Tag Archives: Nationalsozialismus

Chris Kraus – Das kalte Blut

Für diese Frage könnte man bei einer Quizshow schon einmal die obligatorische Million abräumen: worum handelt es sich beim Roten Herbstkalvill? Chris Kraus erklärt es in seinem Buch Das kalte Blut und macht den Apfel (so die richtige Antwort) zum Leitmotiv seiner Geschichte, die von den ungleichen Brüdern Konstatin, genannt Koja, und Hub Solm erzählt. Immer wieder taucht dabei jener Rote Herbstkalvill auf, der mal Zankapfel, mal Todesbote ist, und der das Schicksal der Brüder begleitet.

Erzählt wird uns die Geschichte in Form einer Lebensbeichte, die Koja gegenüber seinem Bettnachbarn in einem Münchner Krankenhaus 1974 ablegt. Er ist nämlich infolge eines in seinem Kopf steckenden Projektils in Behandlung, das nicht nur ihm sondern auch den Ärzten einiges Kopfzerbrechen bereitet. Wie dieses Projektil in seinen Schädel gelangte und welche unerhörte Lebensgeschichte dazu führte, dass nun das Zimmer von der Polizei bewacht wird, das erzählt Solm seinem Bettnachbar, der ausgerechnet ein Hippie ist.

Die Sympathie jenes Hippies kippt im Laufe dieser tausendzweihundertseitigen Geschichte immer mehr ins Entsetzen, als er die ganzen turbulenten Ereignisse und Taten aus Koja Solms Leben erfährt. Aufgewachsen als Deutschbalte in der Nähe von Riga erleidet die Familie nach dem Ersten Weltkrieg einen großen Bedeutungsverlust und muss sich durchschlagen. Doch dann beginnt mit dem Aufstieg des Dritten Reichs auch der Aufstieg der Solm-Brüder. Jene werden zu wichtigen Kontaktpersonen für die Nazis im Baltikum, Himmelfahrtskommandos und Verbrechen gegen die Menschlichkeit inklusive. Doch die Identität als Kriegsverbrecher ist nur eine Facette im vielschichtigen Wesens Koja. Verhaftungen durch die Russen, Tätigkeiten als Doppelagent für Russland und Deutschland folgen, eine Karriere als Kunstfälscher und Mitbegründer des Bundesnachrichtendienstes findet sich ebenso in Kojas Lebenslauf genauso wie eine Emigration nach Israel.

Continue reading
Diesen Beitrag teilen

Klaus Modick – Die Schatten der Ideen

In seinem Buch Die Schatten der Ideen verknüpft Klaus Modick die Lebensgeschichte des jüdischen Emigranten Julius Steinberg mit der des Universitätsdozenten Moritz Carlsen zur Zeit des Irakkriegs 2003/2004.

Aufhänger ist die Schaffenskrise des Autoren Moritz Carlsen. Dieser mag und mag kein Thema für seinen neuen Roman finden, sodass ihm der Anruf eines alten Freundes gerade recht kommt. Dieser lotst ihn als Artist in Residence in die abgelegenen Berge von Vermont, wo Carlsen am Centerville-College Kurse geben soll. Dem Ruf seines alten Freundes kann er sich nicht widersetzen, besonders, da auch berühmte Literaten wie Robert Frost oder sogar Carl Zuckmayer in Vermont Unterschlupf fanden. Eine gute Region also, um auf den Musenkuss zu warten. Und bis der kommt, gibt Carlsen Vorlesungen zum Thema Übersetzung und versucht sich in Vermont einzuleben.

Dabei stolpert er just eines Tages in dem vom College zur Verfügung gestellten Zuhause im Keller über ein Konvolut voller Briefe und Aufzeichnungen. Diese geben Einblick in das bewegte Leben des jüdischen Emigranten Julius Steinberg, der von Deutschland aus zur Zeit der Nationalsozialisten nach Amerika emigrierte. Dabei ist der Großteil des Konvoluts eine Art eigene Autobiographie, die Steinberg in seiner Gefängniszelle schrieb, in der er zur Zeit der McCarthy-Ära gelandet war. Carlsen beschließt, über das Leben des Verfassers selbst Nachforschungen anzustellen, doch je weiter er mit seinen Nachforschungen kommt, umso mehr Gegenwind gibt es. Continue reading

Diesen Beitrag teilen

Volker Kutscher – Lunapark

Gereon Rath ist zurück – Machtergreifung, gedungene Serienkiller und eine Hochzeit haben ihm nichts anhaben können – in seiner eigenen Mischung aus Angepasstheit und Rebellion hat es der Berlin Kriminalkommissar auch ins Zeitalter der Nationalsozialisten hinübergeschafft. Immer noch versieht er seinen Dienst in der Burg am Alex während ehemalige Kollegen auf Seiten der Nazis Karriere machen.

lunapark

In diesen unruhigen Zeiten ist Raths neuer Fall mehr als brisant. Eine halbfertige kommunistische Parole prangt unter einer Eisenbahnbrücke, darunter liegt tot ein SA-Mann. Für Raths Ex-Kollegen und nun jetzt Gestapo-Ermittler Reinhold Gräf ist die Sache dann sofort klar. Kommunisten haben dieses Verbrechen verübt, da sie bei der Aufbringung ihrer Parole gestört wurden. Folglich bläst Gräf zum Angriff auf die letzten roten Kommunisten in Berlin und Rath soll ihm zuarbeiten. Diesen macht hingegen die Offensichtlichkeit des Verbrechens stutzig. Er ermittelt in eine ganz andere Richtung, denn wie es aussieht, verbindet das Opfer unter der Eisenbahnbrücke ein Geheimnis mit weiteren Männern aus dem SA-Sturm 101. Auch alte Bekannte scheinen in die Geschehnisse verstrickt und so klemmt sich Rath gegen den Widerstand der Gestapo hinter seine eigene Fährte. Denn da draußen lauert der Täter immer noch. Und er hat auch mit Gereon Rath noch eine Rechnung offen …

Verhaltener Auftakt, gute Entwicklung

Etwas verhalten beginnt der inzwischen sechste Band um den Berliner Kommissar. Kompetenzgerangel und die übliche Spurensuche dominieren das erste Drittel des Buchs, ehe sich Volker Kutscher etwas freischwimmt und den Fall um die ermordeten SA-Männer immer komplexer macht und die Erzählfäden rund um Rath, seine Frau Charly Ritter und Raths alten Bekannten Johann Marlow miteinander verstrickt. Hier zeigt sich dann die Klasse des Autors, indem er die Protagonisten immer näher zusammenführt und dadurch auch den Zeitkolorit gut in die Geschichte einwebt.

Die kurz zuvor erfolgte Machtergreifung der Nationalsozialisten, das Erstarken der SA und der Röhm-Putsch im Juli 1934 bilden diesmal das Grundgerüst für die Kriminalepisode. Kutscher fängt die Zeit und die Verhaltensweisen der Menschen hervorragend ein. Wie er Rath als widerspenstigen Ermittler aber halbwegs angepassten Menschen zeichnet, der sich durch die Herrschaft der Nazis  hindurchlaviert, und im Privaten verpasst, Stellung zu beziehen, das liest man gerne. Auch sein Wohlwollen gegenüber seines Ziehsohnes Fritze, der unbedingt in die HJ eintreten möchte, steht exemplarische für viele Biografien dieser Zeit und wird von Kutscher plausibel eingearbeitet.

Zum Verständnis der Reihe ist die Kenntnis der Vorgängerbände nicht zwingend erforderlich, wer allerdings bereits Märzgefallene gelesen hat, wird sich mit der Lektüre des Lunaparks einfacher tun, da Kutscher viele Fäden aus diesem Krimi wieder aufgreift und weiterwebt.

Diesen Beitrag teilen

Angelika Felenda – Wintergewitter

Bereits einmal ließ Angelika Felenda ihren Kommisär Reitmeyer im krisengeschüttelten München ermitteln, nämlich im Fall Der eiserne Sommer. Damals  dräute der Erste Weltkrieg und in der Landeshauptstadt München brodelte es. Nachdem am Ende des Buchs der Kommisär seinen Einzugsbefehl an die Front erhielt, ist er nun nach sechs Jahren wieder zurück in München. Als Kriegszitterer hat er einige Traumata aus dem Krieg mitgebracht und versucht die Erinnerungen mit Geigenspiel zu verjagen.

wintergewitterDoch auch zwei Jahre nach Kriegsende kommt die Landeshauptstadt nicht zur Ruhe. Bürgerwehren patrouillieren auf den Straßen, die rechten und das linken Lager tragen blutig ihre Fehden aus und der verlorene Weltkrieg hängt wie ein Damoklesschwert über dem Land. Sehr angespannte Zustände also, in denen sich München befindet. Der neue Fall für den Ermittler Reitmeyer nimmt sich allerdings erst einmal ganz unpolitisch aus. Eine junge Kellnerin namens Cilly Ortlieb wurde tot im Keller eines Gasthauses aufgefunden. Recht schnell steht der Tathergang fest. Das Mädchen wurde mit einer Heroinspritze ermordet. Das alleine würde kaum Aufsehen erregen, doch schon bald wird eine weitere junge Frau tot auf einer Parkbank sitzend aufgefunden. Der Modus Operandi des Täters ist identisch. Was ist das Motiv des Täters? Die Suche nach Erkenntnis führt den Kommisär in die Palais von Adeligen, bringt ihn mit der rechten Einwohnerwehr in Kontakt und wird schließlich zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Continue reading

Diesen Beitrag teilen

Oliver Hilmes – 1936

Sechzehn Tage im August 1936 – diese sind das Gerüst für das Buch von Oliver Hilmes. Und diese Tage haben es in sich. In Berlin findet zu dieser Zeit die Spiele der XI. Olympiade statt, die das ganze Land elektrisieren und deren Auswirkungen auf der ganzen Welt spürbar sind.

Berlin 1936 von Oliver Hilmes

Berlin 1936 von Oliver Hilmes

Nach der Machtergreifung durch Adolf Hitler im Jahr 1933 haben die Nationalsozialisten Deutschland im Handstreich erobert, doch das Gesicht, dass das Land nun der Welt zeigen will, ist ein anderes. Das Erscheinen des Stürmers wird eingestellt, jüdische oder farbige Sportler dürfen an den Spielen teilnehmen und im Olympischen Dorf zeigt man sich von seiner kosmopolitischen Seite. Hitler-Deutschland generiert sich als Förderer des Sports und Göring, Goebbels und Hitler geben Empfänge und lassen sich an den Sportstätten sehen. Leni Riefenstahl dreht ihren berühmt gewordenen Streifen Olympiade – und in den Bars und Kneipen tanzt man zu Jazz und genießt die Freiheit, die die Olympischen Spiele den Berlinern bietet.

Chronologisch gliedert Oliver seine Erzählung in die sechzehn Augusttage, stets eingeleitet durch ein Foto mit Bezug auf das folgende Kapitel und einen Auszug aus dem Reichswetterdienst des aktuellen Tages. Was darauf folgt sind kurze Schlaglichter aus den Geschehnissen am aktuellen Tag, mal tauchen die Fäden später im Buch wieder auf, mal sind es nur kurze Leuchtfeuer von Leben und Sterben. Neben den Nazigrößen blickt Hilmes in seinem Buch auch auf die kleinen Berliner, Soldaten in geheimer Mission in Spanien oder Jazzmusiker, für die diese Augusttage große Bedeutung haben. Ihm gelingt so ein kurzweiliges, anektdotenreiches und stupendes Buch über Tage des Ausnahmezustandes, bei denen Jesse Owens die Spiele dominierte und unter den Augen der Machthaber als Farbiger von Weltrekord zu Weltrekord eilte. Nicht die einzige Pointe der Weltgeschichte, die Hilmes in seinem neuen Buch schildert.

Dieses schön komponierte Buch hat auch einen Bruder im Geiste, und zwar ist dies Florian Illies‘ 1913. Wer an letzterem Buch Freude hatte, der wird auch die Lektüre von Berlin 1936 nicht bereuen!

 

Diesen Beitrag teilen