Tag Archives: Gesellschaft

Regina Porter – Die Reisenden

Man kennt diesen unangenehmen Moment, wenn man bei fremden Menschen oder wahlweise sogar den potentiellen Schwiegereltern zu Gast ist. Gerne wird das willfährige Opfer zum richtigen Zeitpunkt zur Ahnengalerie geführt, die sich irgendwo im Hause befindet. Am besten in Petersburger Hängung sind sie dann an der Wand angebracht, dicht an dicht: Bilder von sämtlichen nahen und entfernten Verwandten. Urlaubsbilder, schon meist mit etwas Patina versehen. Kinderfotos, die den erwachsenen Zöglingen schon lange peinlich sind. Urlaubsfotos von Tante Gerda, Hochzeitsbilder der eigenen Großeltern. Verlobungsfotos von Onkeln und Tanten, in Sepia getränkte nostalgische Urlaubserinnerungen.

Die Fotos wollen kein Ende nehmen. Und dann ist da auch noch der Hausherr oder die Hausherrin, die sämtliche Fotos mit weitschweifigen Erklärungen versieht. Verwandtschaftsverhältnisse, Anekdoten aus Urlauben, peinliche Kindheitserinnerungen. Alles wird haarklein erzählt, man kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen. Es dauert und dauert und schon nach fünf Fotos hat man eigentlich den Überblick verloren. Aber man ist ja ein netter Gast und heuchelt Interesse. Und schon geht es weiter und das nächste Foto ist an der Reihe.

Wer je in einer solchen Situation gefangen war, der kann sie schlecht vergessen. Natürlich ist eine Vergegenwärtigung der eigenen Familiengeschichte schön und gut, aber nicht immer ist diese sonderlich spannend oder für Außenstehende verständlich. Einen Anflug dieses Gefühls hatte ich auch bei der Lektüre von Regina Porters Roman Die Reisenden (übersetzt von Tanja Handels), dessen Veröffentlichung ich schon entgegenfieberte. Ein schillerndes Zeitpanorama und ein intimes Familienepos zweier gegensätzlicher Familien, von der Bürgerrechtsbewegung bis hin zur Obama-Ära. Das versprach der Klappentext sowie die lobenden Stimmen, die das Erscheinen begleiten.

Konnte die Autorin diese Versprechen einhalten? Wie sich meinen Einleitungsworten entnehmen lässt, ist dies leider überhaupt nicht der Fall. Aber warum ist das so? Hier mein Versuch einer persönlichen Analyse.

Die Erzählkonstruktion als Fluch und Segen

So erweist sich der von Regina Porter gewählte Erzählansatz zugleich als Fluch und Segen. Als Segen, weil sie immer wieder durch unterschiedliche Jahre hüpft und die Erzählung so merklich auflockert und das starre narrative Gefüge durchbricht. Auch stehen ihr mit den zwei unterschiedlichen Familien viele Möglichkeiten offen, um Entwicklungen, Moden und Schicksale zu beleuchten und zu spiegeln. Allerdings liegt hier auch die Krux des Romans. Denn jede der beiden Familien hat zahlreiche Familienmitglieder, die von Regina Porter recht unverbunden alle lang und breit in Episoden gewürdigt werden. So bekommen Enkel, Eltern und Großeltern in verschiedenen Lebensstadien in unterschiedlichen Jahrzehnten ihre Auftritte. Mal wieder auktorial erzählt, dann gibt es wieder für ein Familienmitglied eine*n Ich-Erzähler*in.

So weit so gut. Allerdings schafft es Regina Porter nicht im Ansatz, sich zu beschränken und sich auf dieses Personal zu fokussieren. Denn sie führt auch noch außerehelich gezeugte Kinder, deren Nachbarn, deren Kindern und noch weiter entfernte Figuren ein, die alle in ERzählungen vorgestellt werden. Da sie diese Schicksale und Sprünge durch die Jahre auch nur mit sehr dünnem literarischen Kleber verbindet (manchmal ist es auch nur ein Name aus der vorherigen Episode, der dann in der 20 Jahre später spielenden Geschichte wieder relevant wird). Die Bezüge müssen dann mühsam selbst im Text herausgesucht werden – oder man schaut diesen gelinde gesagt etwas komplexen Stammbaum auf dem hinteren Vorsatzpapier an).

Alles ist mit allem verbunden.

Der Wahnsinn hat Methode

Ich mag ja Literatur, die mich fordert und die es mir nicht allzu leichtmacht. Hier hatte ich allerdings das Gefühl, einer etwas wirren und reichlich unstrukturierten Erzählerin vor ihrer gigantischen Bilderwand zu lauschen. Sicher: alles ist mit allem verbunden oder um mit dem mehrfach im Text zitierten Hamlet zu sprechen: Mir scheint, der Wahnsinn hat Methode. Auch mag es viele Leser*innen geben, die Freude an dem detektivischen Suchspiel der versteckten Bezüge haben. Ich hatte diese leider zu keinem Zeitpunkt der Lektüre. Etwas mehr literarischer Kitt hätte es schon sein dürfen. Da helfen auch keine etwas wahllos im Buch eingestreuten Fotografien, die den Realitätsgrad erhöhen sollen.

Auch hatte ich mir von der politischen Komponente in diesem Werk mehr erhofft. Natürlich werden Begebenheiten wie die Ermordung Martin Luther Kings oder der Rassismus in Form des Green Books erwähnt. Der Vietnamkrieg spielt sogar eine große Rolle. Allerdings hat es sich damit auch schon. Der große Gesellschaftsroman und Kommentar zu den politischen Entwicklungen ist dieses Buch mitnichten. Hier wird etwas zu einem Ereignis hochgejazzt, das es leider in meinen Augen nicht ist.

Für mich ist Die Reisenden somit alles andere als das erhoffte erzählerische Highlight des Frühjahrs. Ein Roman wie eine dreistündige Beschau einer eklektischen Bildersammlung. Schade drum!

Ocean Vuong – Auf Erden sind wir kurz grandios

Einen Brief schreibt man ja eigentlich, damit er gelesen wird. Der Sender hat eine Botschaft, die er dem Empfänger mitteilen möchte. So simpel ist zunächst einmal das grundlegende Kommunikationsmodell. Doch was ist, wenn ein Sender einen Brief schreibt mit dem Wissen, dass ihn der Empfänger gar nicht lesen kann oder wird? Dann entsteht eine Unwucht im Kommunikationsmodell – oder im Fall von Ocean Vuong erstaunliche Literatur.

Denn das lyrische Ich in Vuongs Debüt beschließt, einen Brief an die eigene Mutter zu verfassen, die er im Lauf dieses Brief-Romans immer mit „Du“ adressiert. Doch die vietnamesische Mutter ist des Englischen nicht mächtig, weshalb sie den Brief nicht lesen wird. Im Wissen um diese Nichtkommunikation entsteht so ein Dokument, das ich als Akt der Befreiung und als radikale Selbstentblößung las.


Es ist eine allseits beliebte Frage, die beim Reden über Bücher zumeist als erstes gestellt wird: Worum geht es in dem Buch? Auf Erden sind wir kurz grandios macht es den Leser*innen da alles andere als einfach. Denn die Themen in Vuongs Buch sind ebenso vielfältig wie kaum kategorisierbar.

Da ist zum einen das Grundgerüst eines Briefs an die eigene Mutter, der sich zu einem Familiengemälde über drei Generationen entwickelt. Denn die Großmutter Lan und die Mutter des Erzählers lebten in Vietnam, ehe sie die Flucht in die USA antraten. Dort wächst dann der Erzähler heran, der mit der amerikanischen Kultur und Sprache sozialisiert wird. Wurzeln schlägt er dort aber keine, ist vielmehr das Opfer von Ausgrenzung und Schikane.

Blick auf die USA – und auf Vietnam

Dann ist das Buch aber auch ein eindringliches Portrait der USA im 21. Jahrhundert mit einem genauen Blick auf diese Menschen, die abseits der Ballungszentren leben und oftmals vergessen werden (man denke nur an Hillbilly Elegie von J. D. Vance). Die massenhafte Opioidkrise, die Millionen Tote forderte ist genauso ein Thema wie die Frage, wer in der weißen Mehrheitsgesellschaft der USA Repräsentation genießt.

Sein Buch ist eine präzise Auslotung des amerikanisch-vietnamesischen Verhältnisses, das so manches Mal erstaunliche Parallelen hervorbringt.

1997: Tiger Woods [der wie der Erzähler über vietnamesische Wurzeln verfügt] gewinnt das US-Masters, seinen ersten großen Titel im professionellen Golf.

1998: Vietnam eröffnet seinen ersten professionellen Golfplatz, angelegt auf einem ehemals von der U.S. Air Force zerbombten Reisfeld. Eines der Grüns entstand durch die Aufschüttung eines Bombenkraters.

Vuong, Ocean: Auf Erden sind wir kurz grandios, S. 74

Denn allmählich setzt in der amerikanischen Literatur eine spannende Entwicklung ein. Migrantische Stimmen werden lauter, die die Beziehung Vietnams zu Amerika nun auch aus der Sicht des damaligen Kriegsgegners beleuchten. So schaffen sie eine dringend nötige Gegenperspektive zu einer Erzählung, die bislang rein amerikazentriert stattfand. Vor allem Viet Thanh Nguyen und seine Bücher (Der Sympathisant bzw. Die Geflüchteten) wäre in dieser Reihe zu nennen, in der nun auch Ocean Vuong steht.

Dokument einer Selbstermächtigung

Doch nicht nur ein Blick auf die vietnamesische und amerikanische Gesellschaft ist der Roman von Ocean Vuong. Der Brief ist auch ein eindringliches Dokument einer Selbstermächtigung.

Denn Vuong hat nicht nur mit seiner migrantischen Identität zu kämpfen. Auch ist er homosexuell und berichtet von seinem Coming Out bzw. seiner sexuellen Initiation. Einmal bezeichnet sich der Erzähler auch als „queere, gelbe Tunte“ (S. 177), also ein doppelt ausgestoßener Mann, der auch an dieser Front um seine Selbstbestimmung kämpfen muss.

Umso erstaunlicher, wie souverän das lyrische Ich die unsichtbaren Fesseln abgelegt hat und sich radikal selbst entblößt. Die Tatsache, dass seine Mutter den Brief nie wird lesen können, ist in dem Falle eine große Befreiung. Immer wieder unterbrechen Reflexionen sein Schreiben, das sich auch klar erkennbar auf Denker*innen wie Roland Barthes oder Simone Weil beruft. Gerade Roland Barthes Tagebuch der Trauer, verfasst nach dem Tod von dessen Mutter, wird zum Auslöser, den Brief zu verfassen.

Ich weiß nicht, ob du glücklich bist, Ma. Ich habe nie gefragt.

Vuong, Ocean: Auf Erden sind wir kurz grandios, S. 43

Hier stellt sich ein Erzähler den Wunden der eigenen Vergangenheit und beschäftigt sich mit diesem akuten Thema Herkunft.

Die Frage der Identität

Apropos Herkunft: dass gerade Saša Stanišić , Verfasser eben jenes Werks, auf der Rückseite des Buchs mit einem Blurb vertreten ist, ist kein Wunder. Denn beiden Autoren ist viel gemein. Zum einen die migrantische Identität, die für ihre Prosa entscheidend ist. Und zum anderen auch die Herangehensweise an das Thema, das man kaum linear und chronologisch bezwingen kann. Wer bin ich, wo komm ich her, was macht mich aus? Diese Frage ist in der Literatur dies- und jenseits des Atlantiks von immer größerer Brisanz, je mehr das Thema Migration an Bedeutung gewinnt.

Zudem spielt in meinen Augen auch eine Rolle, dass sich junge Migrant*innen langsam auch mehr Repräsentanz in der Literatur erkämpfen. Früher marginalisierte Gruppen bekommen eine Stimme, bringen sich in die Diskurse ein und bereichern so die Literatur. Wenn man der These folgt, dass Literatur immer auch Gedächtnis sei, so erweitern wir unseren Wissensspeicher gerade durch solche Stimmen wie Stanišić oder Vuong immens. Eine Entwicklung, die mehr als notwendig ist.

Fazit

Bleibt nur noch die eingangs gestellte Frage, die ich auch nach der vollendeten Lektüre von Auf Erden sind wir kurz grandios nicht beantworten kann. Vuongs Buch ist eine wilde Mischung aus Memoir, Briefroman, Familiengeschichte, Coming Out, Gesellschaftsbetrachtung, Totengesang und dergleichen mehr (toll übersetzt durch Anne-Kristin Mittag).

Ocean Vuongs prall geschnürtes Bündel mit der etwas schwammigen Genrebezeichnung Roman wird durch einen Faden zusammengehalten, der um alle Themen geschlungen ist. Und dieser Faden heißt Identität. Alle Passagen sind von Wunsch nach Erinnerung und der Frage der Herkunft durchdrungen. Das macht dieses Buch so aktuell und notwendig, mag es auch manchmal sperrig oder widerborstig erscheinen.

Aber hier erhebt einer seine Stimme, dem man unbedingt zuhören sollte, möchte man die Probleme junger Migranten in den USA verstehen.


Weitere Rezensionen zu dem Titel gibt es unter anderem bei Poesierausch, auf Zeit Online sowie Literaturleuchtet und Lesen in vollen Zügen.

Christoph Ribbat – Im Restaurant

Eine Geschichte aus dem Bauch der Moderne

Möchte man beckmesserisch sein, dann könnte man den Untertitel von Christoph Ribbats Buch etwas in Zweifel ziehen. Denn statt einer Geschichte ist Ribbats Buch voller Geschichten, die meist nur eine halbe bis ganze Seite umfassen. Anekdoten, Schlaglichter, eben ganz viele Geschichten über und aus Restaurants. Aber nachdem die vielen Geschichten dann wieder eine ergeben, sei auch der Begriff „eine Geschichte“ erlaubt. Nun aber weg von Nebensächlichem hin zum Eigentlichen – wie ist Ribbats Buch gelungen?

Vorzüglich muss ich feststellen! Eine Metapher aus dem Kochbereich pro Rezension ist erlaubt, insofern: hier hat ein Könner etwas Fabelhaftes zurechtgebrutzelt – ein Menü in vier Gängen. Eines, das Epochen, Geistesgeschichte und Kulinarik in sich vereint und keinesfalls zu schwer daherkommt.

Ribbat lehrt eigentlich als Professor für Amerikanistik an der Universität von Paderborn. Wer nun ein Buch mit stark amerikazentriertem Blick und professoraler Schreibweise erwartet, der sieht sich schnell getäuscht. Stattdessen liegt der Schwerpunkt auf Europa mit gelegentlichen Ausflügen nach Übersee. Und ein professorale, will sagen mit viel Fachduktus und kompliziertem Zugang zum Thema versehene Schreibe, sucht man im Buch auch vergeblich. Stattdessen dominiert ein wohltuend niedrigschwelliger Zugang zum Thema, der auch mit der Erzählweise zusammenhängt.

Denn Ribbat erzählt in vier Kapiteln von den Ursprüngen und der Entwicklung der Speiseform Restaurant. Die ersten drei Kapitel (Öffnungszeiten, Nachkriegshunger und In die Gegenwart) gehen weitestgehend chronologisch der Geschichte der Restaurants nach.

Von Kellner, restaurativen Bouillons und dem Siegeszug der Schnellgastronomie

So erfährt man, wie sich um 1760 von Paris ausgehend erste Stätten entwickeln, in denen „restaurative“ Bouillons gereicht werden. Der Name Restaurant etabliert sich für die neuartige Form von Essstätten. Das Restaurant tritt schnell seinen Siegeszug an. Von Paris aus übers ganze Land, von ganz Europa bis über den großen Teich. Der Siegeszug der Restaurants ist nicht aufzuhalten. Ribbat betrachtet die Evolution, die schon bald einsetzt. Innovationen wie Arbeitsteilung in der Küche oder das soziale Verhalten von Kellner*innen in Amerika und Europa sind Themen.

Über die Zeit der Weltkriege bis hin zur Geschichte von modernen Kochtempeln wie etwa dem El Bulli oder dem Noma reicht der Bogen, den Ribbat schlägt. Er erzählt von Köchen wie etwa Jacques Pepin, Magnus Nilsson oder Ali Güngörmüs, von Kritiker*innen und Schriftsteller*innen, die ihr Leben den Restaurants gewidmet haben. Darunter finden sich Namen wie Jürgen Dollase, Barbara Ehrenreich oder Wolfram Siebeck, die im Buch porträtiert werden.

Daraus zu schließen wollen, dass Im Restaurant eine Sammlung netter Schnurren und unterhaltsamer Anekdoten ist, wäre allerdings grundfalsch.

Denn für Ribbat ist das Restaurant nur ein Brennglas, unter dem sich die soziologische, kulinarische und geschichtliche Entwicklungen minutiös ablesen lassen. So zeigt er, was die Massendemokratisierung von Geschmack, die To-Go-Kultur und das veränderte Selbstbild von Kellner*innen und Köch*innen bewirkt haben. Genauso sind auch die „Döner-Morde“ oder Erlebnisse Günter Wallraffs in einer Hamburger Mc-Donalds-Filiale in seinem Buch Ganz unten Thema. Auch widmet er dem Rassismus in Restaurants in Amerika viel Aufmerksamkeit, der dann zu Ereignissen wie den Woolworth Sit-Ins führte. Man spürt – in Restaurants wurde und wird Geschichte geschrieben.

Ein Restaurant: stets mehr als ein Restaurant

Wenn man sich in Ribbats umfangreichen Kosmos der Restaurants begibt, lernt man diese Essstätten mit ganz neuem Blick zu betrachten. Denn mag so manch einer auch nur ins Restaurant gehen, weil er Hunger hat – Restaurants sind deutlich mehr: Orte der Kommunikation und der Politik, Begegnungsstätten, Kulturorte. Das wird besonders im vierten Teil des Buchs deutlich. In Restaurants deuten liefert Ribbat den theoretischen Überbau und die Fundierung der zuvor angerissenen Thesen.

Wohin entwickeln sich Restaurants? Wie beeinflussen sie unsere Kultur und die Gesellschaft? Ribbat versucht sich an einer vorsichtigen Deutung. Dabei stützt er sich auf eine Vielzahl von Quellen, die anschließend im Anhang alle aufgeführt sind. Stolze 351 Quellen sind dort aufgeführt, allerhand dafür, dass Ribbats Text nicht einmal 200 Seiten lang ist.

Dass der Text zu keiner Zeit theorielastig, sondern immer geistreich und unterhaltsam ist, das ist die Kunst dieses Buchs und dieses Autors. 2016 war Ribbat mit diesem Buch auch für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert – ich finde zurecht. Dieses hier zubereitete Buchmenü schmeckt nicht nur Foodies!

Johanna Holmström – Die Frauen von Själö

Drei unterschiedliche Frauen, über 100 Jahre Handlungszeitraum, eine Insel: das ist der neue Roman von Johanna Holmström. In ihm widmet sich die schwedischsprachige Finnin einem wenig bearbeiteten Kapitel in der Geschichte ihres Landes – nämlich dem der Insel Själö (übersetzt von Wibke Kuhn).

Diese Insel befindet sich vor der Südwestküste Finnlands im dortigen Schärengarten. Etwa zwei Kilometer beträgt der Durchmesser der Insel – und bis auf die Tatsache, dass ein Asteroid nach der Insel benannt wurde, gibt es eigentlich kaum nennenswerte Besonderheiten oder Sehenswürdigkeiten. Eine Kirche, heutzutage eine Forschungsstation, ein altes Krankenhaus, das war es. Aber gerade dieses Krankenhaus hat eine erschütternde Vergangenheit, die Johanna Holmström in ihrem Roman wieder ans Tageslicht holt.

Sie erzählt von drei Frauen, der Schicksal eng mit der Insel Själö verknüpft ist. Da ist im ersten Teil Kristina, die im Jahr 1891 eine schier unglaubliche Tat begeht. Mit einem Boot rudert sie nächtens auf einen Fluss hinaus. Dort wirft sie dann ihren Sohn und ihre Tochter schlafend über Bord und rudert dann wieder heim. Eine schier unfassliche Tat, die auch Kristina selbst am nächsten Tag nicht wirklich glauben kann.

Man weist sie in die Nervenheilanstalt in Själö ein, wo man sich um Frauen wie Kristina kümmert, fernab der normalen Zivilisation. Diese Insel wird Kristina nicht mehr verlassen, was sie auch Jahre später im Gespräch mit einem Priester konstatiert:

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Kristina. Aber eines weiß ich. Der Herr ist denen nah, die ein gebrochenes Herz haben, und er rettet die, die geistig verloren sind. Sie wussten nicht, was Sie taten, als Sie ihre Kinder ertränkt haben. Und sie haben selbst gesagt, dass Sie acht Jahre in geistiger Umnachtung verbracht haben. Ist das nicht Strafe genug?“

„Diese Frage entscheiden nicht Sie. Ich habe überhaupt nicht das Gefühl, meine Verbrechen gesühnt zu haben, und ich bin froh, sie jeden Tag aufs Neue zu sühnen.“

„Nein Sie werden gesund werden, Kristina. Schauen Sie sich doch an, wie Sie hier sitzen und mit mir reden. Sie können gesund werden, KRistina, wenn Sie es nur versuchen.“ (…)

Sie schaut ihn eine Weile an und deutet dann mit einem Nicken zum Friedhof. Erland folgt ihrem Blick.

„Ich werde diese Insel niemals verlassen“, sagte sie. „Von hier … von hier führt nur ein Weg fort, und der geht dorthin.“

Holmström, Johanna: Die Frauen von Själö. S. 120

Pfleger*innen kommen und gehen, Priester und Ärzte kommen und gehen – aber Kristina wird die Insel tatsächlich nicht mehr verlassen.

Drei Frauen in der Nervenheilanstalt

Auch die junge Elli wird Jahrzehnte später auf Själö interniert. Diese hat sich allerdings keines Verbrechens schuldig gemacht, vielmehr ist sie einem Komplott um Liebe und Enttäuschung zum Opfer gefallen. Auch für sie wird Själö zum unbarmherzigen Schicksal, dabei wollte sie eigentlich nur frei und unbestimmt leben. Doch die finnische Gesellschaft kennt auf einen solchen Emanzipationsversuch nur die Antwort – Själö.

Besonders grausam sind neben den psychischen Bedingungen auch die medizinischen Ansichten des Personals, die besonders zur Zeit des Zweiten Weltkriegs unglaubliche Blüten treiben und beim Lesen schaudern lassen.

„Es gibt also keine Chance? Das wollen Sie damit sagen? Keine Chance, jemals entlassen zu werden?“

„Tja, kommt ganz drauf an. Mit der weiblichen Natur verhält es sich nämlich so, dass sie zyklisch ist. Das gilt auch für den weiblichen Wahnsinn. Der Zusammenhang zwischen diesen Wahnsinnszyklen und der Menstruation ist in den meisten Fällen offensichtlich, und sobald die Menstruation aufhört, hört sehr oft auch der Wahnsinn auf. Deswegen hatten schon viele das Glück, zu diesem Zeitpunkt entlassen zu werden“, erklärt er.

Holmström, Johanna: Die Frauen von Själö, S. 176

Auch wenn die Jahre ins Land gehen, wenn man auf Själö gelandet ist, dann wird man kaum mehr von der Insel herunterkommen, außer man gehört zum medizinischen Personal.

Aber auch dieses hat es nicht unbedingt besser, auch wenn man sich auf der anderen Seite befindet. Das wird im dritten Teil des Romans klar, der die Pflegerin Sigrid in den Mittelpunkt stellt. Auch sie ist mit einen Wünschen und Hoffnungen einst nach Själö gekommen. Doch die Hoffnung und Illusionen haben sich im Lauf der Zeit schnell zerschlagen. Und so endet der Roman dann nach über hundert Jahren 1997.

Geblieben ist kaum etwas, außer Enttäuschung, viel Unaufgearbeitetes und jede Menge Frauenschicksale, auf deren unglückliche Leben die Gesellschaft nur die Antwort Ausgrenzung und Psychiatrie kannte.

Eine Reise nach Själö ohne Wiederkehr

Am Ende des traurigen und nachdenklich stimmenden Romans steht dann die Erkenntnis, die allen Frauen von Själö über kurz oder lang immer kommt:

„Jetzt weiß ich, dass das nur ein Märchen ist“, sagt Karin. „Denn in Wirklichkeit werden wir hier nie wegkommen, wusstest du das nicht?“

Elli schweigt einen Augenblick.

„Wie meinst du das?“, fragt sie dann, aber Karin schaut sie gar nicht an.

„Damit meine ich, dass das hier die Endstation ist. Das Ende meiner Reise. Und deiner Reise auch. Hier wird niemand entlassen (…).“

Holmström, Johanna: Die Frauen von Själö, S. 249

Kein Buch für gute Laune, erhebende Stimmung oder ein wenig Flucht aus der Realität. Aber ein nachdenklich machendes Mahnmal für ein erschütterndes Kapitel (finnischer) Psychiatriegeschichte.

Melissa Scrivner Love – Lola

Melissa Scrivner Love bringt den Feminismus und Empowerment in den zeitgenössischen Thriller. Ein Hymne auf die Kraft des Weiblichen, auf die Sorgearbeit und den Stress, den es bedeutet, Frau, Geliebte, Schwester und Pflegemutter zu sein – und nebenbei noch eine Gang zu leiten und einem übermächtigen Kartell die Stirn zu bieten.


„Entschuldigung, aber Sie haben wirklich tolle Waden“, sagt die Frau. (…) „Was machen Sie?“

„Ich bin im Vertrieb“, sagt Lola.

„Nein, ich meine, welches Training machen Sie. Hier“ (…)

„Gewichte“, sagt Lola, und es stimmt. Auf ihren Schultern lasten viele Gewichte. Sie nimmt Lucys Hand und lässt die Frau stehen.

Scrivner Love, Melissa: Lola, S. 35

Es sind in der Tat viele Gewichte, die Lolas Schultern niederdrücken. Schon fast unübersichtlich viele Gewichte. Zunächst ist Lola die Geliebte von Garcia, der die Gang The Crenshaw Six anführt. Diese Gang kontrolliert den Drogenvertrieb an ein paar Ecken von Los Angeles. Zwar sind sie keine großen Player, der Wunsch nach mehr ist allerdings vorhanden.

Dann ist Lola auch im familiären Verbund eingespannt. Ihr Mutter ist drogensüchtig und fällt als Bezugsperson im Familiengefüge aus. Ihr kleiner Bruder ist ebenfalls hochgradig gefährdet, da er sich auch in Garcias Gang beweisen muss. Zudem ist Lucy, die Tochter einer anderen drogensüchtigen Mutter bei Lola untergekommen. Für diese will sie als eine Art Familienersatz fungieren. Einmal mehr Druck für Lola also, da sie auch diese Rolle als Ziehmutter irgendwie ausfüllen muss.

Darüber hinaus illustriert Melissa Scrivner Love eindrücklich, wie Lola in ihrem Leben und Alltag immer wieder auf Schranken von Klassen und Gesellschaft stößt. Kein Wunder, dass Lola mit ihren 26 Jahren das Gefühl hat, von unzählichen Gewichten niedergedrückt zu werden.

Lola rennt

Im Buch erleben wir Lola als eine permanent gehetzte Frau, deren Überleben von ihrem eigenen Geschick abhängt. Da The Crenshaw Six einen Drogendeal vermasselt haben, sitzt ihnen jetzt auch noch das übermächtige Kartell im Nacken. Diese haben Garcia eine eng gesteckte Frist gesetzt – allenfalls wollen sie Garcias Geliebte ermorden Wer zieht den Karren aus dem Dreck? Natürlich muss auch hier Lola ran. Und Lola rennt.

Natürlich ist Lola ein Thriller, der den Konventionen des Genres gehorcht. Die Ausgangslage – Los Angeles, Drogen, Gangs, Kartelle – mag nicht sonderlich neu sein. Was Melissa Scrivner Love dann allerdings aus dem vorhandenen Material zaubert, ist frisch, neu und augenöffnend.

Natürlich ist der Thriller zugespitzt auf Lola als Gangchefin, die den Kartellbossen die Stirn bietet. Durch solch extreme Situationen funktionieren solche Thriller. Aber man merkt auch, dass hinter aller Zuspitzung und Übertreibungen doch eines ganz klar durchscheint – das Wissen um den Kampf, den es bedeutet, wenn man sich als Frau durchsetzen will oder muss.

Nachdem sie ein paar Schritte gegangen sind, fragt Lucy: „Warum sind hier nur Frauen?“

Die Frage trifft Lola wie ein kleiner Hieb. Lola will Lucy nicht sagen, dass Frauen so bekloppt sind und glauben, dass sie verzichten und sich kleiner machen und weniger wollen und mehr geben müssen als Männer. (…)

„Frauen legen einfach strengere Maßstäbe an sich an“, sagt Lola.

Scrivner Love, Melissa: Lola, S. 351

Immer wieder sind es Kommentare zur Rolle der Frau in der heutigen Gesellschaft, dem Kampf um Selbstbestimmung, auch übergreifende gesellschaftliche Betrachtungen der USA (und darüber hinaus) und die soziologischen Schranken, die Scrivner Love in ihren Text fließen lässt. Das hebt Lola über das Gros durchschnittlicher Thrillerkost hinaus (die man vielleicht bei dem etwas Groschenroman-haften Cover erwarten würde).

Eigentlich ist es eine zutiefest feministisches Schrift, die sich hinter Lola verbirgt. Dass sich Melissa Scrivner Love das Gewand eines Thrillers augesucht hat, um ihre Botschaften unter das Volk zu bringen, ist zu begrüßen. Denn so kann der Text hoffentlich eine große Breitenwirkung entfalten und hoffentlich die ein oder andere Debatte evozieren.

Sehr stimmig übersetzt wurde der Text ins Deutsche von Andrea Stumpf und Sven Koch. Erschienen ist der Titel bei Suhrkamp.