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Wenn die Mitmenschlichkeit Schiffbruch erleidet

Davide Enia – Schiffbruch vor Lampedusa

Im Zuge des Europawahlkampfs 2019 wollte vor zwei Wochen die Satirepartei Die PARTEI einen Wahlwerbespot im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk platzieren. Eine Ausstrahlung dieses Spots wurde aber zunächst verweigert. Der Grund hierfür: die PARTEI hatte ihre Sendezeit der privaten Seenotrettung „Sea Watch“ zur Verfügung gestellt. Dass ZDF argumentierte folglich, dass es sich hier nicht um Wahlwerbung, sondern um einen Aufruf zur Unterstützung der Organisation „Sea Watch“ handele. In geänderter Form war der Film dann aber doch zu sehen. Im Einerlei aus Stockphoto-Wohlfühl-Mainstream-Clips und absurd-dilettantischen Beiträgen ragt dieser Beitrag krass heraus – und ist mehr als notwendig, wie ich finde.

Wahlwerbung der Partei „Die PARTEI“

Einen ähnlichen Effekt verspürt man, wenn man Davide Enias Buch Schiffbruch vor Lampedusa liest (Deutsch von Susanne Van Volxem und Olaf Matthias Roth, erschienen im Wallstein-Verlag).

Denn genauso wie dieser Spot richtet auch Enias Buch unseren Blick auf dieses Thema, das wir so bequem verdrängen. Das Mittelmeer ist zu einem riesigen Friedhof geworden. Jeden Tag sterben im Schnitt sechs Menschen auf dem Mittelmeer beim Versuch, dieses zu überqueren. In rechten Kreisen und sozialen Medien ist gerne von Asyltourismus und Wassertaxis die Rede, als sei die Überquerung des Mittelmeer ein Spaziergang.

Private Seenotrettern wird der Zugang zum Mittelmeer immer weiter erschwert und sogar die die Wochenzeitung Die Zeit sah sich im letzten Jahr genötigt, in ihrem Editorial ein Pro und Contra für private Seenotrettung zu veröffentlichen. „Oder soll man es lassen“, so die zynischen Contra-Überschrift, die auf das Argument abhob, dass solche private Rettungsmissionen den Schleppern ja nur die Arbeit erleichtern würden und noch mehr Menschen nach Europa lockten.

Leben und Sterben vor und auf Lampedusa

Lässt man die Politik und dass dumpfe rechte Gebrüll einmal außen vor und schaut sich an, was da im Mittelmeer so passiert, dann wird man schnell sehr still und betroffen. Davide Enia hat das für uns Leser*innen getan und hat sich nach Lampedusa begeben, jene vorgelagerte italienische Insel, auf der viele der Flüchtlingsboote anlanden. Er hat sich umgesehen auf der Insel, mit den Bewohner*innen gesprochen, war bei dem Eintreffen von Flüchtlingsbooten Zeugen und schildert das alles nüchtern – und deshalb umso ergreifender.

Auf Lampedusa sagte ein Fischer zu mir: »Weißt du, was für Fische wir hier neuerdings wieder haben? Seebarsche.«

Er zündete sich eine Zigarette an und verfiel in ein tiefes Schweigen. »Und weißt du, warum die Seebarsche zurückgekommen sind? Weißt du, wovon sie sich ernähren? Genau.«
Er drückte seine Zigarette aus und ging.
Es gab nichts, aber auch wirklich nichts hinzuzufügen.

Enia, Davide: Schiffbruch vor Lampedusa, S. 2

Man kann Schiffbruch vor Lampedusa nicht lesen, ohne ergriffen und beschämt zu sein. Es zeigt sich, wie stark unsere Mitmenschlichkeit schon Schiffbruch erlitten hat. Die Geschichten, die Rettungstaucher, Kapitäne und Inselbewohner erzählen, sind verstörend. Doch allzu bequem ist es für uns, diese Geschehnisse an den Außenposten Europas zu verdrängen und uns mit wohlfeilen Worthülsen wie etwa „man müsste die Fluchtursachen bekämpfen“ abspeisen zu lassen. Doch Davide Enia tut dies eben nicht – wofür ich ihm wirklich dankbar bin.

Zudem ist das Buch nicht nur ein Buch über den Verlust von Mitmenschlichkeit und den omnipräsenten Tod im Mittelmeer – auch auf persönlicher Ebene sind diese Themen bei Enia präsent. Denn über seinen Aufenthalt auf der Insel versucht er auch eine Annäherung an seinen Vater und seinen krebskranken Onkel, der den Tod ebenfalls vor Augen hat. Hier zeigt sich eine andere Spielart des Humanismus, den wir leider zu sehr aus dem Blick verloren haben.

Ein Appell an unsere Mitmenschlichkeit

Mit den beiden erzählerischen Fäden webt Davide Enia ein Buch, das man so schnell sicher nicht vergisst. Man kann sich natürlich in unserer privilegierten Wohlstandsblase einschließen und die Augen vor der Realität verschließen. Man kann aber auch Davide Enias Buch lesen und sich der so erodierenden Mitmenschlichkeit entsinnen. Denn ich finde, dass Nächstenliebe, Hilfe und Unterstützung von Schwachen keine Frage von Rechts oder Links sind, sondern Grundpflichten eines jeden Menschen sein sollten. Davide Enia erinnert uns in Zeiten von Abschottung und Mauerbau wieder daran – und das ist mehr als notwendig!

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William Boyd – Blinde Liebe

William Boyd ist wieder da. Zuletzt schilderte er in Die Fotografin die Lebensgeschichte der fiktiven Fotografin Amory Clay. Nun hat er den Verlag gewechselt und ist anstelle des Berlin-Verlags im Kampa-Verlag heimisch geworden. Ein kleiner Coup, der Daniel Kampa und seinem Team da gelungen ist.

Inhaltlich bleibt sich William Boyd treu und stellt erneut ein ganzes Menschenleben in den Mittelpunkt. Diesmal heißt sein Protagonist Brodie Moncur, den man von den Jugendjahren bis zur Bahre begleitet. Er übt den Beruf des Klavierstimmers aus. Zwar sieht Brodie nicht besonders gut, umso schärfer ist aber sein Gehör, das sogar absolut ist. Kleinste Abweichungen von der Norm erfasst er intuitiv – was ihn natürlich zum perfekten Klavierstimmer macht.

Er zeigt in seinem Beruf großes Geschick und wird in der Folge aus seiner schottischen Heimat nach Paris entsandt. Dort soll der der lokalen Filiale eines Klavierherstellers unter die Arme greifen. Doch alles kommt natürlich anders als geplant – und so findet sich Brodie bald im Gefolge des Klaviervirtuosen John Barron wieder. Für diesen soll er seine Flügel vor den Auftritten stimmen und kalibrieren und so die Bühne für das Brillieren des Meisters bereiten.

Schnell wird Brodie zum unersetzlichen Adlatus des ebenso genialen wie menschlich schwierigen Pianisten. Die größte Anziehung übt auf ihn allerdings nicht Killbarron selbst, sondern dessen Lebensgefährtin Lika aus. Diese ist eine russische Sopranistin, der Brodie schon bald verfällt. Beide beginnen eine leidenschaftliche Affäre, die sich als verhängnisvoll erweist.

Ein guter Unterhaltungsroman – und sonst so?

Chronologisch erzählt William Boyd in Blinde Liebe die Geschichte seines Helden Brodie Moncur. Boyd ist natürlich ein erfahrener Erzähler, der weiß, wie er seine erzählerischen Bögen gestalten und ausschmücken muss. Man liest die über 500 Seiten starke Biografie Brodie Moncurs und wird gut unterhalten – mehr aber auch nicht. Denn für alles andere ist der Roman zu konventionell gehalten.

Der neue Titel von William Boyd fällt für mich in die Kategorie Flutschbuch. Es ist flüssig zu lesen, unterhält – aber von der Lektüre bleibt bei mir nicht viel zurück. Denn die Widerhaken in Boyds Geschichte fehlen. Jene Widerhaken wie interessante Persönlichkeiten, besondere ausgestaltete Konflikte oder eine große Tiefe – sie gehen der etwas bräsig gestalteten Geschichte leider ab.

Man muss konstatieren, dass Blinde Liebe ein Porträt ist, das mit grobem Pinsel gemalt ist. Für William Boyd steht die Unterhaltung im Vordergrund, was absolut legitim ist. Dadurch fehlt aber eben jene Metaebene, die meiner Meinung nach Literatur zu großer Literatur macht. Dieses Fehlen macht sich aber nicht nur in diesem Buch bemerkbar, generell ist das charakteristisch für das literarische Oeuvre Boyds.

William Boyd ist für mich ein geschickter Grenzgänger der Lager E und U. Auf dieser Grenze zu wandeln ist eine Kunst für sich, die Boyd sehr gut beherrscht. In meinen Augen bedeutet das nur leider zumeist, dass der Handlung vor der Ausgestaltung der Figuren der Vorzug gegeben wird. So bleibt Brodie Moncur trotz totaler Fokussierung etwas blass und wird in meinem Fall nach ein paar Dutzend Büchern später auch so blass in eminen Erinnerungen zurückbleiben.

Für mich hätte es nur schon noch etwas mehr an Nuancen, Zwischentönen und vielschichtigeren Charakteren sein dürfen. Wer von Büchern dafür eher einen ausschweifenden Handlungsbogen mit viel Effet erwartet, der wird hier auf alle Fälle glücklich.

Blinde Liebe ist ein gut gemachter Unterhaltungsroman. Nicht mehr, und nicht weniger.

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Gottlieb Mittelberger – Reise in ein neues Leben

Zunächst muss ich mich hier erst einmal in aller Öffentlichkeit leicht revidieren. Vor einigen Wochen schrieb ich eine hymnische Besprechung für Christian Torklers Der Platz an der Sonne. Diese großartige Umkehr der bekannten Flüchtlingsroute von Deutschland nach Afrika inklusive aller Unwägbarkeiten übte eine große Faszination auf mich aus. Diese Idee und das damit verknüpfte Schicksal des Flüchtlings Josua Brenner begeistert mich immer noch uneingeschränkt – allerdings muss ich heute feststellen, dass Torklers Geschichte so neu nicht ist.

Ein Deutscher, der sich entschließt auszuwandern und auf einem anderen Kontinent sein Glück zu suchen. Der seines Lebens in Deutschland überdrüssig ist und in einem anderen Land auf bessere Bedingungen und wirtschaftlichen Erfolg hofft – Wirtschaftsflüchtling möchten da einige brüllen. Der auf Schleußer setzt, um über den Großen Teich überzusetzen. Und der anschließend in der deutschen Ausgewanderergemeinde auf Aufnahme hofft.

Alles andere als neue Themen, wie der Bericht Reise in ein neues Leben von Gottlieb Mittelberger zeigt. Wie alt dieses Thema ist, das illustriert schon die Vorrede zu Mittelbergers Bericht:

Dem Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, HERRN CARL, Herzogen zu Württemberg und Teck, Grafen zu Mömpelgard, Herrn zu Heidenheim und Justingen, etc., Ritter des goldenen Vließes: und des Löbliche Schwäbischen Krieges General-Feldmarschalln, etc. Meinem gnädigsten Fürsten und Herrn, übergibt in tiefster Submission nunmehro in einer verbesserten Gestalt gegenwärtige geringe Schrift, welche Euer Hochfürstliche Durchlaucht noch in Manuskript zum Teil anzuschauen gnädigst gewürdiget haben, und recommendieret sich zu fürwährender höchster Fürstlicher Gnade und Hulden.

Mittelberger, Gottfried: Reise in ein neues Leben, Zuwidmung

Nun, das nenne ich mal ein Vorwort. So etwas würde ich ja gerne heute auch mal in einem Roman lesen, aber wir schweifen ab.

Tatsächlich gibt der Ton, die beschriebenen Adelstitel und die Grammatik schon Hinweis, wann sich dieses Flüchtlingsschicksal abgespielt hat. Fast vor 300 Jahren nämlich, genauer gesagt im Jahr 1754. Dann machte sich Mittelberger auf, um von Amsterdam aus mit einem Schiff nach Amerika überzusiedeln.

Flucht nach Amerika

Er sollte eine Orgel nach Pennsylvania (oder wie es Mittelberger im damaligen Duktus nennt: Pennsylvanien) überführen – doch er entschloss sich, gleich dort in Amerika zu bleiben. In der von deutschen Auswanderern geprägten Gemeinde wollte sein Glück zu versuchen und einen Neuanfang wagen. In seiner Heimat in Enzweihingen drohte ihm nämlich wegen der Belästigung und Nötigung von Frauen der Prozess. Da bot sich der Neustart in Amerika natürlich an.

Ein Wunsch, der ihn mit vielen anderen Schwaben und Pfälzern verband, die in großen Mengen die im 18. Jahrhundert die Flucht nach Amerika antraten. Insgesamt kamen in diesem Jahrhundert fast 200.000 Deutsche nach Amerika. Die Motive waren vielfältig: politische Verfolgung, Hungersnot oder einfach der Wunsch nach wirtschaftlicher Verbesserung. Motive also, die uns auch heute noch sehr bekannt vorkommen, und die wohl immer die Menschen umtreiben werden. Und die man wohl auch nie in Gänze beseitigen kann.

Generell ist es verblüffend, wie bekannt einem viele Passagen aus diesem Bericht vorkommen. Ertrunkene Menschen während der Schiffsreise? Ablehnung der einheimischen Bevölkerung der Zuwanderer, die sich oftmals abschotten und eigene Sprache und Bräuche pflegen? Alles andere als neu, wie dieser Bericht eindrücklich zeigt.

Auf dem Weg nach Pennsylvanien

Originaltitelblatt von Mittelbergers Bericht

Mittelbergers Bericht gliedert sich in zwei Teile, beide eindringlich auf ihre Art und Weise. Zunächst erzählt Mittelberger von der Reise nach Amerika, die er zusammen mit etwa „400 Seelen, Württemberger, Durlacher, Pfälzer und Schweizer, etc.“ (S. 30) antrat und die ihn von Rotterdam über England nach Philadelphia brachte. Neben dem Preis für eine solche Reise und die Unwägbarkeiten, bis man sich an Bord wiederfand, ist vor allem die Beschreibung der Zustände an Bord erschütternd.

Die Enge an Bord, der ständige Hunger, die Unterversorgung und der stets präsente Tod. Man hätte wirklich nicht tauschen wollen, wenn man liest, was Mittelberger zu berichten weiß. Er erzählt von Müttern, die man wegen Komplikationen bei der Geburt ins Meer wirft. Genauso wie zahlreiche Kinder, die während der Reise umgekommen sind und die man dem Meer übergibt. Skorbut, Krätze, Mundfäule oder Geschwüre – der Transit fordert allen hohe Opfer ab.

Weiter geht es dann an Land. Familien werden auseinandergerissen. wer die Überfahrt nicht komplett entlohnen kann, wird versklavt. Mütter, Väter, Kinder – sie alle werden als Arbeitskräfte gerne gebraucht. Im Hafen herrscht ein wirklicher Menschenbasar, bei dem die Flüchtlinge geradezu verschachtert werden.

In Pennsylvanien

Der zweite Teil des Berichts beschreibt dann die Eigenheiten Pennsylvanias. Mittelberger erzählt von der Flora und Fauna, den Indianerstämmen oder auch den Tieren, die den Staat bevölkern. Er berichtet vom Rechtssystem und juristischen Präzendenzfällen, die ihm zugetragen wurden.

Vier Jahre verbringt er insgesamt in Pennsylvanien, ehe ihm auch dort aufgrund von Vergehen der Prozess droht. Oder wie es der Pfarrer der Gemeinde beschreibt, in der Mittelberger als Organist angestellt war:

[Er benahm sich] gegen eine ledige Frauenperson so … sündlich und höchst ärgerlich … dass Er künftig hin unwürdig ist, die Orgel in der Kirche zu berühren und die Jugend in der Schule zu unterrichten.

Mittelberger, Gottlieb: Reise in ein neues Leben, Vorwort

So tritt er wieder die Flucht nach Hause an, wo Frau und Kinder auf ihn warten. Er verfasst diesen Reisebericht für den Herzog von Württemberg, wovon auch das Vorwort zeugt. Schließlich hatte dieser auch ein Interesse daran, seine Untertanen von der gefahrvollen Reise und den Lebensumständen in Amerika zu warnen. Wollte er doch seine Mitmenschen von der Emigration abhalten.

Auch heute noch aktuell

Auch wenn sich manche Beschreibungen Pennsylvanias heute kurios ausnehmen: Besonders der Teil der Seeüberfahrt berührt und zeigt, wie Menschen schon immer Gefahren auf sich genommen haben, um ein besseres Leben zu suchen. Mag es nun das Jahr 1753 sein, oder das Jahr 2018. Die Gier nach Glück ist allen Menschen zueigen, das zeigt auch Mittelbergers Bericht einmal mehr sehr eindrücklich.

Dieses Streben einzuhegen und in Bahnen zu lenken. Fluchtursachen zu bekämpfen, gleiche Lebensumstände herzustellen. Dazu hätte man nun wirklich schon Jahrhunderte Zeit gehabt. Aber die Gefälle wird es immer geben – und Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, diese Gefälle irgendwie zu bezwingen. Das lehrt uns Reise in ein neues Leben.

Muss ich noch dazu erwähnen, dass das Buch wirklich herausragend gestaltet ist (farbiger Buchschnitt, eingeprägtes Verlagsemblem, toller Satz, Vorsatzpapier, ergänzendes Vorwort, Literaturapparat)? Wohl kaum. Denn wer den Verlag Das kulturelle Gedächtnis kennt, der weiß, dass sie und ihn hier ganz hohe Buchkunst erwartet.

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Maxim Biller – Sechs Koffer

Wenn man in die Printlandschaft und die Bloggospäre rund um den Deutschen Buchpreis 2018 schaut, dann scheinen sich fast alle einig: Maxim Billers Sechs Koffer ist ein Meisterwerk, ein preiswürdiger Kandidat für die Shortlist und sogar für höhere Weihen. Nach der Lektüre frage ich mich – haben all die Rezensent*innen ein anderes Buch als ich gelesen?

Die Ausgangslage zu Billers Miniaturdrama (nicht einmal 200 Seiten weist die Erzählung auf) ist sehr vielversprechend. Die Mitglieder der Familie Biller leben alle mit einer Ungewissheit. Ihr Vater bzw. Großvater, tschechisch der Tate, wurde nach einem Verrat hingerichtet. Er schmuggelte Uhren und Dollars in den Westen – bis ihn ein Tipp auffliegen ließ. Doch wer ist der Verräter, wer hat den Taten auf dem Gewissen? Niemand weiß es, und so beginnt der Enkel des Taten mit seinen Nachforschungen.

Wer spricht die Wahrheit? Wer ist der Verräter? Und welche Blicke eröffnen uns sechs unterschiedliche Perspektiven? Eigentlich ein hochspannender Ansatz, aus dem Biller allerdings leider überhaupt nichts erzeugen kann. Weder schafft er es, die unterschiedlichen Charaktere sauber herauszuarbeiten und klar zu machen, wer gerade erzählt, noch gelingt ihm, eine saubere Exposition zu kreieren, die in die Erzählung hineinträgt.

Mehrmals musste ich ansetzen, um in Sechs Koffer hineinzufinden. Wer ist nun wer, welcher Konflikt liegt dem Ganzen zugrunde, wer erzählt hier gerade? All das erschloss sich mir erst nach mehrmaligem Loslesen von Billers Geschichte. Neben einer sauberen Ausarbeitung und einem erzählerischen Plan fehlt diesem Buch Rhythmus und ein innerer logischer Fluß, der den Leser durch die Geschichte geleitet.

Zu kurz und skizzenhaft

Meist vertrete ich ja die Auffassung, dass viele Bücher stärker werden, wenn man sie kürzt, reduziert, eher auf ihren Kern fokussiert. Dass manchmal auch das Gegenteil der Fall ist, sieht man an Sechs Koffer. Billers Prosa ist gehetzt, vollgestopft wie ein muffiges und zu kleines Zimmer voller Nippes. Mit 50 oder 100 mehr Seiten hätte er in meinen Augen ruhiger ausarbeiten können, worum es ihm geht und seinen Charakteren mehr Spielzeit gönnen können. So bleibt keine Figur im Gedächtnis, alles verharrt angerissen und skizziert.

Dass man am Ende der Geschichte genauso schlau wie vorher ist, das ist da schon geschenkt.

Dafür, dass Maxim Biller in die Richtung anderer Autor*innen immer hart austeilt, ihnen Duckmäusertum, Bräsigkeit und „Schwanzlosigkeit“ vorwirft, da sie noch nichts erlebt hätten – dafür liefert er selber sehr schwach ab. Auch seine Sprache weiß leider nicht zu begeistern. Eine besondere Kreativität ist hier nicht erkennbar, störend für mich hingegen war so manches Mal ein Zuviel an (widersprüchlichen und) ungenauen Adjektiven. Ein Beispiel sei hier auf Seite 12 genannt:

Sollte Dima über seine fünf Jahre in Pankrác lachen? Sollten sie beide über den Tod ihres armen Vaters lachen, ihres geliebten, strengen und meistens viel zu großzügigen Taten?

(Biller, Maxim: Sechs Koffer, S. 12)

Für mich leider im Gegensatz zum Gros der Kritiker durch die Bank weg enttäuschend. Eine Zuerkennung des Deutschen Buchpreises 2018 für Sechs Koffer könnte ich leider nicht nachvollziehen.

Eine ebenfalls kritische Analyse und Einschätzung hat abseits von allen lobenden Bewertungen noch Marina Büttner von Literaturleuchtet geschrieben.

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Steffen Mensching – Schermanns Augen

Wie kann das sein? Da schreibt Steffen Mensching den besten Roman des Jahres, ein epochales Gemälde von Europa und Russland in den 30er und 40er Jahren – und kaum einer bekommt es mit? Zeit wird es, das zu ändern – denn Schermanns Augen sind über 800 Seiten Literatur, die im Gedächtnis bleibt. Handlungssatt, bunt und berührend.

Steffen Mensching (Jahrgang 1958, geboren in Ost-Berlin) präsentiert sich auf seiner eigenen, grafisch gewagten Homepage mit der schönen Selbstbeschreibung Autor, Clown, Schauspieler, Regisseur. Seit zehn Jahren steht er dem Theater in Rudolstadt als Intendant vor und ist damit offenbar noch nicht ganz ausgelastet. Anders lässt es sich nicht erklären, dass er es geschafft hat, diesen Ziegelstein von einem Buch neben seiner Tätigkeit am Theater zu produzieren (wenngleich Mensching laut Interviews über 12 Jahre an dem Buch saß). Die Vorarbeiten zu Schermanns Augen müssen immens gewesen sein, genauso wie die Arbeit mit dem Text selbst. Denn sein Buch ist ein 800-Seiten-Pfünder mit einem bemerkenswert dichtem Textgewebe voller Zeitkolorit, Personen und Anekdoten der europäischen Secession.

Secession und Straflager

Diese lässt Mensching in all ihrer pulsierenden Kreativität und Lebendigkeit wiederauferstehen. Geistesgrößen wie Karl Kraus mit seiner Zeitschrift Die Fackel, der Maler Oskar Kokoschka, Alma Mahler, der Komponist Arnold Schönberg oder der Architekt Adolf Loos – sie wurden zu Taktgebern der 20er und 30er Jahre und prägten in Zentren wie Berlin oder Wien den intellektuellen Rhythmus. Neben unzähligen weiteren kulturell prägenden Gestalten bekommen sie ihren Auftritt – in den Erinnerungen von Rafael Schermann.

Jener Schermann, eine in den buntesten Farben schillernde und glitzernde Figur, lässt wie in 1001 Nacht diese Zeit und zugleich Zeitenwende wieder auferstehen. Die Rahmenbedingung für seine Erzählungen sind dabei von ebenso großer Tristesse wie Bedrohlichkeit. Denn Schermann sitzt 1940 im Gefängnis Artek ein und erzählt in Verhören seine Lebensgeschichte.

Safranowka, ITL 47, genannt Artek II, war ein Nebenlager im Archangelsker Gebiet, hundertfünfzig Kilometer östlich von Kotlas, an der Bahntrasse nach Workuta gelegen. Bis 1935 ein verschlafenes Fünfzig-Seelen-Dorf, windschiefe Hütten und eine baufällige, als Getreidespeicher genutzte Kirche. Dann übernahm das NKWD die Siedlung. Fünf Jahre später lebten hier knapp tausend Häftlinge, Frauen und Männer. Schermann war jetzt einer von ihnen.

(Mensching, Steffen: Schermanns Augen, S. 7)

Warum hat es Schermann in dieses Lager verschlagen? Und das größte Mysterium überhaupt- wer ist dieser Mann überhaupt, der die abenteuerlichsten Geschichten zu erzählen weiß? Welche Geheimnisse hütet der Sträfling?

Er wurde bei einem Halt auf freier Strecke aus dem Transport geholt. Zwei Sträflinge, die zum Beräumen der Gleise eingeteilt waren, schleppten den Ohnmächtigen in Begleitung eines Postens zum Schlitten des Depotverwalters Trufulski. Der lieferte ihn in der Krankenbaracke ab. Ein Greis. Obwohl erst sechsundsechzig. Nicht allein die unbegründete Verlegung, auch der Aufenthalt im Brygidki-Gefängnis, die Odyssee im Viehwagen, Lemberg, Kiew, Charkow, Gorki, Hunger, Durst und Kälte, die Arbeit im Sägewerk der Sondersiedlung Fediakowo hatten Spuren hinterlassen.

(Mensching, Steffen: Schermanns Augen, S. 7)

Die Fragen, die die Herkunft und der Weg Schermanns ins russische Arbeitslager aufwirft, treiben nicht nur die Lagerleitung um. Auch Otto Haferkorn ist von dem polnischen Mitgefangenen fasziniert.

Dieser Otto Haferkorn stammt eigentlich aus Berlin, sitzt aber nun in Artek wegen einer Verurteilung nach Paragraph 58 ein. Als kapitalistischer Spion gebrandmarkt hat er eine ebenfalls eine turbulente und aufwühlende Lebensgeschichte hinter sich. Er dient als Übersetzer in den Verhören Schermanns. Denn als Einziger ist der im ganzen Straflager des Deutschen mächtig und wird so zum Mittler zwischen Lagerleitung und Schermann.

Ein unglaubliches Leben

Es entfaltet sich in der Doppelbiographie von Rafael Schermann auf der einen und Otto Haferkorn auf der anderen Seite ein Bilderbogen, der das 21 Jahrhundert mit all seinen Verwerfungen und Schizophrenien treffend bebildert.

Rafael Schermann bei der Arbeit (Von anonymous/unknown – [1] Narodowe Archiwum Cyfrowe NAC, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18712671)

Während Haferkorn als Schriftsetzer für eine sozialistische Zeitung tätig war, ehe er die Flucht in den Osten antrat, verdingt sich Schermann mit dem Gegenteil der mechanisch erzeugten Schrift. Als Schriftendeuter oder Psychographologe wird er zum bewunderten Star der Gesellschaft, macht die Bekanntschaft aller Reichen und Berühmten, die seine Fähigkeiten bestaunen. Schon als Angestellter einer Versicherung in der böhmischen Provinz gelang es ihm, schier Unglaubliches aus dem Schriftbild seiner Mitmenschen herauszulesen. Familiäre Hintergründe, Beruf, Zukunft – Schermanns Augen bleibt nichts verborgen. Seine Analysen gleichen Hellseherei.

Dieses Talent führt ihn in die Kreise der Wiener Secession. Berlin, sogar Amerika bereist der polnische Sherlock Holmes (so einmal die Schlagzeile einer Zeitung über Rafael Mauritzowisch Schermann). Immer ist er dabei umgeben von den wichtigen und einflussreichen Menschen seiner Zeit.

Einem Zirkuspferd gleich wird Schermann als Attraktion durch die Weltgeschichte gescheucht. Auch die Medizin findet Interesse an seinen Fähigkeit, der Arzt Oskar Fischer publiziert ein Buch über das Phänomen Schermann und seine schriftdeuterischen Fähigkeiten. Doch auch bei Otto bleiben Zweifel – ist dieser Mann nun ein Genie oder ein Hochstapler?

Überleben in Artek II

An seinem neuen Platz im Arbeitslager dient Schermanns Fähigkeit als Faustpfand für das Überleben. Denn im Mikrokosmus des Arbeitslagers, in dem Bäume nach 5-Jahres-Plänen gefällt werden müssen, ist es ein Kunststück, am Leben zu bleiben. Überlebensfeindliche Temperaturen um das Lager herum – und nicht minder gefährliche Mithäftlinge in Artek II. Eindrucksvoll zeigt Mensching, wie die Regeln eines solchen Arbeitslagers wirken. Denn nicht nur die sowjetischen Aufseher führen ein hartes Regiment – auch im Lager selbst hat sich eine ausgeklügelte Hierachie entwickelt. Berufsverbrecher, auch Urki genannt, haben unter der Führung des Lagerpaten ein ebenso brutales wie effizientes System zum Machterhalt entwickelt.

Nicht umsonst leitet Mensching seinen Roman mit einem Zitat Fjodor Dostojewskis ein. Es stammt aus dessen Aufzeichnungen aus einem Totenhaus. Treffender könnten Titel und Zitat auch für Menschings Prosa nicht sein:

Der Mensch ist ein Wesen, das sich an alles gewöhnt; ich glaube das ist die beste Defintion für ihn

(Fjodor Dostojewksi)

Dieses Überleben in Extremsituationen beleuchtet der Berliner Autor eindrucksvoll. Beeindruckend dabei, wie, abwechslungsreich und geradezu bestechend Mensching seine Prosa komponiert und rhythmisiert. Mit größter Sprachmacht durchmisst er sicher all diese unterschiedlichen Milieus, mit denen Haferkorn und Schermann im Laufe ihrer unterschiedlichen Leben in Berührung kommen

800 Seiten voller Abwechslung

Auf über 800 Seiten tritt auf keiner einzigen Seite ein Gefühl von Langeweile oder gar Stillstand auf. Beachtlich, wenn man bedenkt, dass die Rahmenhandlung auf dem beengten Raum des Straflagers 47 spielt. Steffen Mensching gelingt das Kunststück, die Enge und die Atmosphäre voller depravierter Menschen und sozialem Druck zu schildern, und dabei seinen Plot maximal weit und frei zu erzählen. Das ist große Kompositionskunst!

So stilistisch vielfältig, so inhaltlisch vielstimmig ist auch sein Buch. Die Schauplätze reichen von Berlin bis an den Ural, von New York bis Lemberg. Mal ist das Buch ein geradezu barocker Geschichtsbogen in orientaler Tradition, mal trostloser GULAG-Roman. Mal Oral History, mal Märchenbuch. Mal Kultur, mal Politik, mal tief im Osten, dann wieder im Westen. Zudem ist Schermanns Augen auch eine Hymne auf das Schreiben, die Handschrift und all das, was sich damit ausdrücken lässt.

Ein Buch mit hohem Anspruch, allerdings nicht immer einfach zu lesen. Ein Register mit den vielen russischen Termini wäre schön gewesen. Auch erfordert Menschings Eigenart, im ganzen Buch bei den wörtlichen Dialogen auf Anführungszeichen zu verzichten, erhöhte Aufmerksamkeit vom Leser.

Ohne den dichten Buchsatz der Seiten mit Absätzen oder irgendwelchen anderen setzerischen Mitteln aufzulockern entsteht so ein Lesefluss, der keine Ablenkung verzeiht. Dass daneben auch das Personaltableau überbordend ist, scheint auch dem Verlag aufgefallen zu sein. Nicht umsonst liegt dem Buch trotz Leseband noch ein Lesezeichen bei, dass wenigstens das wichtigste Personal von Artek II noch einmal aufführt und ihre Rolle stichpunktartig benennt.

Ein Lob dem Wallstein-Verlag

Vielleicht kann nur ein kleiner unabhängiger Verlag wie der Wallstein-Verlag das Wagnis eines solchen überbordenden Buches eingehen. Im normalen Druchlauferhitzer des Buchmarkts mit den schnell auf Erfolg kalkulierten Titeln dürften Big Player nur abwinken. Zu speziell, zu umfangreich, zu überambitioniert. Gehts nicht auf griffiger und kürzer?

Nein geht es nicht. Hier hat ein Autor seinen Raum bekommen, den er zur maximalen Entfaltung genutzt hat. Der verlegerische Mut, auf Schermanns Augen zu setzen gleicht dem, den Rafael Mauritzowitsch Schermann und sein Übersetzer Otto Haferkorn im Roman immer wieder aufs Neue beweisen. Es sind große Worte, die ich an dieser Stelle gebrauche – aber (natürlich streng subjektiv gesprochen) ein anderer deutschsprachiger Titel diesem Buch Konkurrenz machen kann, halte ich für dieses Jahr nahezu augeschlossen.

Fazit

Dass Schermanns Augen nicht auf der Longlist oder Shortlist des Deutschen Buchpreises 2018 steht, ist ein Skandal. Denn etwas Vergleichbares auf diesem Niveau fand ich in diesem aber auch den letzten Jahren nicht auf dem Buchmarkt. Lob, Ehre und Preise diesem Buch im Dutzend! Ein Herzensbuch, dessen Empfehlung mir hier wirklich ein Anliegen ist. Ein verlegerisches Wagnis, das unbedingt belohnt werden sollte!

 

Quelle des Titelbildes: Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1316062

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