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Auf Robinsons Spuren

Jane Gardam – Robinsons Tochter

Es ist eine beliebte Frage in Interviews mit Buchbezug: Gibt es ein Buch, das Ihr Leben verändert hat? Polly Flint, die Ich-Erzählerin in Jane Gardams Roman Robinsons Tochter hätte eine klare Antwort darauf. 34 Jahr nach dem Erscheinen ist Gardams Buch nun in der deutschen Übersetzung von Isabel Bogdan zu entdecken. Und das Buch ist nicht weniger als ein echtes Meisterwerk, das von einer lebenslangen Literaturliebe, einer geistigen Entwicklung, weiblicher Selbstermächtigung und Emanzipation erzählt. Es bleibt nur die Frage: warum hat es so lange gedauert, bis dieses Buch den deutschsprachigen Leser*innen zugänglich gemacht wurde?


Reichlich spät wurde Jane Gardam für den deutschen Buchmarkt entdeckt. Erst 2015 entschied man sich im Hanser-Verlag nach einer zuvor publizierten kurzen Weihnachtsgeschichte, diese Autorin dem deutschen Buchmarkt zugänglich zu machen. Gerade mal ein Buch der 1928 geborenen Autorin war zuvor in furchtbarer Aufmachung und Betitelung erschienen. 1999 gab es im Bastei-Lübbe-Verlag den Roman Himmlische Aussichten zu lesen, dessen kitschiges Cover zusammen mit Titel und Untertitel (Ein turbulenter Roman um ein Baby) ganz eigenes Kunstwerk ergab.

Dass es nach einer solchen Art der Veröffentlichung über eineinhalb Jahrzehnte brauchte, bis man die Autorin in angemessener Art und Weise in einem anderen Hause publizierte, das verwundert nicht.

2015 war es dann so weit und der erste Band der Trilogie um Old Filth, den Kronanwalt Edward Feathers, erschien. Befeuert auch durch die Diskussion im damals unter großer Aufmerksamkeit neu aufgesetzten Literarischen Quartett gelang dem Buch der Einstieg in die Bestsellerlisten. Die zwei weiteren Bände der Reihe, die Gardam aus Sicht von Edwards Frau (Eine treue Frau) und Edwards Rivale (Letzte Freunde) schilderte, wurden ebenfalls zu Bestsellern.

Seitdem ist der Name Jane Gardam auch auf dem deutschen Buchmarkt gesetzt und wird vom Hanser-Verlag durch eine kontinuierliche Publikation früherer Werke der englischen Schriftstellerin unterfüttert.

Eine Entdeckung aus dem Jahr 1986

Diese Art der Publikation ist ein großer Glücksgriff, denn dadurch ist nun auch „Crusoe’s daughter“nun auch auf Deutsch als Robinsons Tochter zu entdecken. Ürsprünglich 1986 erschienen ist das Buch ein Werk, das eindrucksvoll die Meisterschaft Jane Gardams beweist.

Jane Gardam - Robinsons Tochter (Cover)

Nicht weniger als ein ganzes Leben schildert sie in ihrem Roman. Es ist das Leben von Polly Flint. Diese lernen wir im Alter von sechs Jahren kennen. Wir schreiben das Jahr 1904, Pollys Mutter ist verstorben und ihr Vater ein Seemann, der wenig Vaterqualitäten an den Tag legt. Und so wird Polly im Gelben Haus untergebracht, einem Haus, das in der englischen Marschlandschaft liegt. Dort kümmern sich ihre beiden Tanten um sie. Besonders kindgerecht oder freudvoll ist das Aufwachsen dort in der Marsch allerdings nicht.

Die Tanten erziehen Polly streng und wollen sie unbedingt konfirmieren lassen. Doch das möchte Polly nicht. Sie legt einen beharrlichen Eigensinn an den Tag und findet Unterstützung in der großen Bibliothek ihres Großvaters Younghusband. Dieser interessierte sich zwar mehr für den Glauben und für Steine, aber auch weltliche Lektüre findet sich in der Bibliothek. Und so wird Polly Daniel Defoes Robinson Crusoe zu ihrem Herzensbuch, das sie ihr ganzes Leben lang begleiten und bestärken soll.

Kriege kommen und gehen, Familie und Mitmenschen sterben, Polly verliebt sich, wird enttäuscht, driftet in übermäßigen Alkoholkonsum ab und wird erst am Ende ihres Lebens zu ihrer Bestimmung finden. Immer ist da aber auch Robinson Crusoe, der ihr in der Einsamkeit ihrer Existenz beisteht und ihr Trost spendet. Eben ein wirkliches Buch der Kategorie Lebensbuch für Polly.

Ein Buch, tausend Lesarten

Es ist nicht nur so, dass Gardams Roman als Entwicklungsroman und Schilderung eines komplexen Lebens stilistisch und inhaltlich vollauf überzeugt. Robinsons Tochter ist auch ein Roman, der davon erzählt, wie verschieden die Lektüre ein und desselben Buchs ausfallen kann.

Robinsons Tochter demonstriert, wie unterschiedlich wir lesen und Bücher eingedenk unserer eigenen Biografie interpretieren. Alle Menschen, mit denen Polly im Laufe des Buchs über ihre Leidenschaft für Robinson Crusoe spricht, ordnen Defoes Werk unterschiedlich ein und sehen etwas anderes im Buch. Polly selbst zieht ihr Empfinden, ihre Bildung und ihr Beharren auf weiblicher Eigenständigkeit auch aus dieser Lektüre.

Deutlich wird das etwa im folgenden Dialog. Ein Freund spricht sich für die Prosa Jane Austens aus, als Polly zu einer vehementen Verteidigung des Defoe’schen Werks ansetzt:

„Freitag, das ist doch lächerlich. „Karfreitag“ wahrscheinlich. Demnächst nennt es womöglich jemand eine religiöse Allegorie. Vielleicht es das auch – wobei ich das bezweifle, bei einem Journalisten. Crusoe-fix nochmal. Ha!“

„Das ist es natürlich nicht. Und Defoe war nicht nur Journalist. Ich glaube aürigens auch nicht, dass Robinson besonders reiligiös ist. Er ist voller Schuldgefühle und Unzufriedenheit und seiner angeborenen Reiselust. Er ist der letzte, der für so eine Gefangenschaft auf einer Insel gemacht ist, aber er arrangiert sich damit. Er wird nicht verrückt. Er ist tapfer. Er ist wunderbar. Er ist so wie Frauen fast immer sein müssen: auf einer Insel. Festgesetzt. Eingesperrt. Die einzige Möglichkeit zu überleben ist, sich zu sagen, dass es Gottes Willen ist.“

(Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass ich all das dachte!)

Gardam, Jane: Robinsons Tochter, S. 187

In unterschiedlichen Phasen ihres Lebens blickt Polly immer wieder auf das Buch und entdeckt neue Aspekte. Und auch in ihrem Beharren auf ihre weibliche Autonomie leistet ihr die Prosa Defoes Schützenhilfe.

Eine Geschichte weiblicher Emanzipation

Denn Robinsons Tochter erzählt auch von einer Frau, die sich nicht anpasst. Einer, die zwischen Unsicherheiten, Begehren, enttäuschter Liebe und versuchter Fremdbestimmung ihren eigenen Weg verfolgt. Wie es ist, als Waise sich alles selbst aneignen zu müssen und auf eigene Souveränität zu beharren, das zeigt Jane Gardam eindrücklich. Mich persönlich hat für dieses Buch sehr eingenommen, dass die Britin auch die Kunst als Wert propagiert, die dabei hilft, ein eigenes Leben zu führen. Nicht umsonst ist ein Zitat von Virginia Woolf vorangestellt, die im Roman auch eine kleine Rolle übernimmt.

Aber die Drangsal des Lebens, wenn man sich auf einer einsamen Insel gänzlich allein durchschlagen muss, ist wirklich nicht zum Lachen. Sie ist andererseits auch nicht zum Weinen.“

Virginia Woolf – Der gewöhnliche Leser

Fazit

Wenn das aus meinen Worten nun noch nicht ausreichend klar geworden sein sollte: ich halte Robinsons Tochter wirklich für ein Meisterwerk. Ein Meisterwerk, auf das wir lange warten mussten. Eines, das die Wartezeit von 34 Jahren aber wirklich mehr als belohnt.

Es spricht für die literarische Meisterklasse der Britin, dass die Vielfältigkeit und der Facettenreichtum des Robinson Crusoe, die Polly Flint im Laufe ihres Lebens entdeckt, erforscht und erfährt, auch genauso auf Jane Gardams Werk übertragbar ist

Wirklich berührend, stilistisch meisterhaft, von einer Vielschichtigkeit, die man so nicht oft in Büchern findet und einer Heldin, die in den nächsten Jahren sicher nicht aus meinem Buchregal ausziehen wird.


  • Jane Gardam – Robinsons Tochter
  • Aus dem Englischen übersetzt von Isabel Bogdan
  • ISBN 978-3-446-26783-1 (Hanser)
  • 320 Seiten. Preis: 24,00 €
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Familie, Tod & Hirschgulasch

Sebastian Stuertz – Das eiserne Herz des Charlie Berg

Dass man ein Herz nicht reparieren kann, das wusste schon Udo Lindenberg. Dass man mit seinem schwachen Herzen mehrfach sterben kann, es aber trotzdem irgendwie weitergeht, das erfährt Charlie Berg in Sebastian Stuertz´ Debüt Das eiserne Herz des Charlie Berg. Ein skurriler Roman über Familie, den Tod, das Verlieben, die Kraft des Waldes, die Literatur und nicht zu vergessen: das Hirschgulasch.


Sebastian Stuertz, Jahrgang 1974, und lebt und arbeitet in Hamburg. Zu den Feldern, auf denen sich der umtriebige Künstler tummelt, gehören Filmanimationen wie etwa beim Tatort, ein Podcast übers Schreiben und die Komposition von Musik. Mit Das eiserne Herz des Charlie Berg liegt nun sein Debütroman vor, der mit über 700 Seiten Laufzeit eines der dickleibigsten Debüts des Bücherfrühlings 2020 geworden ist.

Sebastian Stuertz - Das eiserne Herz des Charlie Berg (Cover)

Im Roman erzählt er, hin- und herspringend zwischen den 80ern und dem Jahr 1993 die Geschichte von Charlie Berg und dessen Familie. Diese besteht durchweg aus Figuren, die selbst Wes Anderson für einen Film wahrscheinlich zu verrückt erschienen wären. Da ist Charlies Vater Dito, ein dauerkiffender und lebensunfähiger Musiker, der im Keller des Hauses der Familie haust und mit einem Freund das sogenannte Toytonic Swing Ensemble bildet. Charlies Mutter hingegen glänzt mit Abwesenheit.

Rita del Monte ist Künstlerin, deren Arbeiten wie etwa Hitlers Nutten bitten zum Tanz handfeste Skandale auslöste. Einigermaßen normal erscheinen da schon Charlies Großeltern, nämlich der Wildhüter August Bardo Kratzer und seine Frau. Er passionierter Jäger mit Nazi-Vergangenheit, sie Beschützerin Charlies und Köchin des legendären Hirschgulaschs, das stets bei Familienzusammenkünften kredenzt wird.

Um dieses Ensemble herum gruppieren sich noch etliche weitere Figuren, deren Lebensgeschichte Stuertz im Lauf des Buchs näher beleuchtet. Als da wären eine völlig durchgeknallte Ärztin namens Dr. Helsinki, Charlies Fast-Freundin Mayra, mit der sich Charlie per Videokassetten austauscht, oder sein ehemaliger Deutschlehrer, ein miesepetriger Pädagoge mit Spitznamen Kafka.

Skurrile Figuren, skurrile Handlung

Den Tonfall von Das eiserne Herz des Charlie Berg setzt schon die Eröffnungsszene, die an Tragik und Slapstick kaum zu überbieten ist. Charlie begibt sich in dieser mit seinem Großvater auf die Jagd nach einem Hirsch, einem echten Kaventsmann. Doch mit dem Schießen und Töten hatte Charlie schon immer seine Probleme. So schießt er absichtlich daneben, als er auf den Hirsch zielt. Der Hirsch stirbt trotzdem – denn zeitgleich hatte ein Wilderer aus dem Dickicht auf das Tier gefeuert. Charlies Kugel trifft nun den Wilderer – der wiederum Charlies Opa erschießt. Auftakt zu einer Reihe betrüblicher Ereignisse. Denn als die Polizei wenig später naht, ist die Leiche des Großvaters verschwunden. Und Charlie muss mit allen Mitteln sein Mitwirken an den Todesfällen vertuschen.

Das ist alles andere als leicht, wenn dann auch noch die Ex-Freundin plötzlich wieder auftaucht. Und Mayra, die Videokassetten-Freundin, in die Charlie verliebt ist, beschließt in Mexiko einen Gangster zu heiraten. Und dann ist da auch die feine Nase von Charlie, die ihn zu einem Bruder von Jean-Baptiste Grenouille machen könnte. Diese beschert ihm nicht immer nur Glück, vor allem wenn er diese diese in die falschen Dinge steckt. Denn eines ist Charlie auch angeboren: sein Talent, sich in Schwierigkeiten zu bringen und die Angelegenheiten um ihn herum zu verkomplizieren.

Die vielen Themen des Charlie Berg

Als wäre das Lügengebäude, in dem ich seit Opas Tod Unterschlupf gefunden hatte, nicht schon baufällig genug. Mein ganzes Leben verwandelte sich allmählich in eine notdürftig kaschierte Lüge. Nonno war kein Italiener, meine Wehrdiensttauglichkeit hatte ich mir mit Hilfe einer Urkundenfälschung ermogelt, beim Jagen ohne Jagdschein hatte ich einen Mann lebensgefährlich verletzt, besaß Geld, das ihm gehörte, und plante, damit meinen Patenonkel freizukaufen, einen vom Goethe-Institut geförderten Marihuanakonsumenten, der es für eine gute Idee gehalten hatte, Drogen aus Thailand nach Deutschland zu schmuggeln.

Stuertz, Sebastian: Das eiserne Herz des Charlie Berg, S. 304

Das eiserne Herz des Charlie Berg ist ein Buch, das vielen Fragen nachgeht. Die Frage nach dem Schreiben und schrifstellerische Selbstbehauptung. Pubertät und Mannwerdung. Die Frage, was Familien im Innersten zusammenhält. Die Liebe, aber auch die Komplexität, die daraus erwachsen kann. Auch die Gattungsfrage ist ebenso vielfältig: ist das Buch nun ein Familienroman? Ein Künstlerroman? Coming of Age? Irgendwie vereint das Buch all diese unterschiedlichen Facetten.

Seine Themen behandelt Sebastian Stuertz aber nie so, dass es den Lektürefluss hemmen würde. Vielmehr ist dieses Buch trotz der Vielzahl an Seiten flott erzählt und weist einen locker-schwingenden, manchmal auch etwas schnodderig bis flamboyanten Erzählton auf. Immer wieder springt Stuertz von der erzählten Gegenwart im Jahr 1993 zurück in die Kindheit und Pubertät Charlie Bergs in den 80er Jahren. Dabei setzt er auf viele Kapitel, die schon mal Titel wie The Forsthaus Chronicles, Hirschgulasch zu Zweit oder Palim Palim tragen.

Fazit

Das eiserne Herz des Charlie Berg ist ein großartiger Roman. Großartig, weil er seine Figuren trotz aller Überzeichnung und Karikatur ernst nimmt und die Gefahren der Pubertät nicht verkennt. Auch wenn man für mein Empfinden auf Szenen wie die mit der Bockwurst oder die der Zoophilie mit Pferd verzichten hätte können, ohne die Qualität des Buchs zu mindern: Charlie Bergs Geschichte reißt mit, berührt, unterhält und bringt einen humorvollen Ton in die aktuelle Literaturwelt, den diese gut gebrauchen kann. In meinen Augen ein wunderbares Leseerlebnis!


  • Stuertz, Sebastian: Das eiserne Herz des Charlie Berg (btb-Verlag)
  • Hardcover mit Schutzumschlag, 720 Seiten
  • ISBN: 978-3-442-75851-7
  • Preis: 22,00 €
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William Boyd – Blinde Liebe

William Boyd ist wieder da. Zuletzt schilderte er in Die Fotografin die Lebensgeschichte der fiktiven Fotografin Amory Clay. Nun hat er den Verlag gewechselt und ist anstelle des Berlin-Verlags im Kampa-Verlag heimisch geworden. Ein kleiner Coup, der Daniel Kampa und seinem Team da gelungen ist.

Inhaltlich bleibt sich William Boyd treu und stellt erneut ein ganzes Menschenleben in den Mittelpunkt. Diesmal heißt sein Protagonist Brodie Moncur, den man von den Jugendjahren bis zur Bahre begleitet. Er übt den Beruf des Klavierstimmers aus. Zwar sieht Brodie nicht besonders gut, umso schärfer ist aber sein Gehör, das sogar absolut ist. Kleinste Abweichungen von der Norm erfasst er intuitiv – was ihn natürlich zum perfekten Klavierstimmer macht.

Er zeigt in seinem Beruf großes Geschick und wird in der Folge aus seiner schottischen Heimat nach Paris entsandt. Dort soll der der lokalen Filiale eines Klavierherstellers unter die Arme greifen. Doch alles kommt natürlich anders als geplant – und so findet sich Brodie bald im Gefolge des Klaviervirtuosen John Barron wieder. Für diesen soll er seine Flügel vor den Auftritten stimmen und kalibrieren und so die Bühne für das Brillieren des Meisters bereiten.

Schnell wird Brodie zum unersetzlichen Adlatus des ebenso genialen wie menschlich schwierigen Pianisten. Die größte Anziehung übt auf ihn allerdings nicht Killbarron selbst, sondern dessen Lebensgefährtin Lika aus. Diese ist eine russische Sopranistin, der Brodie schon bald verfällt. Beide beginnen eine leidenschaftliche Affäre, die sich als verhängnisvoll erweist.

Ein guter Unterhaltungsroman – und sonst so?

Chronologisch erzählt William Boyd in Blinde Liebe die Geschichte seines Helden Brodie Moncur. Boyd ist natürlich ein erfahrener Erzähler, der weiß, wie er seine erzählerischen Bögen gestalten und ausschmücken muss. Man liest die über 500 Seiten starke Biografie Brodie Moncurs und wird gut unterhalten – mehr aber auch nicht. Denn für alles andere ist der Roman zu konventionell gehalten.

Der neue Titel von William Boyd fällt für mich in die Kategorie Flutschbuch. Es ist flüssig zu lesen, unterhält – aber von der Lektüre bleibt bei mir nicht viel zurück. Denn die Widerhaken in Boyds Geschichte fehlen. Jene Widerhaken wie interessante Persönlichkeiten, besondere ausgestaltete Konflikte oder eine große Tiefe – sie gehen der etwas bräsig gestalteten Geschichte leider ab.

Man muss konstatieren, dass Blinde Liebe ein Porträt ist, das mit grobem Pinsel gemalt ist. Für William Boyd steht die Unterhaltung im Vordergrund, was absolut legitim ist. Dadurch fehlt aber eben jene Metaebene, die meiner Meinung nach Literatur zu großer Literatur macht. Dieses Fehlen macht sich aber nicht nur in diesem Buch bemerkbar, generell ist das charakteristisch für das literarische Oeuvre Boyds.

William Boyd ist für mich ein geschickter Grenzgänger der Lager E und U. Auf dieser Grenze zu wandeln ist eine Kunst für sich, die Boyd sehr gut beherrscht. In meinen Augen bedeutet das nur leider zumeist, dass der Handlung vor der Ausgestaltung der Figuren der Vorzug gegeben wird. So bleibt Brodie Moncur trotz totaler Fokussierung etwas blass und wird in meinem Fall nach ein paar Dutzend Büchern später auch so blass in eminen Erinnerungen zurückbleiben.

Für mich hätte es nur schon noch etwas mehr an Nuancen, Zwischentönen und vielschichtigeren Charakteren sein dürfen. Wer von Büchern dafür eher einen ausschweifenden Handlungsbogen mit viel Effet erwartet, der wird hier auf alle Fälle glücklich.

Blinde Liebe ist ein gut gemachter Unterhaltungsroman. Nicht mehr, und nicht weniger.

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Thomas Meyer – Trennt euch!

Dieses Ende wird ein Anfang sein

Der Schweizer Thomas Meyer plädiert in seiner Streitschrift für mehr Trennungen. Denn entweder es passt, oder es passt nicht. Wenngleich seine provokante These Widerspruch hervorrufen sollte – ich kann ihm nur beipflichten.

Die Essenz seines knappen Büchleins steht dabei schon im Klappentext von Trennt Euch:

  1. Entweder es passt oder es passt nicht
  2. In den meisten Fällen passt es leider nicht
  3. Wenn es nicht passt, dann wird es nie passen
  4. Wenn es nicht passt, dann leiden Sie
  5. Wenn Sie leiden, müssen Sie gehen
  6. Das Leben ist sehr kurz.

Auf diesem Grundgerüst aufbauend untersucht Meyer in seinen Kapiteln, wann eine Beziehung zum Scheitern verurteilt ist. Die Überordnung ergibt sich dabei aus den Stadien einer Trennung. Von den Vorbedingungen, der Trennung selbst und der Zeit danach berichtet Meyer und nimmt dabei eine Gegenposition zu all den Ratgebern ein, die Durchhalten und Kämpfen propagieren.

Denn für Thomas Meyer ist klar – wenn es nicht passt, dann wird es auch nie passen. Zu verschieden sind die Menschen und ihre Anlagen, als dass sich unterschiedliche Charaktere auf ein jahrelanges Zusammenleben ohne Konflikte, Streit und Verletzungen einlassen können.

Das Problem liegt im Konjunktiv

Für ihn beginnt das Übel dabei sehr nachvollziehbar mit dem Konjunktiv. Und zwar, solange man sich einredet, dass doch alles wunderbar sein könnte, wenn man den Partner doch nur ändern könne oder dies oder jenes verbessern würde. Dieses Wunschdenken ist weder zielführend noch produktiv. Denn für Meyer steht fest – man kann versuchen, sich zu ändern oder zu bessern: die Anlagen jedes Menschen werden aber das ganze Leben hindurch gleich bleiben. Eine harte Sicht auf die Dinge, die aber bislang meiner eigenen Lebenserfahrung nicht zuwiderläuft.

Natürlich muss man auch unterscheiden, wie schwer die Konflikte und Differenzen sind. Platt gesprochen: wenn die Meinungen nur beim Spülmaschinen-Einräumen auseinandergehen, dann wird man wohl eine Lösung oder ein Arrangement finden, ohne sich gleich trennen zu müssen. Gehen aber die Lebensentwürfe und charakterlichen Anlagen beider Parteien weit auseinander und sorgen dementsprechend für Konflikte, dann muss man nach Thomas Meyer doch ernsthaft prüfen, wie vereinbar die Positionen sind, oder ob es nicht doch im Interesse beider Partner sein dürfte, einen Neustart zu wagen.

Appell statt Statistik

Natürlich kann man Meyer vorhalten, dass er seine These nicht mit statistischem Material untermauert und Beweise für seine Behauptung schuldig bleibt. Allerdings ist das Zufriedenheitsgefühlen von Paaren wohl immer subjektiv und schwerlich messbar. Zudem geht es an der Art des Buchs vorbei, hier genaue Zahlen und statistische Korrektheit einzufordern. Denn Meyer will provozieren, wachrütteln und die Leser zum Überdenken auffordern. Dies funktioniert auch ohne statistische Unterfütterung hervorragend, denn schließlich kennt (fast) jeder unglückliche Paare und dysfunktionale Beziehungen, die Meyers These stützen.

Manchmal verrutscht der Ton des Buchs leicht vom Appelativen ins Esoterische, vom Provozierenden ins Ratgeberhafte. Solche Registerwechsel bleiben gottseidank auf ein Minimum beschränkt. Ansonsten ist Trennt euch sprachlich schön gearbeitet, konzise und auf den Punkt.

Im Original im Salis-Verlag erschienen, gibt es die Taschenbuchvariante nun bei Diogenes. Womöglich nicht das beste Hochzeitsgeschenk, aber ungemein bereichernd macht dieses Buch wieder den Blick frei für die Beziehungen und ihre Abgründe.

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Dennis Lehane – Der Abgrund in dir

Also erste Sätze kann Dennis Lehane. Und wie:

An einem Dienstag im Mai, im Alter von sechsunddreißig Jahren, erschoss Rachel ihren Mann. (Lehane, Dennis: Der Abgrund in dir, S.7)

Zack, bumm. Da ist er wieder, jener Dennis Lehane, der mit seinen Büchern unzähligen Hollywoodfilmen ihre Grundlage geliefert hat, darunter Mystic River, Shutter Island oder In der Nacht. Nach einer Pause von drei Jahren seit Am Ende einer Welt gibt es nun Nachschub vom Meister des Thrillers und zwar in der Übersetzung von Steffen Jacobs und Peter Torberg.

Wobei ich mich über zweihundert Seiten nach dem oben zitierten Paukenschlag-Prolog fragte, ob ich hier wirklich ein Buch von Dennis Lehane lese. Denn in jenen grob zweihundert Seiten schildert Dennis Lehane zunächst einmal die Lebens- und Liebesgeschichte seiner Heldin Rachel Child vom Jahr 1977 an. Wie sie ohne Vater aufwuchs, ihr Glück in Beziehungen suchte und von Angstattacken gequält wurde, all das steht im ersten Drittel von Der Abgrund in dir im Mittelpunkt.

Natürlich will seine Heldin entwickelt werden, damit der Stoff auf einem festen Fundament steht und damit über die ganze Handlung trägt. Allerdings fehlten mir hierbei die typischen Lehane-Zutaten wie Tempo, unvorhersehbare Wendungen und vor allem das Wichtigste – die Spannung. Zunächst ist das Buch ein klassischer Roman, der von der Suche einer Frau nach Liebe handelt. Erst nach und nach zieht Lehane eine untergründige Ebene ein, die sich darum dreht, was man in der Partnerschaft wirklich von seinem Gegenüber weiß.

Nach den Enthüllungen, auf die hier natürlich nicht näher eingegangen werden soll, um die Lesefreude nicht zu schmälern, kommt dann doch plötzlich nach der Hälfte des Buchs Drive in die Handlung. Und zwar dann, als der Roman von der Liebesgeschichte langsam in Richtung Thriller kippt. Wie bei einem talentierten Fußballer merkt man hier auch klar, wenn ein Linksfuß zunächst vorher immer mit seinem schwachen Fuß geschossen hat, und sich jetzt auf seinen starken Fuß besinnt und damit einen ganz anderen Zugriff erhält.

Doch apropos Füße – betrachtet man den Roman als Ganzes, so steht Der Abgrund in dir für mich auf sehr wackligen Füßen. Dies bedingt sich durch die Kernidee, die hinter der ganzen Erzählung und dem Mord von Rachel an ihrem Mann steht. Wer schon bei Gillian Flynns Gone Girl über hanebüchene Ideen und realitätsferne Schilderungen hinwegsehen konnte, den dürften jene ähnlichen Baumängel hier auch nicht stören. In puncto Glaubwürdigkeit und Realismus würde ich Dennis Lehane hier allerdings dicke Punkte abziehen. Dies ist auch insofern schade, da er ja schon so oft bewiesen hat, dass er großartige und durchdachte Geschichten erzählen kann.

Hier konnte ich ihm das alles leider nicht so ganz abnehmen. Insofern für mich ein schwächeres Werk in einem ansonsten wirklich herausragenden Oeuvre.

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