thema, von den Klassikern bis hin zu ganz aktuellen Romanen spielt weibliche Treue und weibliches Begehren immer wieder eine Rolle. Braucht es da noch einen Roman, der sich dieses Themas annimmt? Eigentlich nicht, aber wenn er von Tessa Hadley stammt, dann sollte man aufhorchen.


Es ist eigentlich eine ganz typische Durchschnitts-Existenz, die Phyllis Fischer führt. Zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern Colette und Hugh bewohnt die Vierzigjährige ein Haus mit großem Garten in guter Nachbarschaft, ihr Mann arbeitet als leitender Angestellter im Außenministerium, ein „mit allen Wassern gewaschener Arabist“ und Probleme quälen die Familie wirklich nicht.

Eigentlich war sie ganz einfach, ein einfacher Mensch, leicht glücklich zu machen, froh, wenn sie andere glücklich machen konnte. Sie war mit ihrem Leben zufrieden. Es war das Jahr 1967.

Tessa Hadley – Freie Liebe, S. 8

Doch gleich zu Beginn des Buchs soll ein abendliches Essen mit einem befreundeten Ehepaar stattfinden. Neben dem Ehepaar ist auch deren Sohn Nicholas „Nicky“ anwesend, der mit Phyllis von der Tafel aufbricht, um die Sandale eines der Kinder aus einem Brunnen bei den Nachbarn zu angeln. Die Rettungsmission gelingt – und es kommt zu einem folgenreichen Kuss im dunklen Garten der Nachbarn.

Fortan ist Phyllis in Liebe zu Nicky entbrannt – was auf Gegenseitigkeit beruht. Sie besucht diesen in seiner Londoner Bude und es entspinnt sich ein folgenreiches Tête-a-tête, das sich intensiviert.

Ein Riss im familiären Gefüge

Tessa Hadley - Freie Liebe (Cover)

Phyllis beschließt, auf unbestimmte Zeit zu ihrem jungen Liebhaber zu ziehen, der im Dunstkreis von Beatniks und Revoluzzern integraler Teil des „Swinging Londons“ ist. Kurzerhand schreibt sie ihrem Mann einen Zettel, auf dem sie knapp gefasst ihren Entschluss vermerkt, um fortan in der kärglichen Behausung bei Nicky ihr Glück inmitten von Diskussionen und freier Liebe zu finden

Roger versucht, sich wenig anmerken zu lassen und führt den Alltag fort, nur jetzt eben ohne Phyllis an seiner Seite. Der Sohn Hugh kommt ins Internat und Colette steht kurz vor ihren Abschlussprüfungen. Und obwohl zunächst der Riss im familiären Gefüge zunächst wenig sichtbar ist und von allen Beteiligten so gut es kaschiert wird, so ist er doch folgenreich und vertieft sich immer weiter.

Während sich Phyllis Hals über Kopf in das neue Leben mit ihrem jugendlichen Liebhaber stürzt, verliert die vorher so kontrollierter und emsige Colette nicht nur in der Schule alle Orientierung und gibt sich lieber mit neuen rebellischen Freunden ab, statt konzentriert für die Abschlussprüfungen zu lernen. Ihr Vater sucht bei Jean Halt, Nickys Mutter, deren Besuch an jenem Abend die fortwirkenden Ereignisse erst auslöste.

Ehebruch und Swinging London

Der Reiz an Tessa Hadleys Roman Freie Liebe ist nun, dass er die höchst private Ehebruch-Geschichte mit einem Porträt des tiefgreifenden Wandels in der englischen Gesellschaft, insbesondere des „Swinging Londons“ kombiniert. Während die Familie der Fischers zunehmend an Halt und Sicherheiten verliert, wälzt sich auch die Gesellschaft um, gelten die bisherigen Standards nicht mehr, drängt die „working class“ an die Macht und sucht die Konfrontation mit der staatlichen Gewalt.

Es wird über kommunistische Ideale diskutiert, Schwarze emanzipieren sich und treten für Gleichberechtigung ein – und mittendrin die unbedarfte Phyllis, die bislang mit ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter völlig zufrieden war und sich nun als Geliebte in einer aufregenden, aber auch komplizierten Welt wiederfindet. Die enge und ärmliche Kammer Nickys öffnet ihr eine ganz neue Welt – was aber nicht ohne Folgen bleiben wird und dabei von Tessa Hadley auch mit einem ödipalen Twist versehen wird, ohne an dieser Stelle zu viel verraten zu wollen.

Fazit

Das ist in der Verschränkung von Privatem und Öffentlichem, von familiären Strukturen und der freien Radikalität interessant und anschaulich gelungen. Ihre Figuren werden von Hadley gut ausgeleuchtet und dürfen auch in aller Widersprüchlichkeit bestehen. Zudem fängt sie den Zeitgeist und den Lokalkolorit im „Swinging London“ gelungen ein und entwickelt ihre werkimmanenten Themen (gefestigte Beziehungen von Figuren in der Mitte ihres Lebens, Begehren, Freundschaften und Familien) hier gelungen weiter, ohne sich selbst zu kopieren. Schön wäre es nun, wenn das Schaffen Tessa Hadleys hierzulande mehr Bekanntheit erführe – die Britin würde es verdienen.


  • Tessa Hadley – Freie Liebe
  • Aus dem Englischen von Christa Schuenke
  • ISBN 978 3 311 10042 3 (Kampa)
  • 384 Seiten. Preis: 22,00 €

Daniela Raimondi – An den Ufern von Stellata

Alles kehrt irgendwann wieder. So tauchen vererbte Merkmale in verschiedenen Generationen immer wieder auf – und auch literarische Themen und Trends folgen den Gesetzen der Vererbungslehre, gerade wenn es um das Erzählmuster von Familiensagas geht. So sollte Leser*innen folgende Grundkonstellation bekannt vorkommen:

Ein abgeschiedenes Dorf in der Weite der Natur, verschiedene Generationen von Dorfeinwohner*innen, magische und übersinnliche Ereignisse, die in verschiedenen Generationen immer wieder auftauchen. Das sind nicht nur die Zutaten, die Gabriel García Márquez‚ für seinen Welterfolg Hundert Jahre Einsamkeit dienten. Auch in der italienischen Po-Ebene funktioniert das Erzählen mit diesen Ingredienzen, wie Daniela Raimondi in ihrem gute fünfzig Jahre nach Marquez‘ Welterfolg erschienenem Familien- und Generationenroman An den Ufern von Stellata zeigt.


Obschon wir uns bei Raimondi nicht im fiktiven Dörchen Macondo im unwegsamen Dschungel Lateinamerikas befinden – auch in der Region der Po-Ebene gibt es Dörfer, die der blühenden Fantasie von Gabriel García Márquez entsprungen sein könnten.

Es war ein Dorf mit wenigen Hundert Einwohnern, das zwischen der Straße und dem Fluss lag; ein armes Dorf, das allerdings einen so schönen Namen hatte, dass man glaubte, er sei erfunden. Denn abgesehen von seinem sternenfunkelnden Namen war an Stellata nur wenig Poetisches: eine Piazza mit Bogegengängen, ein bescheidenes Kirchlein aus dem vierzehnten Jahrhundert, zwei Trinkbrunnen sowie die Ruinen einer alten Festung gleich am Fluss.

Daniela Raimondi – An den Ufern von Stellata, S. 19

Dort, in der Po-Ebene, wo das Veneto, die Lombardei und die Emilia-Romagna aufeinandertreffen, liegt jenes Stellata, dessen Geschichte eng mit der der Familie Casadio verknüpft ist. Außerhalb des Ortes an einem kleinen Kanal befindet sich das Haus dieser Familie, die durch die Ankunft von fahrendem Volk zu Beginn des 19. Jahrhunderts gehörig durcheinandergewirbelt wird, wie der Prolog des Buchs erzählt.

Generationen von Casadios

Daniela Raimondi - An den Ufern von Stellata (Cover)

Der Sohn Giacomo, ein träumerischer und zugleich schwermütiger Mann, nimmt sich eine zingara namens Viocalla zur Ehefrau. Sie ist so ganz anders als die Frauen, die bislang das Geschick der Familie bestimmten, und bringt das eingefahrene und tradierte Weltbild der Familie Casadio gehörig ins Wanken. Neben ihrer ganz eigenen Weltsicht und ihren Gebräuchen ist auch das Tarot eine von den Casadios kritisch beäugte Methode, mit der Viocalla das Familienleben bereichert. Es dient ihr zur Vorhersage des Schicksals und um den Verlauf des eigenen und fremder Lebens zu deuten.

Dabei sieht Viocalla für die kommenden Generationen Unglück, ebenso wie Freuden und gedeihliches Auskommen voraus. Propehzeiungen, die sich tatsächlich bewahrheiten werden – und stets wird auch das Übersinnliche Begleiter von Generationen der Casadios sein. Mal ist es ein Schwein, das eine überlebenswichtige Rolle spielen wird. Mal können Abkommen der von Giacomo und Viocalla begründeten Dynastie mit den Toten reden. Mal folgen ihnen nach Heilungswundern Bienen.

Das erinnert an den magischen Realismus von Gabriel Garcia Marquez‘, drängt sich aber nicht in den Vordergrund von Daniela Raimondis Erzählung. Das Esoterische ist hier allenfalls schmückendes Beiwerk und sollte niemanden von der Lektüre abschrecken, allzu stimmig binden sich diese Elemente in das Gesamtwerk ein und passen ganz wunderbar zu Milieu und Ton dieses Romans.

Generationen wie Wellen

Mit den Ufern von Stellata hat die Autorin ein schönes titelgebendes Bild gefunden, denn hier sind die verschiedenen Generationen Casadios die Wellen, die ans Ufer von Stellata schlagen. Mögen sie sich auch von der Heimat entfernen, in Kriege ziehen oder auf brasilianischen Plantagen ihr Glück suchen, irgendwann kommen sie alle wieder nach Stellata zurück und finden dort ihr Glück – oder auch nicht.

Fünf Generationen sind es, die den erzählerischen Bogen vom Jahr 1800 bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts spannen. Generationen voller unterschiedlicher Menschen, die mal von ihrem Charakter und Wesen nach der Patriarchin Viocalla kommen, mal sind es die Gene des schwermütigen Giacomo, die sich in einem Familienzweig durchsetzen. Raimondi gelingt es, das alles abwechslungsreich und mitreißend zu schildern. Und auch wenn man bei einer Länge von über 500 Seiten befürchten könnte, dass der Spannungsbogen irgendwann bricht oder sich mit einer weiteren Generation Casadios so etwas wie Langeweile oder Ermattung einstellen könnte – allein: es passiert nicht.

Geschickt variiert Raimondi ihre Generationenporträts, die sich immer wieder überlappen und in den jede Menge Zeitgeschichte steckt. Die einschneidenden Erlebnisse des Ersten und Zweiten Weltkriegs, der Freiheitskampf Garibaldis oder die Auswanderungsbewegungen, etwa wenn Teile der Familie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Schweiz abwandern, weil auf dem flachen Land kaum mehr ein Auskommen ist. All das vermittelt fügt sich organisch in den erzählerischen Bogen ein und ergibt ein – wenngleich ich das Wort eigentlich nicht mag – absolut süffiges Leseerlebnis.

Fazit

Daniela Raimondi erschafft hier einen ganz großen Bilderbogen, der in der Tradition des Magischen Realismus von Gabriel Garcia MarquezHundert Jahre Einsamkeit steht. Sie erzählt über fünf Generationen hinweg von 170 Jahren Krieg und Frieden, Not und Leid, Glück und Erfüllung. Ihr gelingt eine abwechslungsreiche Familiensaga, die über die gesamte Länge von 500 Seiten trägt und die ebenso stimmig von Zeitgeschichte, wie von Übersinnlichem, von Liebe und familiären Zusammenhalt erzählt. Ein großer Schmöker aus Italien, der hier zu entdecken ist.


  • Daniela Raimondi – An den Ufern von Stellata
  • Aus dem Italienischen von Judith Schwaab
  • ISBN 978-3-550-20176-9 (Ullstein)
  • 512 Seiten. Preis: 23,99 €