Tag Archives: Familie

Carl Nixon – Kerbholz

Verschollen in Neuseeland. Spannend montiert schickt uns Carl Nixon in seinem Roman Kerbholz in die Wildnis Neuseelands und zeigt drei Kinder im Überlebenskampf – und eine unbeirrte Suche nach den Vermissten.


Neuseeland, das ist diese grüne Insel, die für viele Urlauber, Student*innen und Weltreisende einen großen Reiz ausübt, befeuert nicht nur durch die Verfilmungen der Romane von J. R. R. Tolkien, die ein Land voller Idylle, weiter und abwechslungsreicher Landschaft zeigen. In Carl Nixons von Jan Karsten ins Deutsche übertragenen Roman Kerbholz ist das allerdings ganz anders. Denn der Neuseeländer zeigt sein Heimatland als ein gefährliches und dunkles, das einige Abgründe bereithält.

Die dunkle Seite Neuseelands

4. April 1978: kurz vor dem Dienstantritt seiner neuen Arbeitsstelle will der aus England stammende John Chamberlain die neue Heimat der Familie besser kennenlernen. Doch eine nächtliche Fahrt auf einem Highway inmitten der menschenleeren Wildnis Neuseelands geht gehörig schief.

Aufgrund des Aquaplanings stürzt das Auto der Familie mit den sechs Insassen von einer Brücke in den darunterliegenden Fluss, ohne dass irgendjemand in der Umgebung davon Kenntnis nimmt. Vater und Mutter sowie die jüngste, gerade neugeborene Tochter sterben. Nur die anderen drei Kinder überleben den Sturz in den Fluss und können sich ans Ufer retten.

Carl Nixon - Kerbholz (cover)

Jede Hoffnung auf Rettung zerschlägt sich allerdings rasch, da der Unfall in der unbelebten Einöde dort nicht registriert wurde. Und so liegt es nun an den Kindern, die für sich schauen müssen, wo sie inmitten dieser Landschaft aus Grün, Wasser und Felsen bleiben. Katherine übernimmt die Führung und versucht ihren Bruder Maurice und Tommy, der beim Unfall schwere Verletzungen an seinem Kopf davongetragen hat, irgendwie durch die neue Situation zu bringen.

Diesen Erzählstrang im Jahr 1978 kombiniert Carl Nixon mit dem Fund einer Leiche im Jahr 2010, der vor allem Suzanne, die Tante der damals verschwundenen Kinder, aufrüttelt. Bei dem Toten handelt es sich um Maurice, der per Zufall in der Nähe von Felsen gefunden wurde. Wäre dieser Fund der Leiche nun Jahrzehnte nach dem Verschwinden nicht schon für sich eine Sensation, findet sich bei ihm zudem auch noch eine ganze Menge Bargeld und ein Stock, der als Kerbholz identifiziert wird.

Verschollen in der Wildnis

Zudem stellt sich bei gerichtsmedizinischen Untersuchungen heraus, dass Maurice keineswegs unmittelbar nach dem Verschwinden der Eltern starb – vielmehr hat er noch einige Jahre gelebt, ehe er dann den Tod auf den Felsen fand. Was aber ist in der Zwischenzeit geschehen?

Das ist nicht nur eine Frage, die die Ermittlungsbehörden in Neuseeland interessiert – auch Suzanne lässt der Fund des toten Jungen nicht mehr los. Was ist damals wirklich passiert und wo sind die Kinder abgeblieben, warum führte Maurice so viel Bargeld mit sich und was hat es mit dem geheimnisvollen Kerbholz auf sich?

Diese Fragen dröselt Carl Nixon im Folgenden auf, wenn er die miteinander verflochtenen Erzählstränge wieder langsam entwirrt und von der unbeirrten Suche Suzannes ebenso wie vom Abenteuer – oder eher Martyrium – der Chamberlain-Kinder erzählt. Wie sich diese anpassen müssen, wie sich die Welt weiterdreht und diese vergessen werden, all das liest sich wirklich spannend.

Carl Nixon gelingt ein packender Roman, der ein Neuseeland fernab von Hobbit-Romantik und Backpackeridylle zeigt. Die Natur hier ist wild und rau, gefährlich und kommt Menschen mit wohlbegründeter Kontaktscheu äußert zupass, ohne an dieser Stelle zu viel von der Handlung vorwegnehmen zu wollen.

Fazit

Schnell liest man sich durch die flott getakteten Seiten, die zwischen Überlebenskampf und Überlebendensuche hin- und herwechseln und damit einen großen Drive entfalten. Nixon schafft es, sowohl das Schicksal der Kinder als auch die Kulisse seines Romans packend zu schildern. Dass dieser Roman im vergangenen Jahr zweimal für die Krimiwelt-Bestenliste nominiert war, ist keine Überraschung.

Kerbholz vermengt Elemente aus Familienroman, Nature-Writing, Survivalthriller und Spurensuche zu einem tollen Roman, der nun nach der Erstausgabe im Culturbooks-Verlag nun auch in einer schön gestalteten Ausgabe der Büchergilde vorliegt.


  • Carl Nixon – Kerbholz
  • Aus dem Englischen von Jan Karsten
  • Artikelnummer 175134 (Büchergilde Gutenberg)
  • 304 Seiten. Preis: 23,00 €
Diesen Beitrag teilen

Leo Vardiashvili – Vor einem großen Walde

Hänsel und Gretel in Georgien. In seinem Debütroman Vor einem großen Walde lässt Leo Vardiashvili den Exil-Georgier Saba in das Land seiner Kindheit zurückkehren und dabei Spuren folgen, die den Brotkrumen in Grimms Märchen gleichen. Eine ebenso spannende wie erhellende Spurensuche, die das wechselvolle Schicksal Georgiens eindrücklich vor Augen führt.


Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker, der hatte nichts zu beißen und zu brechen und kaum das tägliche Brot für seine Frau und seine zwei Kinder, Hänsel und Gretel. Er hatte wenig zu beißen und zu brechen, und einmal, als große Teuerung ins Land kam, konnte er das tägliche Brot nicht mehr schaffen.

So beginnt das Märchen der Gebrüder Grimm, die in Hänsel und Gretel das Schicksal zweier Geschwister schildern, die sich nur mithilfe einer klug ausgestreuten Spur aus Brotkrumen aus dem verhängnisvollen Dickicht des Waldes und aus dem Zugriff einer gefährlichen Hexe befreien können. Als sie den Weg zurück zu ihrer Familie finden, ist die Mutter in der Zwischenzeit allerdings verstorben. Viel Motivmaterial für Leo Vardiashvili, der in seinem Debütroman eine ebensolche Spurensuche und die Orientierungslosigkeit zweier Geschwister angesichts des familiären Zerfalls beschreibt.

Hänsel in Georgien

Angesiedelt ist seine Erzählung in keinem fiktiven Märchenland sondern in Georgien, das teilweise aber auch an ein Märchen erinnert. Vorwiegend sind es aber die Spuren seiner Vergangenheit, an denen das Land trägt.

Georgien trennte sich von der Sowjetunion und wurde 1991 zur Republik. Hastig gebildete Parteien stritten sich um den Thron dieser frisch geprägten „Republik“. Es dauerte nicht lange, bis man zu den Waffen griff. Und in genau diesem Winter stürzten wir kopfüber in einen bitteren, chaotischen Bürgerkrieg.

Leo Vardiashvili – Vor einem großen Walde, S. 29

Zurückgeblieben in diesem chaotischen und bitteren Bürgerkrieg ist die Mutter von Saba und Sandro. Zusammen mit ihrem Vater Irakli sind die Kinder vor den Schrecken des Kriegs nach England geflohen, nur ihre Mutter Eka blieb zurück, um dem Rest der Familie die Flucht zu ermöglichen.

Eine Spurensuche in Tbilissi

Die Rückholung der Mutter gelang allerdings nicht. Sie starb in Georgien, obwohl Irakli sich in der neuen Heimat in die Arbeit stürzte, um eine Rückkehr seiner Frau zu ermöglichen.

Leo Vardiashvili - Vor einem großen Walde (Cover)

Doch nun, elf Jahre später nach dem Tod der Mutter, hat sich Irakli auf den Weg zurück in das Heimatland seiner Familie gemacht. Die Lebenszeichen von ihm wurden allerdings immer spärlicher. So entschloss sich Sabas Bruder Sandro auf die Suche nach dem Vater zu machen und ebenfalls nach Georgien aufzubrechen. Aber auch er scheint nun vom Erdboden verschwunden zu sein. Zuvor schrieb er Saba noch eine kryptische Nachricht mit der Botschaft, dass er in der alten Wohnung im Tbilisser Stadtteil Sololaki eine Brotkrumenspur des Vaters entdeckt habe. Das war das letzte Lebenszeichen seines Bruders, womit nun alle Lebenszeichen der übrigen Familienmitglieder verstummt sind.

Kurzerhand macht sich Saba selbst auf den Weg, um den Brotkrumen zu folgen, die in den großen Wald namens Georgien weisen. Das stellt sich aber als gefährliche Mission heraus. Denn schon auf seinem Zwischenstopp in Kiew wird Saba vor einer Rückkehr in das Land seiner Kindheit gewarnt. Vor Ort muss er dann feststellen, dass zudem auch noch die Tiere des Zoos von Tbilissi ausgebrochen sind. Es mehren sich rasch die Zeichen, dass die ausgebrochenen Raubtiere in den Straßen der georgischen Hauptstadt allerdings Sabas geringstes Problem sind. Denn bei seiner Suche vor Ort stößt er schon bald auf unbequeme und höchst gefährliche Wahrheiten…

Viele Themen und Motive – überzeugend verschmolzen

Vor einem großen Walde ist ein wirklicher Schmöker, der gleich mehrere Stile und Motive miteinander vereint. Da ist die Parallele zum Märchen von Hänsel und Gretel, die hier in eine wahre Schnitzeljagd von Graffitispuren und Manuskriptseiten mündet. Da ist die Erzählung des Familienschicksal der Sulidze-Donauris, das Saba bei seiner Rückkehr an alte Lebensstationen der Eltern ergründet. Gesellschaft leistet ihm neben dem Taxifahrer Nodar und dessen prähistorischem Wolga auch eine Vielzahl an Stimmen im Kopf, die sich immer wieder in seine Reise zu den familiären Wurzeln und Geheimnissen einmischen.

Ebenso ist Vor einem großen Walde aber auch ein Porträt Tbilissis und damit auch des ganzen Landes Georgien, dessen nicht verheilte Wunden ebenso präsent sind wie die Einschüsse im Mauerwerk der Stadt. Ähnlich wie Archil Kikordze in Der Südelelefant ist auch Vardiashvilis Beschau der nicht verheilten Wunden und der psychologischen Narben der Zivilbevölkerung eine beeindruckende Reise in ein Land, das zwar Beitrittskandidat der EU sein mag, dessen Geschichte und Verfassung trotz einer Patenschaft mit der Buchmesse und Werken von Nino Haratischwili und Co. nicht wirklich greifbar ist.

Wo sich Der Südelefant auf den begrenzten Raum Tbilissis und einen Handlungszeitrahmen von gerade einmal einem einzigen Tag beschränkte, da geht Leo Vardiashvili noch weiter. Sein Buch gleicht in vielen Passagen einem atemlosen Roadtrip, der von Tbilissi und den einzelnen Stadtteilen bis nach Ossetien führt und der auch einige Opfer fordern wird.

Das ist in seiner Verschmelzung von unablässig nach vorne treibender Handlung und gleichzeitiger Rückschau auf die Familie und die Entwicklung des ganzen Landes gut gelungen. Durch die Schnitzeljagd und einige immer wiederkehrende Motive entfaltet Vor einem großen Walde einen erheblichen Sog und lässt mit Saba nur so durch die Seiten gleiten.

Fazit

Tief in die Geschichte Georgiens und die Familie Sulidze-Donauri führt dieser Debütroman ein, dessen Verfasser mit seinem Helden Saba das postsowjetische Familienerbe teilt. Denn auch Leo Vardiashvili emigrierte als Jugendlicher mit seiner Familie aus Tbilissi nach Großbritannien. Aus dieser Erfahrung schöpft der Autor eine ebenso mitreißende wie einsichtsreiche Geschichte, die das Schicksal Georgiens und die Stadt Tbilissi auch im Lesesessel etwas näher bringt und dabei großartig unterhält. Ein Einstand nach Maß!


  • Leo Vardiashvili – Vor einem großen Walde
  • Aus dem Englischen von Wibke Kuhn
  • ISBN 978-3-546-10094-6 (Claassen)
  • 464 Seiten. Preis: 25,00 €
Diesen Beitrag teilen

Julia Jost – Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht

In diesem Frühjahr haben die langen Buchtitel Hochkonjunktur. Nach Owen Booth im vergangenen Jahr fordern heuer etwa Cho Nam-Joo , Saša Stanišić oder Slata Roschal die Tippfähigkeiten von Buchhändlern und Bibliothekarinnen heraus. Nun auch noch Julia Jost, die mit ihrem Debüt Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht einen modernen Heimatroman vorlegt, der den Mikrokosmos eines kärntnerischen Dorfs in einen großen Spielplatz der Sprache und Themen verwandelt.


Tu felix austria kann man nur immer wieder ausrufen. Die Alpenrepublik schafft es in erstaunlich hoher Schlagzahl, immer wieder neue und vielversprechende Autor*innen hervorzubringen, die sich sprachmächtig mit ihrer Heimat befassen und eine neue Form der Heimatliteratur schreiben, die sich mit dem Althergebrachten, der Region, ihren Menschen beschäftigt, dabei aber auch die Verstrickung in die Vergangenheit und die dunklen Seiten der Heimat nicht vergisst.

Raphaela Edelbauer, Leander Fischer, Valerie Fritsch, Helena Adler, Vea Kaiser oder Johanna Sebauer sind nur einige Namen in dieser Riege junger österreichischer Autor*innen, die sich in den letzten Jahren mit dörflichen Gemeinschaften und dem Miteinander unterschiedlichster Figuren auseinandersetzten.

Auch Julia Jost reiht sich nun mit ihrem wirklich außergewöhnlich betitelten Debütroman in diese Riege ein. Denn ihr gelingt mit Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht ein Roman, der vielleicht nicht ganz so sprachverliebt wie die Edelbauer, Fritsch oder Fischer, dafür aber erstaunlich reichhaltig an Themen und Setzungen ist.

Den erzählerischen Rahmen bildet ein Umzugstag, den die junge Erzählerin im heimischen Garten des Gratschbacher Hofs neunzehnhundertvierundneunzig erlebt. Dieser in Kärnten gelegene Gasthof befindet sich in der Nähe der Karwanken, die sich in der Entfernung von gut vierzig Kilometer auftürmen. Mit der Zeit dort auf dem Hof ist es eigentlich schon vorbei, als der Roman einsetzt, denn die Familie will umziehen.

Ein Umzug steht an

Und so schleppen Umzugshelfer Kiste um Kiste, aus dem Zuhause dort, das die Mutter mit Möbeln an- oder besser gesagt schon überfüllt hat. Alle kommen sie noch einmal zum Abschied um beim Umzug zu unterstützen, vom Dorfpfarrer Don Marco bis zu der Generation der Großeltern, die den Hof dort am Fuß der Karawanken begründet haben und den Umzug partout nicht verstehen können. Es ist ein großes Hallo, das die Erzählerin aus der Distanz unter einem LKW heraus beobachtet, wo ihr nur ein schnüffelnder Rauhaardackel Gesellschaft leistet.

Julia Jost - Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht  (Cover)

Durch die Fülle an Gestalten, die sich auf dem Hof die Klinke in die Hand geben entsteht ein erzählerischer Reigen, der die Figuren, den biografischen Hintergrund der Erzählerin und damit auch die Gegend, in der Josts Geschichte spielt, näher definiert und ausgestaltet.

Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht ist reich an Themen. Die Vergangenheit einer Figur als Partisanenkämpfer im slowenischen Teil des Karawankengebirges ist ebenso Thema der Erzählung wie der kaum verborgene Faschismus, der sich auch im Jahr 1994 noch als erstaunlich widerstandsfähig und hartnäckig erweist.

Von der Zeit des Zweiten Weltkriegs bis in die erzählte Gegenwart hinein bildet dieser Faschismus ein Kontinuum, das von alkoholgeschwängerten Besäufnissen, Gedenken an die gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkriegs und Weltkriegsdevotionalien bis zu einem Foto von Kurt Waldheim im Klassenzimmer der Erzählerin reicht. Es ist ein Kontinuum, das man von dem von Jost gezeichneten Bogen mühelos auch bis hinein in die Gegenwart weiterspannen könnte, in der die rechtsextremistische FPÖ kurz vor ihrem Wahlsieg bei den diesjährigen Nationalratswahlen steht.

Partisanen, Rechtsextremismus und Tod im Dorf

Aber auch der Tod als Thema ist präsent in diesem Roman. Das Erwachen der eigenen Sexualität, die den landläufigen Vorstellungen entgegensteht, das Verhältnis zur Tochter des bosniakischen Kustos des Gratschbacher Hofs, die Volksfrömmigkeit, die Konzentration auf das Wirtshaus als mindestens der Mittelpunkt des Dorfs, wenn nicht gar der Welt, von all diesen Themen erzählt Julia Jost in ihrem Debüt, das die Fülle an Themen und Figuren durch den engen erzählerischen Rahmen des einzelnen Tages gut eingebunden bekommt.

Verliert dieser so hochtourig beginnende Roman vielleicht grob aber der Hälfte des Buchs auch etwas an erzählerischer Spannkraft, ist Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht dennoch ein famoses Debüt, das zeigt, wie moderne Heimatliteratur aussehen kann und mit dem sich Julia Jost einen Platz in der vorderen Reihe der österreichischen Erzähltalente sichert.

Weitere Stimme zu Josts Debüt gibt es auch bei Juliane vom Blog Poesierausch und dem Blog Bücheratlas, die sich ebenfalls dem Buch gewidmet haben. Auch Alexander Carmele widmet auf dem Blog Kommunikatives Lesen Julia Josts Roman eine vertiefende Analyse.


  • Julia Jost – Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht
  • ISBN 978-3-518-43167-2 (Suhrkamp)
  • 231 Seiten. Preis: 24,00 €
Diesen Beitrag teilen

Ann Napolitano – Hallo du Schöne

Vier Schwestern, eine Familie und das ganze Leben in all seinen Ausprägungen. Daraus macht Ann Napolitano einen berührenden Familienroman, der auf das blickt, was Familien im Innersten zusammenhält – und was sie auseinandertreibt.


Oprah Winfrey empfahl diesen Roman im Rahmen ihres Buchclubs, auch Barack Obama setzte ihn auf seine Empfehlungsliste im Sommer 2023. Dank des Übersetzers Werner Löcher-Lawrence und dem herausgebenden Dumont-Verlag lässt sich Ann Napolitanos Hallo du Schöne nun auch hierzulande lesen und genießen.

Angesiedelt ist dieser Roman größtenteils im Chicagoer Stadtteil Pilsen, wo die Handlung zu Beginn der 80er Jahren einsetzt. Dort lebt die Familie Padavano mit ihren vier Töchtern Julia, Sylvie und den Zwillingen Cecilia und Emeline, die sich mit ihren unterschiedlichen Temperamenten und Anlagen hervorragend verstehen und ergänzen.

Schon bald heiratet Julia als die Älteste den vielversprechenden Basketballer William, der selbst so etwas wie den dichten Familienverbund der Padavanos nie kennengelernt hat. Seine Eltern sind ihm gegenüber höchst distanziert, besonders, seit in Kindertagen seine ältere Schwester starb. So findet er nach der Heirat mit Julia nun im Hause Padavano seine Ersatzfamilie.

Vier Schwestern und William

Ann Napolitano - Hallo du Schöne (Cover)

Es ist aber nichts kitschig und einfach in der Welt, die Ann Napolitano in ihrem Roman beschreibt. Denn vor der Heirat von William und Julia hat das familiäre Gefüge durch die ungeplante Schwangerschaft von Cecilia und den Tod des Familienoberhaupts Charlie Padavano bereits schwere Risse erhalten. Es kam zur Verstoßung der jüngsten Tochter und folglich sind die Verwerfungen innerhalb der Familie nun erstmals wirklich öffentlich geworden.

Nachdem danach die Mutter das Zuhause in Pilsen verlassen hat, sind die Schwestern auf sich gestellt und müssen sehen, wie sie auf mit ihren neuen Leben klarkommen. Als sich dann auch noch die Ehe zwischen Julia und William als nicht so berechenbar herausstellt, wie es sich Julia als Jugendliche erträumte, wird es vollends kompliziert im Kosmos der Padavanos.

Denn nach einem Suizidversuch des unter Depressionen leidenden William wird das Leben der Schwestern zur Zerreißprobe, die auch die familiären Wurzeln und Beziehungen auf eine große Probe stellt.

Wie war es möglich, [d]ass es unsichtbare Fäden zwischen ihnen gab, die sie verbanden, die sie aber nicht hatte sehen und daher auch nicht zerschneiden können?

Ann Napolitano – Hallo du Schöne, S. 427

Zusammenhalt und Bewährungsproben einer Familie

Hallo du Schöne erzählt vom Zusammenhalt einer Familie, die schweren Bewährungsproben unterworfen ist. Tod, Trennung, Abschiedsschmerz, Lieben und Entlieben, neue Verbindungen und Verstoßungen – es passiert viel in dieser Familie, in der auch Ann Napolitano selbst vielfach auf Louisa May Alcott und deren Schwestern-Klassiker Little Women verweist.

Die vier so unterschiedlichen Schwestern, ihre Kämpfe und Wünsche, Ann Napolitano weiß in diesem Familienroman hervorragend davon zu erzählen. Die verschiedenen emotionalen Stadien, die Entwicklungen in den Figuren und wechselhaften Schicksale, sie stehen im Mittelpunkt des Romans, der hauptsächlich aus den Perspektiven Julias, Williams und Sylvies auf das Geschehen blickt, das sich von den 80er Jahren bis ins Jahr 2008 erstreckt.

Viel Gefühle stecken in diesem Buch, aber keine übermäßige Rührseligkeit oder gar Kitsch. Vielmehr widmet sich Napolitano dem genau beobachteten Miteinander ihrer Figuren und schafft es durch die abwechslungsreichen Perspektiven und vielen Entwicklungen, den Roman über die ganze Länge von über 520 Seiten hervorragend ins Ziel zu bringen und dabei den unsichtbaren Fäden nachzuspüren, die die vier Schwestern und die Familie im Innersten zusammenhalten.

Fazit

Versehen mit einem der wohl augenfälligsten Cover des Bücherfrühjahrs 2023 ist Hallo du Schöne ein mitreißender, wirklich emotionaler und fabelhafter Unterhaltungsroman, der das Genre des Familienromans auf das Beste repräsentiert. Glaubhaft gezeichnete Figuren mit Tiefe und ihnen innewohnenden Konflikten, gutes Erzählhandwerk und noch dazu spannend zu lesende Entwicklungen, all das vereint Ann Napolitano zu einem Werk, dem hierzulande hoffentlich ein anderes Schicksal beschieden ist, als es die Bibliothekarin Sylvie über die Bücher konstatiert, mit denen sie bei ihrer Arbeit in der Lonzano-Bibliothek befasst ist:

Die hellen, glänzenden Umschläge neuer Bücher machten Silvie immer etwas traurig. Autoren wie Verlage hofften, ihre Bücher würden die Welt im Sturm erobern, doch das war so gut wie nie der Fall. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr arbeitete Sylvie in dieser Bibliothek und hatte Hunderte, Tausende Bücher sich in die Regale hinein- und wieder hinausbewegen sehen.

Ann Napolitano – Hallo du Schöne, S. 401

Ich hoffe wirklich (und bin eigentlich auch davon überzeugt), dass dieses Buch Lese*innenherzen für sich einnimmt und in vielen Bibliotheken einzieht, um zu bleiben!


  • Ann Napolitano – Hallo du Schöne
  • Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
  • ISBN 978-3-8321-6945-9 (Dumont)
  • 520 Seiten. Preis: 25,00 €
Diesen Beitrag teilen

Maja Haderlap – Nachtfrauen

Frauen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Emanzipation und Nachfolge, Kärnten und Slowenien. Maja Haderlap gelingt mit ihren neuen Roman Nachtfrauen ein präziser Blick auf die slowenische Minderheit in Kärnten und ein literarisch überzeugendes Porträt verschiedener Generationen von Frauen.


Passend zur Patenschaft der Frankfurter Buchmesse mit dem Gastgeberland Slowenien im vergangenen Jahr erschien im Herbst 2023 auch der neue Roman von Maja Haderlap. Endlich, kann man sagen, denn die Autorin hatte lange nichts mehr von sich hören, geschweige denn lesen lassen. Eine Rede anlässlich des Staatsaktes für den hundertsten Geburtstag der österreichischen Republik im Jahr 2018, vor zehn Jahren ein Gedichtband, das war es dann aber in Sachen vernehmlicher Äußerungen in der Öffentlichkeit.

Umso schöner, dass das Warten nun ein Ende hat und mit Nachtfrauen endlich wieder ein Roman vorliegt, der Haderlaps Profession als Lyrikerin nicht verhehlen kann – und es zum Glück auch nicht will. Denn der Grenzgängerin zwischen slowenischer und österreichischer Literatur gelingt ein Roman, der präzise Menschen zeichnet, Grenzen erkundet und literarisch durch seine Zurückhaltung und Präzision punktet.

Eine Heimkehr nach Südkärnten

Der Inhalt ist dabei schnell erzählt. So kehrt Mira heim nach Südkärnten, wo sie ihre Mutter besucht. Dort, fernab von Wien, wo sie mit ihrem Mann lebt und als Referentin arbeitet, bedeutet die Heimkehr zugleich auch den Abschluss eines prägenden Kapitels ihres Leben. Denn ihre Mutter soll auf Wunsch ihres Neffen aus dem Hof ausziehen, in dem sie aufwuchs und der auch Miras Zuhause war, in dem sie den prägenden Teil ihres Lebens verbrachten.

Maja Haderlap - Nachtfrauen (Cover)

Aus dem Hof soll eine Schreinerei werden – und Miras Mutter in ein altersgerechtes neues Zuhause umziehen. So ist es zwischen Mira, ihrem Bruder Stanko und dem Cousin besprochen. Nur die Mutter weiß noch nicht viel von den Plänen, weshalb es nun an Mira ist, ihr diese Nachricht schonend beizubringen.

Vieles wirbelt ihre Heimkehr nach Südkärnten dabei auf. Das nicht einfache Verhältnis zu ihrer Mutter (womit sich Haderlap in eine ganze Reihe an Elternbüchern einreiht, am augenfälligsten für mich dabei die Verwandtschaft von Nachtfrauen mit der Mutterhommage Eigentum ihres österreichischen Landsmannes Wolf Haas), die Beziehung zu Miras Mann und einer alten Jugendliebe, die natürlich prompt wieder aufflammt, die Zerrissenheit von Mira – und die von ihrer eigenen Mutter, die im zweiten Teil des Buchs dann in den Vordergrund gerückt wird.

Zwischen Slowenien und Kärnten

Denn neben aller gar nicht buchentscheidenden Handlungen ist es vor allem die Frage der Herkunft und Identität, die für mich in Haderlaps Buch im Vordergrund steht. Wie die Autorin selbst sind auch ihre Figuren dort am Fuße der Karawanken binational, entzweigerissen zwischen ihrem arrivierten Leben in Österreich und der slowenischen Vergangenheit. Eine Zerrissenheit, die sich nicht nur, aber am augenscheinlichsten in der Mehrsprachigkeit ausdrückt, in die auch Mira wieder zurückfällt, als sie nun nach Hause zurückkehrt.

Nachtfrauen erzählt von unterschiedlichen Generationen von Frauen, von erlebten Kriegsgräuel, von Emanzipation und der Frage, wo man im Leben eigentlich wirklich hingehört. Wie sie das tut, das ist das Buchentscheidende, das die ganze Klasse dieses Werks ausmacht. Haderlap erzählt in einer reduzierten, genau gesetzten Sprache, die auf den ersten Blick vielleicht trügerisch einfach sein mag, dahinter aber erst in ihrer Klasse aufscheint. Mit dieser genau gesetzten Prosa offenbart die Lyrikerin viele Geheimnisse und Sehnsüchte im Leben oder berührt diese zumindest – vom Glauben bis hin zur Liebe.

Da ist kein Wort zu viel, da ist genug Raum für das Dazwischen, die nicht ausgesprochenen Wort, ungetanen Taten und ungelebten Träume. Ebenso wie die im selben Verlag erscheinende Marion Poschmann, denen beiden die Herkunft als Lyrikerinnen gemein ist, ist auch bei Maja Haderlap alles genau bedacht und sprachlich wunderbar durchgearbeitet. Zart und doch dicht, so ist diese Literatur, der ich hier begegnen durfte.

Fazit

Es ist keine bahnbrechend neue Geschichte, das Thema von Nachtfrauen alt. Die Erzählweise aber, sie ist es, die so überzeugt und der ich persönlich auch bei der Wahl des Österreichischen Buchpreises den Vorzug vor dem ebenfalls nominierten Clemens J. Setz gegeben hätte, ist hier doch alles so viel präziser und genau gerahmt.

Eine wirkliche Entdeckung. Dass sich Maja Haderlap so viel Zeit gelassen hat für einen neuen Titel, bei der Lektüre von Nachtfrauen wird das evident. Genau gesetzt und sich ihrer erzählerischen Mittel sehr sicher erzählt sie großartig gesetzt von verschiedenen Generationen an Frauen und deren Lebenswegen. So bringt sie die slowenische Minderheit Kärntens hierzulande ins öffentliche Bewusstsein. Großartige Gegenwartsliteratur aus Österreich!


  • Maja Haderlap – Nachtfrauen
  • ISBN 978-3-518-43133-7 (Suhrkamp)
  • 294 Seiten. Preis: 24,00 €

Das Buch kaufen: ich empfehle die unabhängige Internetbuchhandlung YourBookshop, bei der man auch gleich noch den lokalen Buchhandel unterstützen kann.

Diesen Beitrag teilen