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Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir?

Eine Frau zwischen Performancekunst und Love-Scamming, Annäherung und Abstoßung, Melancholia und Pas de Quatre. In Martina Hefters Roman Hey guten Morgen, wie geht es dir? steht all das nebeneinander. Die Autorin liefert einen Text, der weniger durch einen Erzählbogen denn durch sein Gefühl für Gleichzeitigkeiten überzeugt. Jüngst wurde das Buch mit einem Platz auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 belohnt.


Es ist ein ganzes Füllhorn an Motiven und Themen, das Martina Hefter vor ihren Leser*innen ausgießt und das die Grundstruktur ihres Romans bildet. Für ihre Lyrik und Prosa jüngst mit dem Großen Preis des Deutschen Literaturfonds ausgezeichnet stellt die Autorin in diesem Text eine Frau in den Mittelpunkt, die auf den ersten Blick viele Berührungspunkte mit der Autorin selbst aufweist. Von einem an der bayerischen Vils gelegenen Ort stammend hat es die Künstlerin Juno Isabella Flock nach Leipzig verschlagen. Dort teilt sie sich mit ihrem Lebensgefährten namens Jupiter eine gemeinsame Altbauwohnung.

Das prekäre Künstlerdasein verbindet sie mit dem an den Rollstuhl gefesselten Jupiter, in dem sich einige Züge von Jan Kuhlbrodt erkennen lassen, mit dem Hefter tatsächlich in Leipzig zusammenlebt, und der laut dem Nachwort zu diesem Roman auch nichts dagegen hatte, „hier und da mit Jupiter verwechselt zu werden, sondern den Gedanken sogar schön fand“.

Juno und Jupiter

Man schlägt sich so durchs Leben. Sie besorgt für ihn Pizzazungen und löst Rezepte ein, da Jupiter die Wohnung fast nicht mehr verlassen kann. Ab und an gastiert Juno mit Gastspielen auf Bühnen und zeigt Performances und Texte. Manchmal reicht das Geld kaum zum Leben, und doch hat man sich mit dem Zustand und dem Dasein als Kreativschaffende arrangiert und ist gewillt, in diesem Zustand bis zur Rente irgendwie durchzuhalten.

Beim Sommerfest würden sie den Pas de Quatre von Jules Perrot tanzen. Ein berühmtes Stück von 1854, erschaffen für die damals vier berühmtesten Tänzerinnen der westlichen Welt. Marie Taglioni, Carlotta Grisi, Lucile Grahn und Fanny Cerrito.

Sie waren damals Superstars. Zur Aufführung des Stücks trafen sie das erste Mal zusammen und traten gemeinsam auf. Das war eine Sensation.

Juno sollte die Position der Marie Taglioni tanzen.

Es gab keine Handlung in dem Stück, nur eine Situation: Vier Frauen tanzten zusammen. Geometrische Muster, Vierecke, Kreise, Diagonalen.

Planeten, die sich treffen, beinah kollidieren.

Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir?, S. 133

Dieses berühmte Tanzstück ist ein guter Ausdruck auch für das erzählerische Konzept von Hefters Roman. Denn Hey guten Morgen, wie geht es dir? besticht weniger durch eine konsistent durchgearbeitete Handlung, als durch viele Elemente, die hier nebeneinanderstehen, ebenso wie die Tänzerinnen in dem Stück alle ihr eigenes Stück tanzen – oder eben die Planeten, die auf die Erzählerin ebenfalls einen großen Reiz ausüben.

Briefwechsel mit einem Love-Scammer

Martina Hefter - Hey guten Morgen, wie geht es dir? (Cover)

Größtes Verbindungsstück über den Text hinweg dürfte das Love-Scamming sein, das dem Buch auch den Titel verleiht. Love-Scamming bezeichnet den Betrugsversuch, bei dem Klickarbeiter unter einer falschen Identität den Kontakt zu anderen Menschen im Netz suchen, um sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen diesen zu nähern, einzuschmeicheln und schlussendlich Kapital aus dieser Nähe zu schlagen.

Mit einem dieser Scammer, der sich mit der nichtssagenden und doch irgendwie interessiert wirkenden Floskel bei Juno meldet, steigt sie – wohlwissend um dessen falsche Identität – in einen Chat ein, aus dem sich ein Gespräch und schließlich sogar Videotelefonate entwickeln, bei dem die beiden Einblicke in ihr Leben gewähren, sich aber dann doch wieder nicht wirklich in die Karten schauen lassen.

Junos Scammer stammt – wie so häufig – aus einem Entwicklungsland und hört auf den Namen Benu. Er lebt in Nigeria, von wo aus er seine digitalen Köder auswirft und versucht, sich anderen Menschen anzunähern. Im Lauf des Romans schreiben sich die beiden immer wieder, versuchen sich in die gegensätzlichen Lebenswelten einzufühlen und kreisen in ihren Gesprächen immer wieder um Themen, die vor allem Juno am Herzen liegen. Insbesondere Lars von Triers Film Melancholia, die Stimmungen, die dieser evoziert, und andere planetare Gegebenheiten sind Themen, die immer wieder in den Chats auftauchen und die Juno Isabella Flock stark beschäftigen.

Inhaltliche und formale Vielfalt

Um diese ganzen digitalen Gespräche herum passiert auch in der analogen Welt das Leben in seiner ganzen Fülle, was Martina Hefter mit einem Gespür für Gleichzeitigkeit und das Nebeneinander von großen und kleinen Themen schildert.

Jupiter gewinnt einen Literaturpreis (kaum verhüllt liest man hier von der tatsächlich stattgefundenen Preisverleihung des Alfred Döblin-Literaturpreises an Jan Kuhlbrodt im Literarischen Colloquium Berlin im vergangenen Jahr), nachts schleicht sich Juno durch die Wohnung, um mit Benu zu skypen und sich in Chats zu verlieren. Dann stehen plötzlich wieder Performance-Texte beziehungsweise Performance-Anweisungen im Text.

Es ist eine große Vielfalt, die Hey guten Morgen, wie geht es dir? sowohl in der äußeren Form mit der Mischung aus Dialogen, Anweisungen und Erzähltexten kennzeichnet, als auch inhaltlich, wie eben schon dargestellt.

Themen umkreisen sich wie Planeten

Eine wahllose Aneinanderreihung von Beliebigkeiten ist das Ganze allerdings keineswegs. Denn obschon das Buch ohne größeren erzählerischen Bogen angelegt ist, gibt es doch Bewegungen, die sich in Hefters Text ausmachen lassen. So ist es die nonchalante Maskierung der biographischen Folie dieses Künstlerromans, die mit einer De-Maskierung des falschen Love-Scammers einhergeht. Dergleichen mehr an Bewegung findet sich in diesem Text, kreist umeinander und berührt sich mal, bleibt sich dann wieder fern, eben wie die Planeten oder die vier Tänzerinnen im Pas de Quatre.

Mit Dialogen aus der Digitalen Welt einem Aufbrechen herkömmlicher narrativer Strukturen ist dieses postmoderne Werk ganz zeitgemäß, schwingt auch die Autofiktion stets in diesem Text mit. Lesbar ist Hey guten Morgen, wie geht es dir? als Künstlerroman, als Briefroman, als Blick auf den Kunstbetrieb im Allgemeinen und den Literaturbetrieb im Speziellen oder als das Porträt einer Frau, die sich mit ihrer künstlerischen und privaten Identität auseinandersetzt. Als Buch am (ästhetischen) Puls der Zeit verwundert die Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 nicht.

Weitere Meinungen zu Martina Hefters Buch gibt es unter anderem bei Kulturgeschwätz, Bookster HRO und Deutschlandfunk Kultur.


  • Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir?
  • ISBN 978-3-608-98826-0 (Klett-Cotta)
  • 224 Seiten. Preis: 22,00 €
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Hans Pleschinski – Der Flakon

Vom Elbflorenz nach Pleiße-Athen. In seinem neuen Roman Der Flakon schickt der Münchner Schriftsteller Hans Pleschinski eine Adelige auf eine waghalsige Mission zur Zeit des Siebenjährigen Kriegs. Dabei muss sich das Buch mit dem Vergleich mit einem anderen historischen Roman stellen, bei dem Pleschinskis neues Buch leider den Kürzeren zieht.


Sachsen, 1756. In Leipzig und an vielen anderen Orten kommt die Epoche der Aufklärung zu ihrer großen Blüte. Christian Fürchtegott Gellert schreibt Fabeln, Gottsched und seine Frau reformieren das Theater und die Sprache. Man musiziert, pflegt Freundschaften, sucht in Vorhaben wie dem Zedler’schen Lexikon das Weltwissen zu bündeln. Während im Pleiße-Athen aufgeklärt wird, wird im Elbflorenz Dresden fleißig gesammelt. So kauft Carl Friedrich Heineken als bevollmächtigter Stellvertreter des Premierministers unentwegt Kunstschätze für die königliche Sammlung an, darunter Dürer, Tizian und Holbein. Im Grünen Gewölbe funkeln und strahlen die Geschmeide, dessen Erbauung einst August der Starke veranlasste. Kunst und Kultur allenorten – aber auch der Siebenjährige Krieg steht bereits vor der Tür.

Kampf um Sachsen

Den Startschuss dafür hat Friedrich II. von Preußen im August 1756 gegeben. Mit seinen Truppen überschritt er kurzerhand die Grenzen Sachsens. Er marschiert auf Dresden und Leipzig zu. Reichsminister Brühl ist zusammen mit seinem Herrscher Friedrich August aus Dresden nach Warschau geflohen. Seine Frau Maria Anna Franziska Reichsgräfin von Brühl hat er in seinen Brühlsche Herrlichkeiten geheißenen Prunkbauten zurückgelassen. Sie hofft ebenso wie ganz Sachsen auf eine Intervention der Verbündeten. Österreich unter Kaiserin Maria Theresia, der russischen Zarin Elisabeth Petrowna oder der eigentlichen französischen Staatenlenkerin, Madame de Pompadour. Sie alle sollen dem von Preußen so bedrohten Sachsen beistehen und militärische Unterstützung leisten.

Hans Pleschinski - Der Flakon (Cover)

Doch ein Befreiungsschlag der sächsischen Armee mithilfe der Unterstützung österreichischer Truppen am Königsstein misslingt (nebenbei – was für ein schöner Kofferbegriff aus Pleschinskis früheren Werken Königsallee und Wiesenstein) Die Sachsen werden von Friedrich II. aus dem Feld geschlagen, für die preußische Armee zwangsrekrutiert und dessen Truppen können in ihrem Tun fortfahren, um weiterhin Dresden zu verwüsten und die Stadt Leipzig um horrende Zahlungen zu erpressen.

Reichsgräfin Brühl beschließt in dieser aussichtslosen Lage zu handeln. Sie will von Dresden nach Leipzig aufbrechen, um dem Tyrannen Friedrich II. unter die Augen zu treten. Entscheidende Bedeutung kommt in ihrem Plan dem Mittel Tufania zu, den sie in einem Flakon auf ihrer Reise mit sich führen möchte:

Mit Tufania, vielleicht nur wenigen Tropfen, hatten vor allem im Süden, in Palermo, Frauen ihre grausamen oder greisen Ehemänner beseitigt, mit denen sie verheiratet worden waren. Eine Essenz der Erlösung. Eine bewährte Mischung aus Belladonna, Arsen und Blei. Geruchlos, rasch in der Wirkung und nahezu spurlos. Erst der unbedachte Gebrauch, ein Weiterreichen der Flüssigkeit und dann Bestattungen in Serie hatten auf Sizilien die Behörden alarmiert.

Ein feines Mittel.

Hans Pleschinski – Der Flakon, S. 104

Tyrannenmord als letzter Ausweg

Der Tyrannenmord als letzter Ausweg. Zusammen mit ihrer Kammerzofe Luise von Barnhelm bricht die Reichsgräfin im Winter auf und reist inkognito per Postkutsche. Dabei erfährt sie anschaulich die Verheerungen im Land, sieht Züge jüdischer Geflüchteter und kommt Leipzig auf Umwegen immer näher…

Wenn der Münchner C. H. Beck-Verlag in seiner Werbung und dem Klappentext des Buchs davon spricht, dass Hans Pleschinski hier endlich ein wenig bekanntes Kapitel deutscher Geschichte erzählt, dann stimmt das nur so halb. Mag man auch den preußischen Überfall auf Sachen als entscheidendes Initiationsereignis der Siebenjährigen Kriegs nach dem Geschichtsunterricht auch nicht mehr wirklich präsent im Kopf haben, so wurde dieses Thema literarisch doch erst im vergangenen Jahr behandelt und in diesem Jahr mit einer Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse geadelt. Die Rede ist vom famosen Werk Aufklärung von Angela Steidele.

Zwar legte sie ihren erzählerischen Fokus auf die Leipziger Frauen, die neben ihren Männern und Vätern wie Johann Sebastian Bach oder dem bereits erwähnten Johann Christoph Gottsched die Aufklärung entschieden voranbrachten. Aber gerade im letzten Teil der Aufklärung ist die Belagerung Leipzigs durch die Truppen Friedrichs II. großes Thema, das sie aus der Perspektive der Zivilbevölkerung schildert.

Setzt Hans Pleschinski nun auf die in Teilen gleichen Themen, in Teilen gleichen Handlungsorte und Personen, so provoziert das natürlich einen direkten Vergleich zwischen beiden Werken. Ein Vergleich, in dem Pleschinskis neuer Roman für mich zumindest leider unterliegt.

Hans Pleschinski oder Angela Steidele?

Denn wo Angela Steidele unangestrengt Wissen vermittelte, durch die Wahl der Bach-Tochter Doro als zentrale Erzählerin einen runden und logischen Erzählfluss kreierte und ein rundum überzeugendes Lese- und Bildungserlebnis im Sinne ihres Buchtitels schuf, da liegt bei Hans Pleschinski die Sache etwas anders.

Er hält sich mit vielen Schilderungen der militärischen Lage und zahllosen historischen Randnotizen auf, lässt seine Figuren durch die Gassen Dresdens eilen, ehe dann endlich das entscheidende Komplott der Reichsgräfin geschmiedet wird. Erst nach einhundert Seiten bricht diese dann tatsächlich zur zentralen Kutschfahrt auf, die im Mittelpunkt des Romans steht.

Auch diese wird wieder zum geistesgeschichtlichen Schaulaufen. Pleschinski lässt verschiedene Theorien und Disziplinen in Form von mitfahrenden Kutschgästen und Schenkengästen auftreten. Weltpolitik, Kunst, kulturelle Strömungen, Erfahrungen des Kriegsleids und der allgegenwärtigen Zerstörung, kleine Verweise auf die Gegenwart (etwa wenn die Leipziger auf der Straße mit dem Verweis auf die Einheit als ein Volk demonstrieren), historische Biografien und Wendepunkte wie die Katte-Tragödie – all das fließt in Der Flakon ein. Leider aber rumpelt das Ganze so unelegant und schwerfällig wie die Kutsche der Reichsgräfin auf den sächsischen Wegen.

Fazit

Vielleicht hätte mich Der Flakon ohne die Kenntnis von Angela Steideles in allen Belangen so viel eleganteren Erzählung mehr überzeugt. Auch eine Formung des ganzen als Novelle mit der Kutschfahrt als zentralen Motiv wäre hier vielleicht die bessere Wahl gewesen. So aber verbindet sich hier leider in vielen Passagen erzählerische Langeweile mit geschichtsinformatorischen Overkill, abschweifende Seitenepisoden mit wenig ausgestalteten Figuren. Dass es Pleschinski so viel besser kann, hat er ja etwa in seinem grandiosen Werk Wiesenstein ja bereits bewiesen. Hier hätte ein klarerer Fokus aber notgetan, um im Wettrennen um den überzeugenderen historischen Roman nicht von Angela Steidele abgehängt zu werden.


  • Hans Pleschinski – Der Flakon
  • ISBN 978-3-406-80682-7 (C. H. Beck)
  • 360 Seiten. Preis: 26,00 €
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Angela Steidele – Aufklärung

Angela Steidele entführt in ihrem neuen Roman Aufklärung in ein Leipzig des 18. Jahrhunderts, das einem intellektuellen Bienenschlag gleicht. In allen Ecken der Stadt fliegen die Ideen hin und her. Es summt und brummt im wahrsten Sinne des Wortes. Denn Bach revolutioniert die Musik, das Ehepaar Gottsched reformiert die deutsche Sprache. Vertreter*innen der Philosophie, Naturwissenschaft und schöne Künste streiten und debattieren, vereint im Ziel, die Gesellschaft weiterzuentwickeln. Steidele beschreibt die neuen Ideen, Rivalitäten und die aufregenden Möglichkeiten, die ein freier Geist bereithalten kann. Ein glänzender Roman, der zeigt, was intellektuell in diesem Land einst vollbracht wurde und der völlig zurecht für den Preis der Leipziger Buchmesse 2023 nominiert ist.


Gottsched ließ den Blick über Luise und mich gleiten. „Das 18. Jahrhundert ist nicht nur das Jahrhundert des Lichts, sondern auch der Frauen!“

Ich spürte sein Knie an meinem und tat so, als würfe mich ein Stoß der stark ruckelnden Kutsche auf Luise. „Oh, entschuldigen Sie bitte.“

Angela Steidele – Aufklärung, S. 298

Schon allein diese kleine Szene arbeitet wunderbar die Themen, Figuren und Widersprüche heraus, die Angela Steidele in ihrem historischen Roman Aufklärung in den Mittelpunkt ihres Erzählens stellt. Denn bei ihr sind es nun die Frauen, die nach Jahrhunderten des männlichen Geniekults nun nach vorne auf die Bühne treten – oder vielleicht eher erst einmal aus der letzten Reihe heraus, wie Steidele zeigt.

Dorothea Bach und Luise Gottsched

Erzählt wird die Geschichte nämlich von Catharina Dorothea, genannt Doro Bach, der ältesten von insgesamt drei Kindern, die Johann Sebastian Bach zusammen mit seiner ersten Frau Maria Barbara Bach hatte. Diese erlaubt uns einen Blick in den Haushalt des Thomanerkantors, der nach dem Tod seiner Frau dann Anna Magdalena Bach heiratete, die für ihn dann ihre Karriere als Kammersängerin aufgab und sich der Erziehung der vielköpfigen Kinderschar kümmerte.

Die zweite zentrale Figur, die nicht nur in obiger Kutschszene als Orientierungspunkt für Doro Bach dient, ist Luise Gottsched. Sie stammt eigentlich aus dem Baltikum, kam aber durch die Ehe mit dem meritenumrankten Johann Christoph Gottsched, Professor für Weltweisheit, nach Leipzig, wo sie seitdem auf Männer und Frauen eine große Faszination ausübt, vor allem auf Dorothea.

Dorothea ist es auch, die die Briefe Luise Gottscheds nach ihrem Tod durchsehen und ordnen soll. Hat ihr Ehemann zwar eine Biographie verfasst, entspricht dieses Bild aber mitnichten dem, das Dorothea von Luise hatte. So liegt es nun an der Bach-Tochter, ihre Version der Ereignisse zu erzählen, woraus die Rahmenhandlung dieses Romans erwächst.

Männlicher Geniekult und Frauen in der zweiten Reihe

Angela Steidele - Aufklärung (Cover)

Egal wie weitumfassend die Kenntnisse von Luise Gottsched oder die musikalische Kompetenz von Doro Bach auch reichen mag – von Gleichberechtigung kann noch lange keine Rede sein, mag auch das Ehepaar Gottsched auf den ersten Blick fortschrittlich erscheinen. Aber übergriffige Männer und männliche Dominanz sind ein Thema, das weder heute noch damals in der Epoche der Aufklärung überwunden werden konnte. Wandernde Finger und Füße auf Kutschfahrten sind da noch das Harmloseste.

Steidele zeigt Mechaniken männlicher Geschichtsschreibung und verdrängter Frauen auf – und knüpft damit auch wieder an die Kanon-Debatten unserer Tage an, nicht nur, wenn Gottsched in der Biographie seiner Frau deren Leben stark überformt und verfremdet. Auch die Erzählerin Doro Bach erlebt dies beim Blick in die Familienchronik Ursprung der musicalisch-Bachischen Familie.

Dabei muss sie feststellen, dass sie zusammen mit Anna Magdalena zwar die Familie versorgt und zusammenhält. In der schriftlichen Aufzeichnung schlägt sich das allerdings keineswegs nieder. Denn in Bachs Chronik ist kein Platz für Frauen.

Eine durchnummerierte Liste mit Namen, Geburt, Verwandtschaftsverhältnissen und Wirkungsstätten als Musiker, selten mehr. Schreibt sich so Geschichte ohne eigenes Zutun? Ist das besser als Gottscheds Biographie über Luise? Er selbst teilte sich die Nummer 25 zu, Friedemann die 45.

„Und welche Nummer habe ich?“

„Ach Caro, gar keine natürlich.“

„Wie, gar keine?“

„Ehefrauen und Töchter zählt unser Vater nicht auf.“

Caroline griff nach den Blättern. „Was – uns gibts gar nicht?“ Fassungslos überflog sie die Chronik. „Nur Männer, die Söhne zeugten! Wie sind die denn auf die Welt gekommen?“

Susanna ließ die Nadel sinken. Sie fand Carolines Bemerkung überflüssig, ja blöd. Es verstehe sich schließlich von selbst, dass all die Väter auch Ehefrauen und Töchter gehabt hätten. Aber die hätten halt keine Werke hinterlassen und deshalb müsse man sie auch nicht erwähnen. Ich wollte nicht zanken und behielt meine Gedanken für mich.

Angela Steidele – Aufklärung, S. 140 f.

Ein historischer Roman mit feministischer Perspektive

Angela Steidele hat mit Aufklärung einen historischen Roman mit feministischer Perspektive geschrieben, der das Licht auch einmal auf jene lenkt, die heute schon wieder vergessen sind, ohne die die Epoche und ihre geisteswissenschaftlichen Entwicklungen so nicht hätten stattfinden können.

Luise Gottsched lauscht heimlich den Vorlesungen ihres Mannes und ist ihm spätestens dann unverzichtbar, wenn es mit einer Übersetzung dem frankophilen preußischen Herrscher Friedrich II. zu beweisen gilt, dass es das Deutsche in Sachen lyrischer Qualität durchaus dem Französischen aufnehmen kann. Zudem ist sie es, die in Steideles Interpretation der Geschichte Bach das Libretto für sein Weihnachtsoratorium liefert, dessen erste Zeilen „Jauchzet, Frohlocket“ wohl auch heute noch jedem und jeder geläufig sein dürften (obgleich die wahre Identität des oder der Verfasser*in jener Zeilen bis heute im Dunklen liegt).

Anna Magdalena organisiert den Probenbetrieb und den Haushalt, damit ihr Mann seine Kantaten und Oratorien ungestört komponieren kann. Johann Heinrich Zedler möchte sein Vorhaben für sein berühmtes Universallexikon auf den Weg bringen – braucht aber eine fähige Schriftführerin, die er in Form von Dorothea Bach findet. Die Schauspielerin Caroline Neuber muss sich das von ihre geleitete Theater immer wieder gegen Widerstände zurückerkämpfen – um ihre Spielrechte dann wieder zu verlieren.

Oftmals scheint es, als sei es alleine die weibliche Hartnäckigkeit und Widerstandskraft, die die Weiterentwicklung von Musik, Theater, Literatur und Wissen in jener Zeit ermöglicht. Die Männer sind in Steideles Leipzig oftmals mit weniger konstruktiven Dingen befasst, die Steidele humorvoll mit viel Anklängen an die Gegenwart und in manchen Passagen fast soaphaft schildert.

Der junge Lessing opponiert gegen Gottsched, dessen strenge Regelpoetik in Sachen Sprache und Theater ein Dorn im Auge ist. Bach strebt nach mehr Anerkennung seiner musikalischen Tätigkeit und komponiert gar das Musikalische Opfer, um sich bei den jeweils Herrschenden auf guten Fuß zu stellen. Junge Studenten schließen sich den Freimaurern an und Geheimgesellschaften schießen aus dem Boden, etwa auch in Ingolstadt, wo Adam Weishaupt seinen Zirkel der Illuminaten gründet.

Während Luise Gottsched sich hinter einem Pseudonym verstecken muss, um Die Pietisterey im Fischbein-Rocke zu veröffentlichen oder anonym hunderte Beiträge für die Publikation ihres Mannes zu schreiben, nutzten die Männer derweil die Anonymität eher, um sich gegenseitig in den Zeitungen zu verleumden. Breitkopf will die Schrifttype Antiqua einführen, hat aber den meisten Erfolg mit der Einführung kleiner Billets, die dutzendfach in den Gassen Leipzigs zirkulieren und auf denen man ebenfalls anonym über andere spottet oder die Wahrheit verdreht. Ein Trend, der in der Stadtgesellschaft schon bald unter dem Begriff „Zwitschern“ um sich greift.

Das Licht ist hier viel heller?

Nicht nur hier, sondern in vielen anderen Passagen scheint immer wieder deutlich die Gegenwart durch, etwa wenn sich auch der Lexikongründer Zedler über die Nachdrucke in mangelnder Qualität beklagt, in der die Raubdrucker beispielsweise die Wikinger falsch als Wikipedinger abgeschrieben nachdrucken. Egal ob Streitfragen über Übersetzungen oder Debatten zu Geschlechterverhältnisse – es wäre ein Fehler, Aufklärung als Roman über eine längst vergangene Zeit abzutun.

Denn Steidele schafft immer wieder durchaus humorvoll Bezüge auch zu unserer Gegenwart herzustellen und zeigt Geschichte als etwas Fortwährendes. Die in der Epoche verhandelten Probleme und auftretenden Themen sind allesamt auch in unserer Zeit von Belang, was in diesen Tagen besonders in den letzten Seiten des Buchs deutlich wird, wenn Steidele durch Dorothea den Siebenjährigen Krieg und seine ganze Sinnlosigkeit beschreibt.

Friedrich II. von Preußen, der gegen Maria Theresia von Österreich opponiert, dazu noch der Konflikt mit Russland unter Zarin Katharina – viele Gefechte um kleine Einflusszonen – und dazu viel Not und Elend für die Zivilbevölkerung. So wird Dorothea Zeugin, wie Friedrich II. trotz der Bittfahrten von Gottsched nach Potsdam die Stadt Leipzig erpresst. Soldaten, die Frauen schänden und Kriegsbeute rauben, Mangel, Hunger und Armut – all das lässt neben den anderen zahlreichen Parallelen in unsere Tage gerade besonders nachdenklich werden und das „Licht“ der Aufklärung so manches Mal recht deutlich flackern.

Licht und Schatten der Aufklärung

Nicht umsonst endet dieses an Gedichten, theoretischen Texten, musikalische Auszügen und philosophischen Zitaten nicht arme Buch auf folgende Zeilen aus Hillers Die verwandelten Weiber:

Denn die einen sind im Dunkeln
Und die andern sind im Licht.
Und man siehet die im Lichte
Die im Dunkeln sieht man nicht.

Angela Steidele – Aufklärung, S. 593

Und ja, Angela Steidele hat wirklich ein Buch geschrieben, dass die Licht- und Schattenseiten der Aufklärung in den Blick nimmt und das Zeitalter des Age of Enlightment eben nicht nur verklärt, sondern auch Raum lässt für die Makel jener Zeit. Männer im Licht, Frauen im Schatten – gegen diese Sichtweise schreibt Dorothea Bach an und schafft mit ihrem Zeugnis dieser Zeit ein beeindruckendes Buch, das Steidele klug inszeniert und in einer stimmigen Sprache darbietet.

Obschon sich die Männer im Universitätsumfeld in Aufklärung sehr begeistert vom binären Rechensystem zeigen, so ist die Schwarz-Weiß-Perspektive Angela Steideles Ding als Autorin gar nicht.

Sie überzeugt als Schriftstellerin mit dem Gespür für Verhältnisse jenseits des starr binären Denkens, egal ob geschichtlich oder geschlechtlich. Sie zeigt die schwebende Anziehung zwischen Frauen, die Mannigfaltigkeit der geisteswissenschaftlichen Entwicklungen in den verschiedensten Disziplinen, spielt mit der Unzuverlässigkeit der Erinnerung und des Erzählens und beweist nicht zuletzt auch in der Beschreibung von Musik ein ungeheures Talent. Ihre Schilderung der Aufführung der h-Moll-Messe zu Leipzig oder die Stimmproben von Dorothea mit Luise bestechen durch Plastizität und mitreißende Dynamik. Aufklärung macht nicht zuletzt auch Lust, sich wieder einmal in den klanglichen Kosmos von Johann Sebastian Bach zu versenken.

Fazit

All das macht aus den knapp 600 Seiten Aufklärung ein hervorragend geschrieben und ebenso hervorragend inszeniertes Werk, das voller Themen und Ideen steckt, eben so wie die Epoche der Aufklärung selbst. Man geht hervorragend unterhalten und nachdenklich aus diesem wissensprallen, geistreichen und humorvollen Buch heraus. Es ist Lektüre, die Lust macht auf Geistesarbeit und in der die Historikerin Steidele zeigt, in welcher Qualität man sich Bildung einst erschloss und wie revolutionär die Ansätze der Aufklärer (und natürlich nicht zu vergessen der Aufklärerinnen!) einst waren.

Nun muss man nach der Lektüre von Aufklärung ja nicht gleich einen Privatzirkel gründen, um philosophische Traktate zu übersetzen oder über Musiktheorie zu streiten. Ein Literaturzirkel wäre ja schon einmal ein Anfang – mit dem man am besten dieses Buch liest und sich drüber unterhält, streitet und so vielleicht noch einige verborgene Facetten dieses ungeheuer reichen Buchs erschließt. Dorothea Bach und Luise Gottsched würde es sicher gefallen!


  • Angela Steidele – Aufklärung
  • 978-3-458-64340-1 (Insel Verlag)
  • 603 Seiten. Preis: 25,00 €
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Annika Büsing – Koller

Erzählte Annika Büsing in ihrem Debüt Nordstadt eine widerborstige Romanze am Beckenrand eines Hallenbads, so schickt sie in ihrem zweiten Roman Koller zwei junge Männer auf einen Roadtrip von Leipzig bis ins Ahrtal.


„Ich bin Koller“, hattest du gesagt, als hinter den Bäumen die Sonne unterging.

Auf dem Bild an der Wand sahst du aus wie der, der du gewesen warst, bevor dir jemand deinen Spitznamen gabe. Während ich dich betrachtete, standst du plötzlich hinter mir.

„Das war an der Ostsee“, sagtest du.

Dein Atem streifte meinen Nacken. Wir sahen beide auf das Bild an der Wand. Ein glücklicher, junger Mann, lachend auf einem Gartenstuhl in einer Pose zwischen Zurücklehnen und Aufstehen. Ich drehte mich zu dir um. Du küsstest mich. Ich kann das nur hart und klar, doch dein Kuss war weich und trüb. Er ließ keine klaren Absichten erkennen, er floss über vor Gefühl. Mit dem Daumen strichst du über die Falte zwischen meinen Augen. Dann zimmerten wir ein Frühstück hin: Eier, Brot, eine Kanne Kaffee. Du sahst verschlafen aus, trugst noch immer das T-Shirt vom Abend zuvor.

„Ich muss dich mal was Ernsthaftes fragen“, sagtest du kauend. „Wie dringend willst du ans Meer?“.

„Sehr dringend“, sagte ich.

„Dann sollten wir das angehen“, sagtest du. „Meiner Oma, die, von der ich dir erzählt habe, gehört ein Haus in Klütz. Wir können dahin, wenn du willst.“

Annika Büsing – Koller, S. 14 f.

Gesagt, getan. so schnell kann es gehen. Am Nachmittag zuvor haben sich Chris und Kolja alias Koller noch in einem Park in Leipzig kennengelernt, am nächsten Tag soll es schon auf eine Fahrt an die Ostsee gehen. Doch so leicht, wie der Plan auf den ersten Seiten von Annika Büsings neuem Roman erscheint, so leicht ist es dann doch nicht.

Von Leipzig nach Klütz (eigentlich)

Annika Büsing - Koller (Cover)

Das beginnt schon mit dem Reisevehikel, einem nahezu prähistorischen Polo II mit vier Gängen, vierzig PS und einer losen Beifahrertür. Mit diesem Gefährt soll es nach Klütz gehen, doch schon am ersten Tag des Roadtrips geht es für Chris und Koller statt in den Norden erst einmal in den Südwesten der Bundesrepublik. Denn Koller steckt voller Überraschungen. So hat er nicht nur eine Partnerin namens Ella, auch eine Schwester namens Birte gibt es. Diese lebt in einer Wohngruppe für Menschen mit Behinderung in Ludwigsburg, wohin sich die beiden Männer nun als erstes aufmachen.

Doch nicht nur mit der Enthüllung der Existenz einer Schwester überrascht Koller Chris vollkommen. Auch ist Koller Vater eines vierjährigen Kindes, das bei seinen Großeltern wohnt, und das ausgerechnet im Ahrtal, das zum Zeitpunkt der Handlung im Sommer 2021 überschwemmt wurde und nun kaum betretbar ist.

So machen sich Chris und Koller nach der Stippvisite bei seiner Schwester auf, Kollers Kind dort im Ahrtal zu besuchen und sich zu versichern, dass es Hannah gutgeht. Es wird nicht das letzte überraschende Moment dieses Roadtrips sein, dessen Ziel und Umfang zu Beginn des Romans noch ganz überschaubar erschien.

Ein Roadtrip in sieben Tagen

Doch so verschlungen wie die Wege des Lebens der Protagonisten in Annika Büsings Geschichte sind eben auch die Wege, auf denen die beiden Männer wandeln beziehungsweise mit dem schrottreifen Auto zuckeln. Da führt der Weg zum Ziel dann eben auch einmal über einen Forstweg oder endet in einer Verfolgungsjagd.

All das inszeniert Annika Büsing im biblischen Schöpfungszeitraum der sieben Tagen. Neben der manchmal etwas springenden Chronologie der Tage fügt sie noch kursiv gesetzte Kurzbiografien von drei indirekt an der Handlung beteiligten Frauen ein, die durch ihre kurz angerissenen Lebensgeschichten einen etwas klareren Blick auf Chris und Koller erlauben. So werden die biografischen Hintergründe und Beziehungen der beiden jungen Männer klarer und zeigen die Erfahrungen und Brüche im Leben, die sie erfahren haben.

Annika Büsing gelingt wieder ein komprimierter und schneller Roman mit ebenso schnellen Dialogen und kurzen, aber in markantem Sound gesetzten Sätzen, die die Handlung vorwärtstreiben. Kennenlernen im Park, erstaunliche Enthüllungen aus dem Leben Kollers, Abstecher von Leipzig nach Ludwigsburg, ins Ahrtal und nach Klütz – und das alles in gerade einmal gut 170 Seiten. Annika Büsing verliert hier keine Zeit und drückt aufs erzählerische Gaspedal

Lebenswelten junger Erwachsener

Mit Koller erweist sie sich nach Nordstadt wieder einmal als genaue Beobachterin der Lebenswelten junger Erwachsener, in der nicht mehr alleine binäres Geschlechterdenken die Wahl des Partners beeinflusst und in der noch vieles möglich erscheint.

Ihr gelingt eine queere Lovestory und ein Roadtrip, der natürlich in der Tradition von Tschick steht, und das nicht nur, weil beide Titel auf der onomatopoeischen Vereinfachung der Vornamen der jeweiligen Protagonisten gründen. Der Aufbruch im Sommer mit einem schrottreifen Auto, das schrittweise Eintauchen in die Tiefe ihrer Charaktere, prägende Liebesgeschichten und der Geist von Aufbruch und Abenteuern, der beiden Werken zueigen ist. All das lässt eine gewisse thematische und stilistische Nähe der beiden Roadtrip-Romane erkennen.

Wo man in niedrigeren Klassenstufen Wolfgang Herrndorfs zeitgenössischen Klassiker liest, da kann in höheren Klassenstufen der Lektüreabgleich mit Koller sicherlich reizvolle Unterrichtsstunden und Diskussionen ergeben. Am spannendsten wäre es sicherlich, würde Annika Büsing selbst gleich eine solche Stunde gestalten, ist sie doch als Autorin und gleichzeit Deutsch- und Religionslehrerin an einem Gymnasium in Bochum eigentlich die perfekte Wahl für einen solchen Abgleich beider Werke und der Erfahrungswelt der Schüler*innen.

Fazit

Hier in Koller erweist sie sich abermals als ebenso gute Beobachterin wie Beschreibende der Leben junger Menschen. War es in Nordstadt die Enge des Schwimmbads, das sie für eine konzentrierte Liebesgeschichte als Kammerspiel nutzte, so setzt sie nun in ihrem zweiten Roman auf das genaue Gegenteil und erzählt von Entgrenzung, Weite und den nahezu unbegrenzt scheinenden Möglichkeiten eines Roadtrips in der Tradition von Wolfgang Herrndorfs Tschick.

Ihr gelingt ein überraschender, schneller Roman zur Zeit der Ahrtalflut und des Coronasommers 2021, der zwei junge Männer immerhin sieben Tage ihres Lebens begleitet und das in einer ebenso prägnanten wie treffenden Sprache. Rau, aber ehrlich. So fühlt sich dieser Roadnovel mit Chris und Koller an.


Eine weitere Meinung zu Koller gibt es im Gespräch auf Deutschlandfunk Kultur mit Rainer Moritz, er schlug Annika Büsings Debüt Nordstadt im vergangenen Jahr für den Bayerischen Buchpreis vor. Zwar erhielt das Buch diese Auszeichnung nicht, dafür wurde Annika Büsing mit dem Literaturpreis Ruhr und dem Mara Cassens-Preis ausgezeichnet.


  • Annika Büsing – Koller
  • ISBN 978-3-96999-196-1 (Steidl)
  • 176 Seiten. Preis: 20,00 €
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He said, she said

Bettina Wilpert – nichts, was uns passiert

Man kann sich leichtere Themen für einen Debütroman aussuchen – Bettina Wilpert ist aber gleich ins Risiko gegangen. Und das hat sich gelohnt.

Bettina Wilpert - Nichts, was uns passiert (Cover)

Sie hat ein Thema zur Bearbeitung ausgewählt, das nur mit entsprechendem Feingefühl und Einfühlungsvermögen erzählt werden kann. Die Rede ist vom Topos der Vergewaltigung und der Frage, was das mit den Beteiligten macht. Wer ist Täter, wer ist Opfer, was ist zwischen den beiden Parteien passiert?

Dass diese Fragen alles andere als leicht zu beantworten sind, das arbeitet Bettina Wilpert in nichts, was uns passiert mustergültig heraus. Mehrere Perspektiven, eine Art Reportage-Ich-Erzähler, der Freunde und Bekannte befragt und die Frage, wie man das Erzählte einordnet. Mit dieser Frage muss sich jede Leser*in selbst beschäftigen und eine eigene Antwort finden.

Denn Bettina Wilpert macht es einem nicht leicht. Sie erzählt die Geschichte um Jonas und Anna aus beiden Perspektiven, schildert beiderlei Wahrnehmungen auf das, was in jener zugrundeliegenden Leipziger Nacht passiert ist. Und das, was die beiden als Wahrheit wahrnehmen.

Leipzig, eine Sommernacht 2014

Ausgangspunkt ist eine Nacht während der Fußballweltmeisterschaft 2014. Während in Brasilien die deutsche Mannschaft durchs Turnier marschiert, staut sich in den Straßen Leipzigs die Hitze. Auf einer Party nähern sich Anna und Jonas an. Sie kennen sich, verstehen sich, streiten über Themen wie die Schriftsteller*innen Katja Petrowskaja und Serji Zhadan oder die Frage, wie man im Ukraine-Konflikt Stellung beziehen sollte. Es knistert, man streitet sich, man findet sich anziehend. Ebenso fließt in dieser warmen Leipziger Nacht der Alkohol. Die Folge: Filmriss bei Anna, unklare Erinnerungen bei Jonas.

Zwei Monate später wird Anna Jonas anzeigen, sie spricht von Vergewaltigung, Jonas von betrunkenem, aber einvernehmlichen Sex. Was ist wirklich passiert? In der Folge beobachtet Bettina Wilpert die gesellschaftlichen Prozesse und Entwicklungen rund um Jonas und Anna, während wir als Leser*innen schwanken, unsere Sympathien verteilen und selbst ein Urteil über die beiden fällen.

Das ist gut gemacht und wieder einmal ein Lehrstück darüber, wie weit unsere Wahrnehmungen auseinander liegen können. Gibt es so etwas wie eine objektive Wahrheit über ein Geschehnis wie eine Vergewaltigung? Wer hat Recht – und was macht eine Falschbeschuldigung mit einem? Wie reagiert das Umfeld?

Bettina Wilpert erzählt in einem unterkühlten, sachlichen Ton und überlässt die Bewertung dann den Leser*innen. Manchmal chronistisch genau, dann auch wieder angemessen subjektiv – genauso, wie man diesem so schwierigen Thema nur gerecht werden kann. Die zahlreichen Preise, die Wilpert mit ihrem Debüt eingeheimst hat (Aspekte-Literaturpreis, Das Debüt 2018, Hotlist-Nominierung, etc.) sprechen ebenfalls für sich. Ein bemerkenswertes Debüt!

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