Tag Archives: Literatur

Von der Wirkungslosigkeit der Literatur

Angesichts dieser Überschrift zunächst ein paar Worte vorweg. Damit wir uns nicht falsch verstehen: ich schätze Literatur über alle Maßen. Ich halte sie für sinnreich, aufklärend und in ihren besten Momenten für identitätsstiftend, wenn nicht gar befreiend. Wäre das anders, würde ich auch sicher dieses Blog hier nicht betreiben.

Ich würde mich durchaus als Literaturverfechter bezeichnen. Einer der Qualität, Relevanz und gutes Schreibhandwerk schätzt, Autor*innen kritisch begleitet und der sich auch bei rituellen Branchenspezifika wie etwa Buchmessen oder Preisverleihungen umtut. Literatur bereichert mein Leben und ich möchte sie nicht missen. Das schicke ich meinen Worten hier eindeutig voraus, um kein Missverständnis hinsichtlich des Folgenden entstehen zu lassen.

Literatur ist gesellschaftlich nicht relevant

Ich schätze Literatur sehr. Ich halte sie aber auch für weitestgehend wirkungslos. Wirkungslos in dieser Hinsicht, dass man Literatur auf eine Funktion in der Realität sublimieren möchte. Denn eine Instrumentalisierung von Büchern für bestimmte Anliegen und Zwecke ist zumeist so wirkungslos wie deplaziert.

Einmal mehr hat das die aktuelle US-Wahl eindrücklich gezeigt. Schon vor der Wahl Donald Trumps gab es zahlreiche Bücher, die seine Karriere und seinen Weg in die Politik beleuchteten. Seitdem sind Regalmeter um Regalmeter dazugekommen. Die meisten dieser Bücher sind sich in ihrer Ablehnung Donald Trumps und der Verdammung seiner Praktiken einig. Das reichte von medial breit besprochenen Titeln wie etwa den zwei Enthüllungsbücher von Reporterlegende Bob Woodward bis hin zu breit orchestrierten und in vielen Teilen der transatlantischen Leserschaft medial antizipierten Bestsellern wie etwa Feuer und Zorn von Michael Wolff. Nicht nur diese, sondern auch innerfamiliäre Enthüllungen wie etwa die von Trumps Nichte Mary Trump offenbarten die teilweise pathologische Großmannsucht, Lügen, Übertreibungen, fragwürdiges Geschäftsgebaren und Doppelzüngigkeit.

Nicht nur diese breit rezipierten Bücher ergaben ein vieldeutiges Bild des Präsidenten und seiner Verfasstheit. Auch literarisch irrelevante Werken wie die Insiderberichten von John Bolton oder James Comey fluteten den Büchermarkt und fanden großen Absatz. Für die (temporäre) Nachfrage ließ man in Deutschland teilweise die Übersetzer*innen im Dutzend und Akkord arbeiten, um dem öffentlichen (und natürlich auch wirtschaftlichen) Interesse möglichst rasch Genüge zu tun. Man kann also kaum sagen, dass das Themenfeld Donald Trump und dessen Abgründe auf dem Buchmarkt nicht abgebildet worden wäre. Es lag und liegt alles auf dem (Bücher-)Tisch

Keine Funktionieren der Literatur in der Realität

Und nun stellt sich heraus, dass trotz dieser dutzenden Aufklärungsbüchern und Insiderberichten im Übermaß dieser Präsident ohnegleich fast vor einer zweiten Amtszeit stehen könnte. Er hat neue Wähler erreicht, seine Basis ausgebaut und geht gestärkt aus vier furchtbaren Präsidentschaft hervor. Wirkungsvoller kann man die Irrelevanz der Literatur hinsichtlich gesellschaftlicher Prozesse und Entwicklungen nicht zeigen. Angewendet auf die Realität muss Literatur scheitern. Das geschriebene Wort, es vermag den Lauf der Dinge nicht wirklich zu beeinflussen, mögen auch gute Intentionen hinter diese Interpretation von Literatur verbergen.

Natürlich werden viele Sonntagsreden geschwungen und das Loblied auf die Literatur gesungen. Viele Preisverleihungen, Matineen oder Messeeröffnungen sind voller pathosgesättigter Worte, die immer wieder die These heraufbeschwören, Literatur könne uns und die Geschichte ändern. Ich finde sie allerdings reichlich wohlfeil.

Wie gering ihr Einfluss in Wirklichkeit ist, das hat diese US-Wahl und die Informationsfülle wieder einmal mehr gezeigt. Alles ist bekannt und publiziert – die meisten Menschen interessiert es allerdings nur peripher und/oder geht an ihrer Lebenswirklichkeit vorbei.

Auch hier in Deutschland lässt sich die Entwicklung beobachten. Mag die Realität die Literatur durchaus beeinfluss, so gilt das nicht umgekehrt. Während der mediale Raum für die Literatur schwindet und dem Buchmarkt die Buchkonsument*innen abhanden kommen, hält man an den Sonntagsreden fest und beschwört ein Bildungsbürgertum herauf, das sich so kaum mehr in der Gesellschaft findet.

Unentschiedene oder noch uninformierte Menschen, die sich ihr Urteil auf der Basis von Literatur bilden wollen, sie haben doch zumeist andere Quellen, aus denen sie sich eine Meinung bilden. Bücher und Kultur generell gehört meiner Einschätzung nach kaum dazu. Aber mit der gesellschaftliche Relevanz und Systemrelevanz für Kunst, Theater, Museen oder Literatur ist es dieser Tage eh nicht weit her.

Für einen realistischen Blick auf Literatur

Auch wenn es fast so klingt – ich möchte hier keinen Abgesang auf das Medium Buch oder die Literatur generell singen. Mir geht es alleine um einen realistischeren Blick auf die Literatur und ihre gesellschaftliche Wirkungslosigkeit.

Lasst uns weiter über Literatur reden, sie mit all ihren Möglichkeiten rühmen und preisen. Aber bitte schätzen wir ihre Wirkmacht auch konkret ein. Und diese tendiert doch eher gegen null.

Diesen Beitrag teilen

Auf Robinsons Spuren

Jane Gardam – Robinsons Tochter

Es ist eine beliebte Frage in Interviews mit Buchbezug: Gibt es ein Buch, das Ihr Leben verändert hat? Polly Flint, die Ich-Erzählerin in Jane Gardams Roman Robinsons Tochter hätte eine klare Antwort darauf. 34 Jahr nach dem Erscheinen ist Gardams Buch nun in der deutschen Übersetzung von Isabel Bogdan zu entdecken. Und das Buch ist nicht weniger als ein echtes Meisterwerk, das von einer lebenslangen Literaturliebe, einer geistigen Entwicklung, weiblicher Selbstermächtigung und Emanzipation erzählt. Es bleibt nur die Frage: warum hat es so lange gedauert, bis dieses Buch den deutschsprachigen Leser*innen zugänglich gemacht wurde?


Reichlich spät wurde Jane Gardam für den deutschen Buchmarkt entdeckt. Erst 2015 entschied man sich im Hanser-Verlag nach einer zuvor publizierten kurzen Weihnachtsgeschichte, diese Autorin dem deutschen Buchmarkt zugänglich zu machen. Gerade mal ein Buch der 1928 geborenen Autorin war zuvor in furchtbarer Aufmachung und Betitelung erschienen. 1999 gab es im Bastei-Lübbe-Verlag den Roman Himmlische Aussichten zu lesen, dessen kitschiges Cover zusammen mit Titel und Untertitel (Ein turbulenter Roman um ein Baby) ganz eigenes Kunstwerk ergab.

Dass es nach einer solchen Art der Veröffentlichung über eineinhalb Jahrzehnte brauchte, bis man die Autorin in angemessener Art und Weise in einem anderen Hause publizierte, das verwundert nicht.

2015 war es dann so weit und der erste Band der Trilogie um Old Filth, den Kronanwalt Edward Feathers, erschien. Befeuert auch durch die Diskussion im damals unter großer Aufmerksamkeit neu aufgesetzten Literarischen Quartett gelang dem Buch der Einstieg in die Bestsellerlisten. Die zwei weiteren Bände der Reihe, die Gardam aus Sicht von Edwards Frau (Eine treue Frau) und Edwards Rivale (Letzte Freunde) schilderte, wurden ebenfalls zu Bestsellern.

Seitdem ist der Name Jane Gardam auch auf dem deutschen Buchmarkt gesetzt und wird vom Hanser-Verlag durch eine kontinuierliche Publikation früherer Werke der englischen Schriftstellerin unterfüttert.

Eine Entdeckung aus dem Jahr 1986

Diese Art der Publikation ist ein großer Glücksgriff, denn dadurch ist nun auch „Crusoe’s daughter“nun auch auf Deutsch als Robinsons Tochter zu entdecken. Ürsprünglich 1986 erschienen ist das Buch ein Werk, das eindrucksvoll die Meisterschaft Jane Gardams beweist.

Jane Gardam - Robinsons Tochter (Cover)

Nicht weniger als ein ganzes Leben schildert sie in ihrem Roman. Es ist das Leben von Polly Flint. Diese lernen wir im Alter von sechs Jahren kennen. Wir schreiben das Jahr 1904, Pollys Mutter ist verstorben und ihr Vater ein Seemann, der wenig Vaterqualitäten an den Tag legt. Und so wird Polly im Gelben Haus untergebracht, einem Haus, das in der englischen Marschlandschaft liegt. Dort kümmern sich ihre beiden Tanten um sie. Besonders kindgerecht oder freudvoll ist das Aufwachsen dort in der Marsch allerdings nicht.

Die Tanten erziehen Polly streng und wollen sie unbedingt konfirmieren lassen. Doch das möchte Polly nicht. Sie legt einen beharrlichen Eigensinn an den Tag und findet Unterstützung in der großen Bibliothek ihres Großvaters Younghusband. Dieser interessierte sich zwar mehr für den Glauben und für Steine, aber auch weltliche Lektüre findet sich in der Bibliothek. Und so wird Polly Daniel Defoes Robinson Crusoe zu ihrem Herzensbuch, das sie ihr ganzes Leben lang begleiten und bestärken soll.

Kriege kommen und gehen, Familie und Mitmenschen sterben, Polly verliebt sich, wird enttäuscht, driftet in übermäßigen Alkoholkonsum ab und wird erst am Ende ihres Lebens zu ihrer Bestimmung finden. Immer ist da aber auch Robinson Crusoe, der ihr in der Einsamkeit ihrer Existenz beisteht und ihr Trost spendet. Eben ein wirkliches Buch der Kategorie Lebensbuch für Polly.

Ein Buch, tausend Lesarten

Es ist nicht nur so, dass Gardams Roman als Entwicklungsroman und Schilderung eines komplexen Lebens stilistisch und inhaltlich vollauf überzeugt. Robinsons Tochter ist auch ein Roman, der davon erzählt, wie verschieden die Lektüre ein und desselben Buchs ausfallen kann.

Robinsons Tochter demonstriert, wie unterschiedlich wir lesen und Bücher eingedenk unserer eigenen Biografie interpretieren. Alle Menschen, mit denen Polly im Laufe des Buchs über ihre Leidenschaft für Robinson Crusoe spricht, ordnen Defoes Werk unterschiedlich ein und sehen etwas anderes im Buch. Polly selbst zieht ihr Empfinden, ihre Bildung und ihr Beharren auf weiblicher Eigenständigkeit auch aus dieser Lektüre.

Deutlich wird das etwa im folgenden Dialog. Ein Freund spricht sich für die Prosa Jane Austens aus, als Polly zu einer vehementen Verteidigung des Defoe’schen Werks ansetzt:

„Freitag, das ist doch lächerlich. „Karfreitag“ wahrscheinlich. Demnächst nennt es womöglich jemand eine religiöse Allegorie. Vielleicht es das auch – wobei ich das bezweifle, bei einem Journalisten. Crusoe-fix nochmal. Ha!“

„Das ist es natürlich nicht. Und Defoe war nicht nur Journalist. Ich glaube aürigens auch nicht, dass Robinson besonders reiligiös ist. Er ist voller Schuldgefühle und Unzufriedenheit und seiner angeborenen Reiselust. Er ist der letzte, der für so eine Gefangenschaft auf einer Insel gemacht ist, aber er arrangiert sich damit. Er wird nicht verrückt. Er ist tapfer. Er ist wunderbar. Er ist so wie Frauen fast immer sein müssen: auf einer Insel. Festgesetzt. Eingesperrt. Die einzige Möglichkeit zu überleben ist, sich zu sagen, dass es Gottes Willen ist.“

(Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass ich all das dachte!)

Gardam, Jane: Robinsons Tochter, S. 187

In unterschiedlichen Phasen ihres Lebens blickt Polly immer wieder auf das Buch und entdeckt neue Aspekte. Und auch in ihrem Beharren auf ihre weibliche Autonomie leistet ihr die Prosa Defoes Schützenhilfe.

Eine Geschichte weiblicher Emanzipation

Denn Robinsons Tochter erzählt auch von einer Frau, die sich nicht anpasst. Einer, die zwischen Unsicherheiten, Begehren, enttäuschter Liebe und versuchter Fremdbestimmung ihren eigenen Weg verfolgt. Wie es ist, als Waise sich alles selbst aneignen zu müssen und auf eigene Souveränität zu beharren, das zeigt Jane Gardam eindrücklich. Mich persönlich hat für dieses Buch sehr eingenommen, dass die Britin auch die Kunst als Wert propagiert, die dabei hilft, ein eigenes Leben zu führen. Nicht umsonst ist ein Zitat von Virginia Woolf vorangestellt, die im Roman auch eine kleine Rolle übernimmt.

Aber die Drangsal des Lebens, wenn man sich auf einer einsamen Insel gänzlich allein durchschlagen muss, ist wirklich nicht zum Lachen. Sie ist andererseits auch nicht zum Weinen.“

Virginia Woolf – Der gewöhnliche Leser

Fazit

Wenn das aus meinen Worten nun noch nicht ausreichend klar geworden sein sollte: ich halte Robinsons Tochter wirklich für ein Meisterwerk. Ein Meisterwerk, auf das wir lange warten mussten. Eines, das die Wartezeit von 34 Jahren aber wirklich mehr als belohnt.

Es spricht für die literarische Meisterklasse der Britin, dass die Vielfältigkeit und der Facettenreichtum des Robinson Crusoe, die Polly Flint im Laufe ihres Lebens entdeckt, erforscht und erfährt, auch genauso auf Jane Gardams Werk übertragbar ist

Wirklich berührend, stilistisch meisterhaft, von einer Vielschichtigkeit, die man so nicht oft in Büchern findet und einer Heldin, die in den nächsten Jahren sicher nicht aus meinem Buchregal ausziehen wird.


  • Jane Gardam – Robinsons Tochter
  • Aus dem Englischen übersetzt von Isabel Bogdan
  • ISBN 978-3-446-26783-1 (Hanser)
  • 320 Seiten. Preis: 24,00 €
Diesen Beitrag teilen

Vorschaufieber Herbst 2020

Was für ein Jahr – wahrscheinlich weder eine Buchmesse in Frankfurt, noch eine in Leipzig. Im Radio verliehene Preise, ausgefallene Lesungen, weniger Aufmerksamkeit für die kleinen und kleinsten Verlage da draußen. Und dennoch geht es weiter in der Buchbranche. Neue Vorschauen wurden von fast allen Verlagen veröffentlicht. Und auch wenn diese manchmal etwas dünner ausfallen, gibt es wieder viel zu entdecken. Ich habe einmal mehr zusammengetragen, auf was ich mich im literarischen Herbst 2020 so freue. Bei den Tipps habe ich wie immer versucht, auch kleine unabhängige Verlage mit spannenden Titeln zu berücksichtigen.

Deniz Ohde: Streulicht (Suhrkamp)

Auf dieses Debüt bin ich wirklich gespannt. Deniz Ohde schreibt in ihrem Roman über ein Arbeiterkind, das nun wieder in seine Heimat zurückkehrt und sich seiner Wurzeln bewusst wird. Didier Eribon meets Annie Ernaux auf Deutsch? Ich bin mehr als gespannt auf dieses Streulicht – und auch das Cover hat es mir angetan.

Lily King (Übers.: Sabine Roth): Writers & Lovers (C.H. Beck)

Kann man mit 31 noch Schriftststellerin werden? Diese Frage stellt sich Casey, die ihren Traum leben will, nachdem die Mutter verstorben ist und ihr Freund sie verlassen hat. Doch wird das klappen? Schon einmal hat mich Lily King mit Euphoria begeistert. Warum nicht auch mit ihrem Writers & Lovers?

Kristof Magnusson: Ein Mann der Kunst (Kunstmann)

Kristof Magnusson ist für mich ein Meister des Alltags. Einer der dem ganz normalen Durchschnitt unserer Existenzen Bücher widmet, etwa in seinem Arztroman. Nun schreibt er über einen Künstler KD Pratz, dem ein Museum gewidmet werden soll. Ein Kunstverein will dieses Vorhaben verwirklichen, doch ein Treffen auf der Burg des Künstlers droht aus dem Ruder zu laufen. Der Mann der Kunst erscheint bei Kunstmann.

Rinske Hillen (Übers.: Ulrich Faure): Das Haus an der Keiszergracht (Schöffling)

Ein Naturphilosoph, ein Haus an der Keiszergracht in Amsterdam, das langsam verfällt, eine Familie, die auseinanderzufliegen droht, ein paar Fragen, die noch geklärt werden müssen – und ein Familiengeheimnis. Die Zutaten für den Roman von Rinske Hillen, der im Juli im Schöffling-Verlag erscheint.

Petra Piuk & Barbara Filips: Wenn Rot kommt (Kremayr&Scheriau)

Nie wieder Hütchenspiel, nie wieder in die Spielothek. Nie wieder Hütchenspiel, oh das ganze Geld ist weg. Das wussten schon die Ärzte. Und auch eine junge Frau muss das in der Rückschau erkennen, als sie verkatert in einem Hotelzimmer in Las Vegas erwacht. Und dann ist auch noch ihr Freund verschwunden. Was ist passiert? Wenn Rot kommt stammt von Petra Piuk und Barbara Filips.

Thomas Hettche: Herzfaden (Kiepenheuer-Witsch)

Ein Buch, das ich schon des Augsburger Lokalbezugs wegen lesen MUSS. Thomas Hettche, von mir nicht erst seit Pfaueninsel hoch geschätzt, schreibt einen Roman über die Familie Oehmichen, die hier in Augsburg die Augsburger Puppenkiste gründete. Laut Verlag sollen in Herzfaden alle bekannten Figuren des Marionettentheaters einen Auftritt haben. Ich bin gespannt!

Ronya Orthmann: Die Sommer (Hanser)

Ein junges Mädchen, das die Sommer bei seiner Familie in Nordsyrien ihre Sommer verbringt, während sie das restliche Jahr über ein Münchner Gymnasium besucht. Diese Perspektive auf den syrischen Bürgerkrieg und die aktuelle Lage möchte ich gerne lesen. Ronya Orthmanns Buch Die Sommer erscheint passenderweise im August.

Augustus Rose (Übers.: Werner Löcher-Lawrence): Philadelphia Underground (Piper)

In Philadelphia treibt die geheimnisvolle Société Anonyme ihr Unwesen. Sie entführt Jugendliche, die wenig später mit leeren Blick wieder irgendwo in der Stadt auftauchen. Besonders auf Lee hat es die Gesellschaft abgesehen. Aber die versteckt sich auf einem Schrottplatz, um der Société zu entgehen. Augustus Roses Buch gibts ebenfalls ab August im Buchhandel.

Thilo Krause: Elbwärts (Hanser)

Die Sehnsucht nach Dorf und Land in der Literatur boomt ja seit Jahren. Nun hat auch Thilo Krause einen Roman über dieses Thema geschrieben. Bei ihm kehrt ein junges Paar zurück in die Einsamkeit der Sächsischen Schweiz. Dieses muss sich mit Neonazis, Dorfbewohnern und alten Geschichten herumschlagen. Elbwärts erscheint bei Hanser im August.

Rachel Elliott (Übers.: Claudia Feldmann): Bären füttern verboten (Mare)

Von einer Freerunnerin in der Mitte ihres Lebens erzählt Rachel Elliott in Bären füttern verboten. Diese hat zwar schon die halbe Welt belaufen, doch ausgerechnet nach St. Ives wollen ihre Füße sie nicht tragen. Als sie doch dorthin reist, trifft sie auf eine bunte Melange von außergewöhnlichen Menschen.

Michael Crummey (Übers.: Ute Leibmann): Die Unschuldigen (Eichborn)

Kanada ist das diesjährige Gastland der Frankfurter Buchmesse. Und auch wenn Kanada seinen Auftritt nun auf der eh schon auf der Kippe stehenden Messe zurückgezogen hat: in den neuen Verlagsprogrammen lassen sich tolle neue Stimmen von dort entdecken, z.B. Michael Crummey, dessen Roman Die Unschuldigen von zwei Waisenkinder in der kanadischen Einöde erzählt. Verglichen wird das Buch etwa mit Ian McGuires Nordwasser.

Ilona Hartmann: Land in Sicht (Blumenbar)

Eine junge Frau auf Flusskreuzfahrt auf der Donau inmitten von Senioren. Davon handelt das Debüt von Ilona Hartmann. Kann sie dem Thema der Suche nach den eigenen Wurzeln neue Facetten abringen? Ab Juli 2020 wissen wir mehr, dann kann man das Buch kaufen.

Rye Curtis (Übers.: Cornelius Hartz): Cloris (C. H. Beck)

Wenn man einen Flugzeugabsturz überlebt hat, was sichert einem dann am Besten das Überleben in der freien Natur? Sicherlich nicht ein Schuh, ein paar Karamellbonbons und eine Bibel. Doch genau das erlebt Cloris im gleichnamigen Roman von Rye Curtis.

Olga Grjasnowa: Der verlorene Sohn (Aufbau)

Noch immer habe ich kein Buch von Olga Grjasnowa gelesen, dabei wird die Autorin ja breit (und meist auch lobend) im Feuilleton besprochen. Vielleicht klappt es ja jetzt mit Der verlorene Sohn. Darin erzählt die Autorin von einem Jungen, der 1838 als Geisel an den russischen Zarenhof gelangt.

Elisabeth Filhol (Übers.: Cornelia Wend): Doggerland (Nautilus)

Auch der kleine Nautilus-Verlag hat ein mehr als beachtliches Oeuvre für den Herbst angekündigt. So erscheint mit Doggerland ein Roman von Elisabeth Filhol über eine Geologin, die über jene titelgebende Region forscht. Als sie einen Kongress in Dänemark besuchen will, wird jener durch den Orkan Xaver kräftig durcheinander gewirbelt.

Ava Farmheri (Übers.: Sonja Finck): Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen (Nautilus)

Und noch einmal Nautilus. Was für ein großartiger Titel! In Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen erzählt Ava Farmheri von einer jungen Insassin eines iranischen Gefängnisses im Jahr 1999, die hinter Gittern sitzt ihre Lebensgeschichte erzählt. Doch kann man ihr Glauben schenken?

Leander Fischer: Die Forelle (Wallstein)

Ein Buch über 700 Seiten übers Fliegenfischen? Da bin ich sofort dabei, vor allem wenn der Verlag eine besondere Sprache verspricht (was im Falle des Wallstein-Verlags wirklich etwas heißen will) und eine Verknüpfung der Geschichte mit der österreichischen Politik verspricht. Leander Fischers Die Forelle erscheint im Juli.

Amity Gaige (Übers.: André Mumot): Unter uns das Meer (Eichborn)

Und um im Wasser zu bleiben: Im Eichborn-Verlag erscheint im September der Roman Unter uns das Meer von Amity Gaige. Darin erzählt sie von einem Bootstrip, der schief zu gehen droht. Das Besondere daran: das Buch ist aus zwei Perspektiven geschildert. Ob das so gut klappt wie im Falle Lauren Groffs?

Pilar Quintana (Übers.: Mayela Gerhardt): Hündin (Aufbau)

Kann ein Hund einen Menschen ersetzen? Ist ein Hundewelpen die Antwort auf einen Kinderwunsch? Dieser Frage geht Pilar Quintana in ihrem Roman Hündin nach. Das Buch erscheint im Aufbau-Verlag im September.

Andreas Schäfer: Das Gartenzimmer (DuMont)

Ein Paar entdeckt in den 90er Jahren eine neoklassizistische Villa wieder, die ein Architekt 1908 entworfen hatte. Nachdem sie das Haus renoviert und in den Originalzustand zurückversetzt haben, zieht das Haus immer mehr Architekturfans an und die beiden geraten in Interessenskonflikte. Andreas Schäfers Roman gibt es ab Juli bei DuMont.

Ilja Leonard Pfeijffer (Übers.: Ira Wilhelm): Grand Hotel Europa (Piper)

Was ist dieses Europa noch? Droht es nicht schon längst in Partikularinteressen auseinanderzufallen? Die Antworten von Ilja Leonard Pfeijffer interessieren mich. Er hat einen Roman über Europa geschrieben, in dem ein Schrifsteller ein Zimmer in jenem Grand Hotel Europa bezieht.

Steven Price (Übers.: Malte Krutzsch): Der letzte Prinz (Diogenes)

Giuseppe Tomasi di Lampedusa hat mich in Form der Neuübersetzung des Leoparden durch Burkhart Kroeber im letzten Jahr wirklich begeistert. Nun hat Steven Price ein Buch über den Schöpfer jenes monumentalen Werks geschrieben. Der letzte Prinz erscheint im Oktober bei Diogenes.

Stephen Crane (Übers.: Bernd Gockel): Die rote Tapferkeitsmedaille (Pendragon)

Der amerikanische Bürgerkrieg ist ein Thema, mit dem ich mich noch nicht vertieft beschäftigt habe. Nun ist im Pendragon-Verlag eine Neuübersetzung von Stephen Cranes Roman Die rote Tapferkeitsmedaille zu entdecken. Darin beleuchtete der Autor 1895 zum ersten Mal den Krieg aus der Sicht eines einfachen Soldaten. Ein spannendes Vorhaben, diese Neuübersetzung von Bernd Gockel.

Christoph Nußbaumeder: Die Unverhofften (Suhrkamp)

Im September erscheint im Suhrkamp-Verlag ein Titel, auf den ich mich auch sehr freue. Die Unverhofften ist das Debüt des niederbayerischen Dramatikers Christoph Nußbaumeder. In seinem 700 Seiten starken Roman erzählt er die Geschichte einer Familie und dem wirtschaftlichen Aufstieg über die Jahrzehnte hinweg.

Daniel Mellem: Die Erfindung des Countdowns (dtv-Verlag)

Im September erscheint das Debüt von Daniel Mellem. Dieser studierte erst Physik, eher er dann zum Deutschen Literaturinstitut in Leipzig kam. Das Thema der Physik ist es auch, das in seinem Buch eine Rolle spielt. Er erzählt in Die Erfindung des Countdowns von einem Forscher, der eigentlich den Traum einer Mondrakete verwirklichen will, doch dann in den Zweiten Weltkrieg hineingezogen wird.

Zaia Alexander: Erdbebenwetter (Tropen)

Die dunklen Seiten von Los Angeles soll Zaia Alexander in ihrem Roman Erdbebenwetter beleuchten. Wenn das nur halb so gut klappt wie in A.G. Lombardos Graffiti Palast (oder bei Jan Wilms Winterjahrbuch) könnte das wirklich ein weiteres Highlight in Sachen LA-Romane für mich werden.

Robert Moor (Übers.: Frank Sievers): Wo wir gehen (Insel)

Über das Gehen und unsere Wege durch die Natur schreibt Robert Moor in seinem Buch. Nachdem ich eh ein großer Fan der Gattung Nature Writing bin, ist auch Wo wir gehen für mich quasi Pflichtlektüre.

Kai Wieland: Zeit der Wildschweine (Klett Cotta)

Auf diesen Roman musste ich etwas länger warten. Prangte Zeit der Wildschweine schon in meiner letzten Vorschau oben auf meinem Zettel, wurde Kai Wielands Roman nun eingedenk der Corona-Krise etwas nach hinten geschoben. Nun soll es im Juli so weit sein und das neue Buch des Schöpfers von Amerika erscheinen.

Kevin Barry (Übers.: Bernhard Robben): Beatlebone (Rowohlt)

Ein neuer Roman von Kevin Barry? Ich bin dabei? Dunkle Stadt Bohane zählte zu meinen außergewöhnlichsten Leseerlebnissen der letzten Jahre (übersetzt von Bernhard Robben). Nun ist das Gespann wieder zurück, diesmal bei Rowohlt. Beatlebone erzählt vom ausgebrannten John Lennon, der auf seine irische Insel flüchtet und mit seinem Chauffeur eine wilde Tour erlebt.

Sandra Newman (Übers.: Milena Adam): Himmel (Matthes & Seitz)

Eine Vorschau ohne etwas von Matthes & Seitz? Das geht natürlich nicht. Diesmal habe ich einen Blick auf den Roman Himmel von Sandra Newman geworfen. Ice Cream Star wird allenorten gelobt, ich habe es noch nicht gelesen. Jetzt bietet sich die Chance mit einem etwas weniger voluminöseren Buch, in dem William Shakespeare, ein futuristisches New York und Träume eine Rolle spielen.

Welche von den hier vertretenen Büchern sprechen euch an? Oder auf was freut ihr euch? Oder ist der Herbst 2020 nicht so euer Literaturjahrgang?

Diesen Beitrag teilen

Von Frauen, die trotzdem schrieben

Katharina Herrmann – Dichterinnen & Denkerinnen

Es ist die Zeit für eine Offenlegung gekommen: zwar habe ich nicht Germanistik studiert, aber immerhin habe ich zu Schulzeiten in Vorbereitung auf das Abitur den Leistungskurs Deutsch besucht. Generell würde ich sagen, dass ich literaturgeschichtlich durchschnittlich gebildet bin. Ich kenne die wichtigsten Epochen der deutschsprachigen Literaturgeschichte und ihre wichtigsten Vertreter. Vertreter. Keine Vertreterinnen.

Blicke ich zurück, ist keine Frau in auch nur entferntester Sicht, was die Literaturgeschichte angeht, die mir vermittelt wurde. Egal ob Barock mit Andreas Gryphius, Sturm und Drang mit dem Powerduo Goethe/Schiller oder so etwas wie Neue Sachlichkeit mit Erich Kästner oder Hans Fallada. Geht es um berühmte Persönlichkeiten, die mir aus dieser Zeit einfallen, sind das immer nur Männer.

Ich vermute allerdings stark, dass ich mit dieser vermittelten Literaturgeschichte nicht alleine auf weiter Flur bin. Blickt man auf unseren Literaturkanon, so ist das auch nicht weiter verwunderlich. Schaue ich zurück auf die verwendete Literaturlisten unserer Schulzeit, dann ist da so einiges vertreten, auch Entlegenes, das ich heutzutage lesenden Teenager nicht mehr unbedingt als erstes an die Hand geben würde, um sie für die Epochen und Werke zu begeistern, etwa Aristophanes‘ Die Vögel, Wilhelm Raabes Stopfkuchen oder Zuckmayrs Der Hauptmann von Köpenick.

Die einzige Frau, die mir beim schulisch verordneten Lesen unterkam, war Annette von Droste-Hülshoff (das allerdings nur als Ergänzungslektüre) und Anna SeghersDas siebte Kreuz. Mehr Frauen? Fehlanzeige

Vergessene Frauen

Gewiss – die Schulzeit ist lange vorbei. Und ich bemühe mich auch, Literaturgeschichte nachzuholen, Klassiker zu lesen, vergessene Schriftsteller*innen auch hier öffentlich wieder ans Tageslicht zu bringen. Aber dennoch bleibt am Ende des Tages die Bilanz, dass mein Lesen genauso wie unser Literaturkanon männlich geprägt ist.

Das jüngste flächendeckende Schweigen zum Doppeljubiläum Marlene Haushofers ist da nur ein Beispiel unter vielen.

https://twitter.com/nachtundtagblog/status/1247768445220839424

Eine gute Korrektur bietet da das Buch Dichterinnen & Denkerinnen von Katharina Herrmann. Katharina Herrmann ist in Buchblogger-Kreisen keine Unbekannte. Sie betreibt den Blog Kulturgeschwätz, hat an der LMU München promoviert, saß 2020 in der Jury des Preises der Leipziger Buchmesse und ist als Gymnasiallehrerin tätig. Auch ich hatte schon die Ehre, mit ihr den Bayerischen Buchpreis begleiten zu dürfen.

Katharina Herrmann ist in meinen Augen die klügste deutschsprachige Literaturbloggerin, die immer wieder bedenkenswerte Impulse zur Lage der Literatur in Deutschland liefert. Es empfiehlt sich, ihr in den sozialen Netzwerken zu folgen.

KAtharina Herrmann - Dichterinnen & Denkerinnen (Cover)

Einer ihrer augenöffnenden Texte war vor zwei Jahren der Beitrag Auch ein Land der Dichterinnen und Denkerinnen. Damit setzte sie sich zum ersten Mal in der Bloggerszene in umfassender Art und Weise mit dem männlich geprägten Literaturkanon und den Mechanismen des Literaturbetriebs auseinander, der es Frauen erschwert hat, zu schreiben. In meinen Augen hat Katharina mit diesem Artikel Aktionen wie das #frauenzählen oder dem Boom feministischer Literaturblogs das Feld bereitet.

Viele Impulse gingen von diesem Artikel aus – unter anderem auch eine kleine Reihe mit Dichterinnenporträts, die Katharina Herrmann auf ihrem Blog veröffentlichte. Aus diesen Porträts ist nun das vorliegende Buch entstanden. Es versammelt 20 Porträts von Schriftstellerinnen, ausgehend vom 18. Jahrhundert bis hinein ins 20. Jahrhundert, das Herrmann mit der Autorin Mascha Kalékos beschließt. Frauenporträts, die ganz unterschiedliche Dichterinnen und Denkerinnen in den Fokus rücken.

Von Louise Aston bis Rahel Varnhagen

Schon einmal von Louise Aston gehört? Oder von Helene Böhlau? Katharina Herrmann schafft es, von der breiten Öffentlichkeit völlig vergessene Frauen wieder zurück ans Tageslicht zu bringen. Oftmals wurden diese zu Lebzeiten viel gelesen und diskutiert – gerieten dann aber wieder zunehmend in Vergessenheit. Und selbst wenn ein Name wie etwa der von Annette Droste von Hülshoff etwas bekannter ist, dann ist es auch nur der Tatsache zu verdanken, dass verschiedene Parteien über ihre Deutungshoheit bestimmen wollten. Dieser Streit wiederum begünstigte dann ihre Kanonisierung.

Die Autorin Rahel Varnhagen

Dass der Kampf um schriftstellerische Selbstbehauptung immer auch ein Kampf gegen das Patriarchat und die Fesseln ihrer Zeit war, das zeigt Katharina Herrmann in ihren Porträts deutlich. Sie schafft es, das Wesen und die prägenden Charakterzüge ihrer vorgestellten Schriftstellerinnen trotz des Umfangs von nur wenigen Seiten kurz und prägnant auf den Punkt zu bringen.

Sie zeigt die Widerstände, gegen die sich die Autorinnen wehren mussten. Versagte Schulbildung, die Versorgung der Familie, Männer, die die Schriftstellerinnen nach ihren Vorstellungen formen und beeinflussen wollten. Viele Motive kehren immer wieder, über die Jahrhunderte hinweg. Herrmann macht diese Hindernisse deutlich, weshalb der Untertitel Frauen, die trotzdem geschrieben haben mehr als treffend ist.

Neben den biographischen Nacherzählungen finden sich auch immer wieder Auszüge aus den Werken der Autorinnen im Text, die so ein Gefühl für das schriftstellerisches Oeuvre erzeugen. Das macht Lust, die Schriftstellerinnen selbst kennenzulernen und ihre Bücher zu lesen (wenn es nicht so schwer wäre, an sie heranzukommen).

Ein wunderbar gestaltetes Buch

Ein Wort soll an dieser Stelle auch über die Gestaltung des Buches verloren werden. Denn neben Literaturhinweisen und bibliographischen Verweisen gibt es auch zahlreiche Porträts, die das Buch ergänzen. Sie stammen aus der Feder von Tanja Kischel und können nicht anders als sehr gelungen bezeichnet werden. Gestalterisch ist Dichterinnen & Denkerinnen ebenfalls ein Gewinn.

Schade ist es natürlich, dass dieses Buch auch zu jenen Titeln des Bücherfrühlings zählt, denen kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird. Auch die kaum vorhandenen Werbemaßnahmen des Reclam-Verlags tun leider ihr übriges dazu. Mehr Sichtbarkeit für dieses Buch und die darin vorgestellten Schriftstellerinnen, das wäre wünschenswert. Denn die vorgestellten Dichterinnen und Denkerinnen verdienen es genauso wie dieses Buch!


Eine weitere Besprechung des Buchs findet sich auch bei Birgit Böllinger vom Blog Sätze & Schätze und bei Sabine vom Blog Binge Reading & More.

Diesen Beitrag teilen

Christoph Poschenrieder – Der unsichtbare Roman

Das Notizbuch [Gustav Meyrinks] ist auch deshalb interessant, weil darin Ideen und Entwürfe für andere (nicht realisierte) Romane festgehalten sind, darunter ein „Freimaurerroman“ – ein Projekt, an dem Gustv Meyrink wahrscheinlich in den Jahren 1917/18 arbeitete, das er aber schließlich wieder verwarf (…) die Informationen darüber sind spärlich …

Theodor Harmsen, in: Der magische Schriftsteller Gustav Meyrink

Das unvollendete und wahrlich apokryphe Romanprojekt von Gustav Meyrink steht im Mittelpunkt von Christoph Poschenrieders neuem Roman. Nachdem der Münchner Romancier mit seinem letzten Werk enttäuschte, legt er nun ein hochspannendes Buch vor. Ein Buch, bei dem die Form fast noch interessanter als sein Inhalt ist.

Das Buch kreist um jenen titelgebenden unsichtbaren Roman, den Gustav Meyrink 1917 produzieren soll. Der Schöpfer des Golems und anderer zumeist satirischen Werke gilt den Machthabern in Berlin als der richtige Mann. Er soll für das Kriegsministerium einen Roman verfassen, der eindeutig die Schuldfrage am Ersten Weltkrieg klärt. Propaganda, Deutungshoheit, Spin Doctors sind keine Erfindung unserer Tage. Auch schon im Großen Krieg wollte man die Deutungshoheit über die Geschehnisse behalten. Und so soll Meyrink eben ein Buch verfassen, das einer bestimmten Partei die Schuld für den Kriegsbeginn in die Schuhe schiebt. Der Vorschlag aus dem Kriegsministerium: die Freimaurer würden sich doch anbieten.

Eingedenk seiner finanziellen Situation (ein Bankrott in Prag liegt hinter ihm, der Starnberger See vor der Haustür seiner jetzigen Immobilie) willigt Meyrink ein. Doch dann das: völlige Schreibblockade. Das Einzige, das Meyrink gut von der Hand geht, ist die kreative Vertröstung seiner Auftraggeber. Doch ansonsten bleiben die Seiten weiß. Keine Ideen, kein Zugriff aufs Thema, keine Vision, was er mit dem Buch anstellen soll.

Von diesen Schreibblockaden erzählt Poschenrieder durchaus humorvoll. In einer eleganten Sprache, den hohen Ton wie zuletzt in seinem Buch Das Sandkorn suchend, wirft er einen Blick in Meyrinks Seele. Doch nicht nur von den Schreibblockaden erzählt Meyrink – auch das Leben und Schaffen dieses heute schon wieder fast vergessenen Autors erzählt Poschenrieder.

Meyrinks Werdegang ist genauso ein Thema wie die Münchner Räterepublik mit all ihren turbulenten Verwicklungen. So spielt neben Meyrink auch Erich Mühsam eine wichtige Rolle sowie sein Gegenspieler- der spätere erste bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner, der den Freistaat Bayern proklamierte.

Eine Möbiusschleife als Vorbild

Ein spannendes Leben ist es, das Christoph Poschenrieder da schildert. Doch noch spannender scheint mir die Konstruktion seines Romans. Denn diese hat es in sich. So gibt es zum Einen erst einmal die in der 3. Person geschilderten Erlebnisse von Meyrink und seine Versuche, den vermaledeiten Roman zu Schreiben. Zum Anderen gibt es dann aber auch noch Erzählungen von Meyrink selbst, die dieser in der 1. Person aus der Ich-Perspektive schildert.

Dann ist Der unsichtbare Roman aber auch voll von Recherchenotizen und Trouvaillen, die sich während der Entstehung des Schreibprojekts angesammelt haben (so suggeriert es Poschenrieder zumindest in meinen Augen). Sie sorgen für so etwas wie Struktur im Roman, auch wenn die Verbindung von Recherenotiz und dem nachfolgenden Kapitel manchmal etwas versteckt erscheint.

Eine Erzählung wie eine Möbiusschleife

Und dann ist da zuvorderst natürlich das Ende des Romans, das eigentlich wieder den Anfang des Buchs bildet. Denn plötzlich gelingt es Poschenrieder, die vorher gelesenen circa 260 Seiten in neuem Licht erscheinen zu lassen. Wie bei einem Möbiusband verdrillt und verdrahtet er höchst geschickt die einzelnen Erzählstränge seines Buchs zu einem neuem Roman, der alles davor Gelesene in einen anderen Bezug setzt. Plötzlich ergibt zuvor scheinbar Sperriges oder Widersprüchliches einen neuen Sinn. Das ist schlau gemacht und erfordert nach der Lektüre eigentlich gleich einen zweiten Durchgang des Romans. Da Capo in Romanform könnte man sagen.


Hier findet Christoph Poschenrieder endlich wieder zu Spielfreude und einer tollen Montagetechnik zurück, die durch einen wirklich eleganten Erzählton zum Vergnügen wird, wenn man sich darauf einlassen möchte. Ein Buch, das an vorherige Glanzzeiten (hier sei Das Sandkorn und Die Welt ist im Kopf genannt) anschließt.

Diesen Beitrag teilen