Tag Archives: Nationalsozialismus

Ein Gang ins Gericht mit sich selbst

Susanne Kerckhoff – Berliner Briefe

Einmal mehr eine erstaunliche Wiederentdeckung, die dem Verlag Das Kulturelle Gedächtnis da gelungen ist. Susanne Kerckhoffs Berliner Briefe aus dem Jahr 1947. Ein Briefroman, der sich mit Schuld, Sühne, Verdrängung und der Frage auseinandersetzt, ob das geht: passiver Widerstand und aufrechtes Leben in einer Diktatur. Ein Roman, in dem sich in Form von Briefen seine Verfasserin und damit eine ganze Gesellschaft hinterfragt.


Betrachtet man die Nachkriegszeit und die Beschäftigung mit der Schuld der Deutschen, dann geht die Erzählung zumeist ja so: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schlug die Stunde Null. Verdrängung, Verleugnung und Totschweigen der Ereignisse während des Nationalsozialismus herrschten vor. Das Wirtschaftswunder brachte dem Land wieder den Aufschwung. Zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Erbe und der eigenen Schuld kam es dann aber erst durch die 68er-Bewegung und die Hinterfragung der Schuld der Eltern durch ihre Kinder und Enkel.

Der Autor Harald Jähner schreibt über jene Nachkriegszeit, die er in seinem preisgekrönten Roman Wolfszeit getauft hat:

Wo waren sie hin, die stolzen Herrenmenschen, die angeblich lieber sterben wollten, als jedwede Form von Fremdherrschaft zu erdulden? Das fragten sich nicht nur die Besatzer, sondern auch die Deutschen selbst. Die meisten hatten ihre Führertreue mit einem Schlage eingestellt. Sie knippsten ihre ehernen Überzeugungn wie mit einem Schalter aus – und die Vergangenheit gleich mit. Wie sonst hätte jemand keine zwei Jahre nach Kriegsende auf die irre Idee kommen können, zu fragen, warum eigentlich niemand auf der Welt die Deutschen so richtigen leiden könne? „Was macht den Deutschen in der Welt so unbeliebt?“ überlegte tatsächlich im Januar 1947 die Zeitschrift „Der Standpunkt“, als hätte es den Krieg nie gegeben.

Jähner, Harald: Wolfszeit, S. 375

Eine vergessene Autorin wird wiederentdeckt

Doch dass es nicht alle Deutschen mit Verdrängung und Verleugnung bewenden lassen wollten, davon zeugt der Briefroman von Susanne Kerckhoff. Er zeigt eine Deutsche, die sich in Form eines Briefwechsels mit einem emigrierten Freund selbst hinterfragt. Sie geht mit sich selbst ins Gericht – und zeigt eine durchaus schizophrene Gesellschaft. Und das schon im Jahr 1948, zwanzig Jahre vor der Zäsur 68. Ein erstaunliches Buch.

Susanne Kerckhoff - Berliner Briefe (Cover)

Dabei ist schon das Schicksal seiner Autorin außergewöhnlich. Die 1918 geborene Susanne Kerckhoff schloss sich schon zu Schulzeiten der Sozialistischen Arbeiterjugend an, begann ab 1935 zu schreiben (zu Beginn noch weitestgehend unpolitische Prosa) und wurde 1937 Mitglied der Reichsschrifttumkammer. Nach dem Krieg trat sie in die SPD ein, trennte sich von ihrem Mann und den Kindern und wurde 1948 Mitglied der SED. Zugleich erschienen in diesem Jahr auch ihre Berliner Briefe. Ein Jahr später macht sie als Feuilletonchefin der Berliner Zeitung Karriere. Nach publizistischen und ideologischen Debatten und sinkendem Rückhalt durch die SED-Regierung beging Kerckhoff 1950 schließlich Suizid. Ihr Grab befindet sich auf dem Berliner Waldfriedhof Grünau.

Ihr schriftstellerisches und lyrisches Werk fiel mehr oder minder dem Vergessen anheim, obwohl Monica Melchert und Ines Geipel schon lange für eine Wiederentdeckung dieser Autorin kämpften, wie Herausgeber Peter Graf in seinem Nachwort schreibt. Er hat nun im Verlag Das Kulturelle Gedächtnis den Versuch unternommen, dieses Buch abermals einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Mit Erfolg, wie auch die Debatte im Literarischen Quartett nun zeigt.

Eine erstaunliche Selbstbefragung

Dass dieses Buch so erstaunlich ist, liegt auch darin begründet, dass es dem altbekannten Narrativ von einer gesamtgesellschaftlichen Verdrängung so offensichtlich widerspricht. Denn wie Susanne Kerckhoff hier mit ihrer Briefeschreiberin Helene und dem ganzen Land ins Gericht geht, und das schon drei Jahre nach Kriegsende, das erstaunt doch sehr. Unbarmherzig befragt sich die junge Frau selbst, indem sie 13 Briefe an Hans schriebt. Dieser hat das Land verlassen – und Helene legt ihm nun die Gründe für ihren Verbleib in Deutschland und die momentane Lage dar.

Eines ist von Anfang des Endes an schlecht gelungen: der deutschen Allgemeinheit Schuldgefühl und Sühnebereitschaft aufzunötigen. Die Erfolglosigkeit aller Erziehung zur Einsicht war von vornherein zu befürchten. Ein besigtes Volk läßt sich von den Siegern höchst widerwillig belehren. Fahre in Gedanken mit mir in der Stadtbahn, stehe mit mir in der Schlange vor dem Fleischerladen und höre zu:

„Wenn wir gesiegt hätten, dann wären Stalin und Churchill in Nürnberg aufgehängt worden! „Wir sind ja das schlechteste Volk der Welt – ehe nicht Millionen von uns draufgegangen sind, sind die nicht zufrieden! „Nächsten Winter soll es noch weniger Kohlen geben – Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (…)

Lieber – wozu noch mehr dieser Phrasen! Sie drücken alle das gleiche aus. Äußerungen Unterlegener, die sich gegen die moralische Diskriminierung wehren und durch ihre Art des Wehrens sich noch schärfer ins Unrecht setzen. Ich kenne diese Menschen von früher her, wo sie mit bitterböser Arroganz und dümmlicher Gefolgschaftstreue in ihren Herzen achtlos über Leichen gingen, ehrpußlig Mordorden einklaubten“

Kerckhoff, Susanne – Berliner Briefe, S. 15f

Ihre Schilderungen der Nachkriegsgesellschaft, die Abwesenheit von Schuld- und Sühnebereitschaft, das beeindruckt. Ein wichtiges Zeitdokument, dass der Stunde-Null Erzählung leise, aber umso entschiedener widerspricht. Eine wirkliche Wiederentdeckung, die zurecht in den Medien nun vielfältiges Echo erfährt. Zudem noch ausnehmend toll gestaltet – so wie alle Bücher dieses Verlags.


Informationen zum Buch

  • Susanne Kerckhoff – Berliner Briefe
  • Herausgegeben von Peter Graf
  • ISBN: 978-3-946990-36-9
  • Erschienen im Verlag Das Kulturelle Gedächtnis
  • 120 Seiten, 20,00 €
Diesen Beitrag teilen

Andreas Eschbach – NSA

Wenn anstelle des Hashtags das Hakenkreuz fungiert – Andreas Eschbachs Fantasie über ein Drittes Reich mit Sozialen Medien und globaler Überwachung

Hier lernt man noch einiges: Anne Frank und ihre Familie wurden in ihrem Hinterhaus in der Prinsengracht in Amsterdam nicht etwa durch eine oder einen VerräterIn aufgestöbert. Nein, es waren die Daten der Familie Gies‘, die zur Ergreifung der Familie führten. Diese Daten wurden in Weimar ausgewertet, im NSA. Bei Eschbach wird aus der eigentlich amerikanischen Behörde das sogenannte Nationale Sicherheitsamt, das alle Daten der deutschen Bevölkerung und der unterworfenen Länder analysiert. Darunter fallen auch die Daten aus Amsterdam, die von fähigen Programmiererinnen und Analysten ausgewertet werden. Zu Demonstrationszwecken zeigt das NSA bei einem Besuch von Heinrich Himmler, wozu es mit seinen gespeicherten Daten in der Lage ist. So fallen bei Routineüberprüfungen die Einkaufs- und Verbrauchskennziffern in der Prinsengracht ins Auge. In einem Tony-Scott-reifem Showdown zeichnet Eschbach nach, wie es dem NSA gelingt, die Einsatzkräfte in Amsterdam nur per neuartigen Komputern und Daten zum Haus zu dirigieren und so für die Verhaftung von Anne Frank und Familie zu sorgen . Der Staatsfeind Nummer 1 trifft auf George Orwell – so könnte man die Grundidee hinter Eschbachs wuchtiger alternativen Geschichtsschreibung zusammenfassen.

Auch die Gemeinschaft der Weißen Rose um die Geschwister Hans und Sophie Scholl wird so gestellt, nachdem in Deutschland und anderen Orten plötzlich Flugblätter der Bewegung auftauchen. Doch die Macht von Big Data und die umfassende Überwachung des Sicherheitsamtes sorgt auch für ein schnelles Ende dieser Gruppe.

Ein Drittes Reich mit der Überwachung von Heute

Was wäre, wenn es im Dritten Reich bereits Computer, soziale Medien und die dadurch entstehenden Überwachungsmöglichkeiten gegeben hätte? Aus diesem Gedankenexperiment schöpft Eschbach. Dies tut er, indem er zwei unterschiedliche Mitarbeiter des NSA in den Mittelpunkt seiner Erzählung stellt.

Zum Einen ist da die Programmstrickerin Helene, die für die Ausarbeitung und korrekte Formulierung von Programmen zuständig ist, die dann von ihren männlichen Kollegen ausgewertet werden (es herrscht klare Geschlechtertrennung zwischen minderwertigen und höheren Tätigkeiten). Zum Anderen arbeitet im NSA Eugen Lettke, der seine Machtfülle und seinen Zugriff auf die Daten ausgiebig zu nutzen und missbrauchen weiß.

Diese beiden unterschiedlichen Charaktere lassen den Nutzer in ein NSA eintauchen, das gespenstisch unseren heutigen Behörden und ÜBerwachungsmöglichkeiten ähnelt. Auch wenn sich die Begriffe unterscheiden – in Eschbachs Fantasie des Dritten Reichs sind Hassrede, Denunziationen im Deutschen Forum, Whistleblower und Vollzeitüberwachung auch Themen, die einen stetigen Machtzuwachs der Überwachungsbehörde rechtfertigen. Immer wilder wuchert die Datenkrake, immer umfangreicher werden die Oberservationsmöglichkeiten, die den Machthabern zur Verfügung stehen. Das Volkstelephon lädt zur Belauschung und Ortung der Bevölkerung ein – schließlich will man ja möglichst genau wissen, was das eigene Volk so tut und treibt und welche Umtriebe zu befürchten sind. Besonders pikant wird das natürlich dann, wenn eine professionelle Aufdeckerin von Geheimnissen plötzlich selbst Geheimnisse hüten muss.

NSA liest sich wie eine Kreuzung aus Philipp K. Dicks The man in the high castle, seinem Minority-Report und wohl am deutlichsten George Orwells 1984.

Auch wenn das alles zunächst hanebüchen wirken mag, eher als Geschichtsklitterung und Parodie erscheinen mag – wie Eschbach seine Alternate History zu einem Ende bringt und seinen eingeschlagenen Weg konsequent zu Ende geht, das ist dann doch sehr eindringlich gestaltet.

Angesichts des Umfangs von knapp 800 Seiten sind Flüchtigkeitsfehler (man kann wohl eher Tiere schlachten, Fleisch schlachtet man eigentlich nicht) und stellenweise stilistische Holprigkeiten zu verzeihen. Denn auf die Länge und besonders auf den Paukenschlagschluss hin betrachtet liegt mit NSA hier wieder ein stärkeres Buch aus dem Oeuvre von Eschbach vor, das zumindest mich größtenteils zu überzeugen wusste.

Diesen Beitrag teilen

Steffen Mensching – Schermanns Augen

Wie kann das sein? Da schreibt Steffen Mensching den besten Roman des Jahres, ein epochales Gemälde von Europa und Russland in den 30er und 40er Jahren – und kaum einer bekommt es mit? Zeit wird es, das zu ändern – denn Schermanns Augen sind über 800 Seiten Literatur, die im Gedächtnis bleibt. Handlungssatt, bunt und berührend.

Steffen Mensching (Jahrgang 1958, geboren in Ost-Berlin) präsentiert sich auf seiner eigenen, grafisch gewagten Homepage mit der schönen Selbstbeschreibung Autor, Clown, Schauspieler, Regisseur. Seit zehn Jahren steht er dem Theater in Rudolstadt als Intendant vor und ist damit offenbar noch nicht ganz ausgelastet. Anders lässt es sich nicht erklären, dass er es geschafft hat, diesen Ziegelstein von einem Buch neben seiner Tätigkeit am Theater zu produzieren (wenngleich Mensching laut Interviews über 12 Jahre an dem Buch saß). Die Vorarbeiten zu Schermanns Augen müssen immens gewesen sein, genauso wie die Arbeit mit dem Text selbst. Denn sein Buch ist ein 800-Seiten-Pfünder mit einem bemerkenswert dichtem Textgewebe voller Zeitkolorit, Personen und Anekdoten der europäischen Secession.

Secession und Straflager

Diese lässt Mensching in all ihrer pulsierenden Kreativität und Lebendigkeit wiederauferstehen. Geistesgrößen wie Karl Kraus mit seiner Zeitschrift Die Fackel, der Maler Oskar Kokoschka, Alma Mahler, der Komponist Arnold Schönberg oder der Architekt Adolf Loos – sie wurden zu Taktgebern der 20er und 30er Jahre und prägten in Zentren wie Berlin oder Wien den intellektuellen Rhythmus. Neben unzähligen weiteren kulturell prägenden Gestalten bekommen sie ihren Auftritt – in den Erinnerungen von Rafael Schermann.

Jener Schermann, eine in den buntesten Farben schillernde und glitzernde Figur, lässt wie in 1001 Nacht diese Zeit und zugleich Zeitenwende wieder auferstehen. Die Rahmenbedingung für seine Erzählungen sind dabei von ebenso großer Tristesse wie Bedrohlichkeit. Denn Schermann sitzt 1940 im Gefängnis Artek ein und erzählt in Verhören seine Lebensgeschichte.

Safranowka, ITL 47, genannt Artek II, war ein Nebenlager im Archangelsker Gebiet, hundertfünfzig Kilometer östlich von Kotlas, an der Bahntrasse nach Workuta gelegen. Bis 1935 ein verschlafenes Fünfzig-Seelen-Dorf, windschiefe Hütten und eine baufällige, als Getreidespeicher genutzte Kirche. Dann übernahm das NKWD die Siedlung. Fünf Jahre später lebten hier knapp tausend Häftlinge, Frauen und Männer. Schermann war jetzt einer von ihnen.

(Mensching, Steffen: Schermanns Augen, S. 7)

Warum hat es Schermann in dieses Lager verschlagen? Und das größte Mysterium überhaupt- wer ist dieser Mann überhaupt, der die abenteuerlichsten Geschichten zu erzählen weiß? Welche Geheimnisse hütet der Sträfling?

Er wurde bei einem Halt auf freier Strecke aus dem Transport geholt. Zwei Sträflinge, die zum Beräumen der Gleise eingeteilt waren, schleppten den Ohnmächtigen in Begleitung eines Postens zum Schlitten des Depotverwalters Trufulski. Der lieferte ihn in der Krankenbaracke ab. Ein Greis. Obwohl erst sechsundsechzig. Nicht allein die unbegründete Verlegung, auch der Aufenthalt im Brygidki-Gefängnis, die Odyssee im Viehwagen, Lemberg, Kiew, Charkow, Gorki, Hunger, Durst und Kälte, die Arbeit im Sägewerk der Sondersiedlung Fediakowo hatten Spuren hinterlassen.

(Mensching, Steffen: Schermanns Augen, S. 7)

Die Fragen, die die Herkunft und der Weg Schermanns ins russische Arbeitslager aufwirft, treiben nicht nur die Lagerleitung um. Auch Otto Haferkorn ist von dem polnischen Mitgefangenen fasziniert.

Dieser Otto Haferkorn stammt eigentlich aus Berlin, sitzt aber nun in Artek wegen einer Verurteilung nach Paragraph 58 ein. Als kapitalistischer Spion gebrandmarkt hat er eine ebenfalls eine turbulente und aufwühlende Lebensgeschichte hinter sich. Er dient als Übersetzer in den Verhören Schermanns. Denn als Einziger ist der im ganzen Straflager des Deutschen mächtig und wird so zum Mittler zwischen Lagerleitung und Schermann.

Ein unglaubliches Leben

Es entfaltet sich in der Doppelbiographie von Rafael Schermann auf der einen und Otto Haferkorn auf der anderen Seite ein Bilderbogen, der das 21 Jahrhundert mit all seinen Verwerfungen und Schizophrenien treffend bebildert.

Rafael Schermann bei der Arbeit (Von anonymous/unknown – [1] Narodowe Archiwum Cyfrowe NAC, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18712671)

Während Haferkorn als Schriftsetzer für eine sozialistische Zeitung tätig war, ehe er die Flucht in den Osten antrat, verdingt sich Schermann mit dem Gegenteil der mechanisch erzeugten Schrift. Als Schriftendeuter oder Psychographologe wird er zum bewunderten Star der Gesellschaft, macht die Bekanntschaft aller Reichen und Berühmten, die seine Fähigkeiten bestaunen. Schon als Angestellter einer Versicherung in der böhmischen Provinz gelang es ihm, schier Unglaubliches aus dem Schriftbild seiner Mitmenschen herauszulesen. Familiäre Hintergründe, Beruf, Zukunft – Schermanns Augen bleibt nichts verborgen. Seine Analysen gleichen Hellseherei.

Dieses Talent führt ihn in die Kreise der Wiener Secession. Berlin, sogar Amerika bereist der polnische Sherlock Holmes (so einmal die Schlagzeile einer Zeitung über Rafael Mauritzowisch Schermann). Immer ist er dabei umgeben von den wichtigen und einflussreichen Menschen seiner Zeit.

Einem Zirkuspferd gleich wird Schermann als Attraktion durch die Weltgeschichte gescheucht. Auch die Medizin findet Interesse an seinen Fähigkeit, der Arzt Oskar Fischer publiziert ein Buch über das Phänomen Schermann und seine schriftdeuterischen Fähigkeiten. Doch auch bei Otto bleiben Zweifel – ist dieser Mann nun ein Genie oder ein Hochstapler?

Überleben in Artek II

An seinem neuen Platz im Arbeitslager dient Schermanns Fähigkeit als Faustpfand für das Überleben. Denn im Mikrokosmus des Arbeitslagers, in dem Bäume nach 5-Jahres-Plänen gefällt werden müssen, ist es ein Kunststück, am Leben zu bleiben. Überlebensfeindliche Temperaturen um das Lager herum – und nicht minder gefährliche Mithäftlinge in Artek II. Eindrucksvoll zeigt Mensching, wie die Regeln eines solchen Arbeitslagers wirken. Denn nicht nur die sowjetischen Aufseher führen ein hartes Regiment – auch im Lager selbst hat sich eine ausgeklügelte Hierachie entwickelt. Berufsverbrecher, auch Urki genannt, haben unter der Führung des Lagerpaten ein ebenso brutales wie effizientes System zum Machterhalt entwickelt.

Nicht umsonst leitet Mensching seinen Roman mit einem Zitat Fjodor Dostojewskis ein. Es stammt aus dessen Aufzeichnungen aus einem Totenhaus. Treffender könnten Titel und Zitat auch für Menschings Prosa nicht sein:

Der Mensch ist ein Wesen, das sich an alles gewöhnt; ich glaube das ist die beste Defintion für ihn

(Fjodor Dostojewksi)

Dieses Überleben in Extremsituationen beleuchtet der Berliner Autor eindrucksvoll. Beeindruckend dabei, wie, abwechslungsreich und geradezu bestechend Mensching seine Prosa komponiert und rhythmisiert. Mit größter Sprachmacht durchmisst er sicher all diese unterschiedlichen Milieus, mit denen Haferkorn und Schermann im Laufe ihrer unterschiedlichen Leben in Berührung kommen

800 Seiten voller Abwechslung

Auf über 800 Seiten tritt auf keiner einzigen Seite ein Gefühl von Langeweile oder gar Stillstand auf. Beachtlich, wenn man bedenkt, dass die Rahmenhandlung auf dem beengten Raum des Straflagers 47 spielt. Steffen Mensching gelingt das Kunststück, die Enge und die Atmosphäre voller depravierter Menschen und sozialem Druck zu schildern, und dabei seinen Plot maximal weit und frei zu erzählen. Das ist große Kompositionskunst!

So stilistisch vielfältig, so inhaltlisch vielstimmig ist auch sein Buch. Die Schauplätze reichen von Berlin bis an den Ural, von New York bis Lemberg. Mal ist das Buch ein geradezu barocker Geschichtsbogen in orientaler Tradition, mal trostloser GULAG-Roman. Mal Oral History, mal Märchenbuch. Mal Kultur, mal Politik, mal tief im Osten, dann wieder im Westen. Zudem ist Schermanns Augen auch eine Hymne auf das Schreiben, die Handschrift und all das, was sich damit ausdrücken lässt.

Ein Buch mit hohem Anspruch, allerdings nicht immer einfach zu lesen. Ein Register mit den vielen russischen Termini wäre schön gewesen. Auch erfordert Menschings Eigenart, im ganzen Buch bei den wörtlichen Dialogen auf Anführungszeichen zu verzichten, erhöhte Aufmerksamkeit vom Leser.

Ohne den dichten Buchsatz der Seiten mit Absätzen oder irgendwelchen anderen setzerischen Mitteln aufzulockern entsteht so ein Lesefluss, der keine Ablenkung verzeiht. Dass daneben auch das Personaltableau überbordend ist, scheint auch dem Verlag aufgefallen zu sein. Nicht umsonst liegt dem Buch trotz Leseband noch ein Lesezeichen bei, dass wenigstens das wichtigste Personal von Artek II noch einmal aufführt und ihre Rolle stichpunktartig benennt.

Ein Lob dem Wallstein-Verlag

Vielleicht kann nur ein kleiner unabhängiger Verlag wie der Wallstein-Verlag das Wagnis eines solchen überbordenden Buches eingehen. Im normalen Druchlauferhitzer des Buchmarkts mit den schnell auf Erfolg kalkulierten Titeln dürften Big Player nur abwinken. Zu speziell, zu umfangreich, zu überambitioniert. Gehts nicht auf griffiger und kürzer?

Nein geht es nicht. Hier hat ein Autor seinen Raum bekommen, den er zur maximalen Entfaltung genutzt hat. Der verlegerische Mut, auf Schermanns Augen zu setzen gleicht dem, den Rafael Mauritzowitsch Schermann und sein Übersetzer Otto Haferkorn im Roman immer wieder aufs Neue beweisen. Es sind große Worte, die ich an dieser Stelle gebrauche – aber (natürlich streng subjektiv gesprochen) ein anderer deutschsprachiger Titel diesem Buch Konkurrenz machen kann, halte ich für dieses Jahr nahezu augeschlossen.

Fazit

Dass Schermanns Augen nicht auf der Longlist oder Shortlist des Deutschen Buchpreises 2018 steht, ist ein Skandal. Denn etwas Vergleichbares auf diesem Niveau fand ich in diesem aber auch den letzten Jahren nicht auf dem Buchmarkt. Lob, Ehre und Preise diesem Buch im Dutzend! Ein Herzensbuch, dessen Empfehlung mir hier wirklich ein Anliegen ist. Ein verlegerisches Wagnis, das unbedingt belohnt werden sollte!

 

Quelle des Titelbildes: Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1316062

Diesen Beitrag teilen

David Schalko – Schwere Knochen

Gibt es einen österreichischen Sound in der Literatur? Und wenn ja, wie sieht der aus?

Ich würde sagen – auf alle Fälle ja! Mein sprachliches Bild der Alpennation wurde durch eigensinnige und genau deswegen so gute Autoren wie Thomas Bernhard oder im Speziellen Wolf Haas geprägt, Begeisterung quasi Hilfsbegriff. Die Sprache ist im Österreichischen immer blumiger, origineller und näher am gesprochenen Wort als im Deutschen. So zumindest meine Überlegungen in Bezug auf die Dichtomie von deutscher und österreichischer Sprache.

Wie aber komme ich nun auf ebenjene Fragen? Eigentlich ist es ganz einfach, denn ich war keine zwei Seiten weit im Roman Schwere Knochen von David Schalko fortgeschritten, da wusste ich – hier lese ich das Buch eines Österreichers. Auch ohne den Namen und den biographischen Klappentext des Buches (den ich freilich vorab kannte) war für mich von Anfang an klar: hier schreibt ein Österreicher. Der Sound ist unverwechselbar – was im vorliegenden Fall vor allem durch die Schwäche Schalkos für Eigennamen mit Artikeln erzeugt wird.

So dreht sich das Buch um den Krutzler, genauer gesagt Ferdinand Krutzler, auch der Nothilfe-Krutzler genannt. Mit Freunden bildet er ein im Wien der 30er Jahre eine Bande, die sogenannte Erdberger Spedition. Die Jungen sind Außenseiter und rutschen recht schnell von der halblegalen in die illegale Welt ab. Der Höhepunkt ihrer kriminellen Eskapaden trägt sich dabei just am Tag des Anschlusses von Österreich ans Deutsche Reich zu. Während sich die Alpennation auf dem Heldenplatz sammelt, räumen die Jungs die Wohnung eines Nazi-Kaders komplett aus. Ein echter Husarenstreich der Erdberger Spedition, der die jungen Männer um den Krutzler ins KZ bringt.

Dort tut sich vor allem der Krutzer als wendiger Überlebenskünstler hervor und traktiert und paktiert. Sowohl mit Aufsehern kann der Krutzler, als auch mit den Gefangen, die er auf Linie bringt. Doch das war nur der Anfang, denn nach dem Krieg wird in Wien aufgeräumt, als der Krutzler und seine Erdberger Spedition wieder auf freiem Fuß sind. Schon bald kennt die ganze Wiener Unterwelt den Namen von dem Krutzler – und fürchtet diesen zurecht.

Schwere Knochen ist ein wirkliches Epos. Ein Gangsterroman, ein Wien-Gemälde und ein nachtschwarzer Blick in die österreiche Halbwelt. Das Buch bildet den Abschluss einer Trilogie über die Gier; die beiden vorherigen Stücke sind die TV-Serien Altes Geld und Braunschlag. Dass der Abschluss dieser Trilogie nun als Buch statt als Serie vorliegt hat einen profanen Grund: die Kosten. Die Umsetzung dieses Buchs in einen Film wäre doch kostensprengend. Schließlich zeichnet Schalko über dreißig Jahre österreichische Geschichte nach,  blickt ins KZ und verschiedene Wiener Kneipen und schafft eine Art opulenten Wiener Paten.

Dies tut er mit einem bitterbösen Blick und einem Humor, der manchmal schon schwer an der Grenze des Erträglichen ist. Besonders hart neben der omnipräsenten Gewalt und den fragil-explosiven Figuren nehmen sich die Szenen im KZ aus. Wie hier über das Leid und das Morden geschrieben wird, das ist harter Tobak. Kaum erträglich, wenn man von Zebras liest und Schalko seinen Protagonisten nicht einmal ihre Würde lässt. Hier steht die Literatur der Realität in nichts nach – besonders erschütternd in Zeiten, in den österreichische Innenminister wieder davon sprechen, Flüchtlinge „konzentriert unterbringen“ zu wollen.

 

Schwere Knochen ist ein im Besten Sinne „österreichisches“ Buch. Grotesk, nachtschwarz, manchmal kaum erträglich und hinterfotzig.

Diesen Beitrag teilen

Stefan Zweig – Die Welt von gestern

Man sollte mehr Stefan Zweig lesen. Diese Erkenntnis hat sich für mich nach der Lektüre von Zweigs Autobiographie Die Welt von gestern – Erinnerungen eines Europäers noch einmal verfestigt. Durfte ich bereits Zweigs Miniaturen Sternstunden der Menschheit in der kommentierten Salzburger Ausgabe lesen, widmete ich mich nun den im Exil entstandenen Erinnerungen des Österreichers. Bei der Ausgabe, die mir hierbei vorlag, handelt es sich um die von Oliver Matuschek kommentierte Fassung, erschienen im S.Fischer-Verlag. Mit 704 Seiten enthält sie über 230 Seiten Anmerkungen, Fußnoten und Hintergrundinformationen zu der Entstehungsgeschichte der einzelnen Kapitel sowie Fotografien und graphische Abbildungen.

Ohne Nachschlagewerke oder ein persönliches Archiv fertigte der 1881 in Wien geborene Schriftsteller seine Lebenserinnerungen an, wie er schon im Vorwort seines Buches betont. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten und der folgende Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich 1938 hatten den Schriftsteller dazu bewogen, seine Heimat in Salzburg zu verlassen. Fortan lebte er unstet, ging erst nach England, um dann über New York, Argentinien und Paraguy bis nach Brasilien zu emigrieren, wo er sich 1942 in Petropolis zusammen mit seiner Frau Lotte das Leben nahm. Posthum erschienen seine Erinnerungen an jene Welt von gestern, die er hinter sich ließ beziehungsweise lassen musste. Seine Bücher, seine gesammelten Autographen und Erinnerungen blieben umzugsbedingt zurück, am Ende behielt Zweig nur seine Erinnerungen, die er auf Papier bannte und die einen präzisen Weg Europas vom 19. Jahrhundert bis in die Zeit des Nationalsozialismus nachzeichnen.

Flucht ins Exil

Seine Erinnerungen umfassen dabei Persönliches genauso wie Politisches, Soziologisches und Begegnungen mit anderen Größen seiner Zeit. In einer wunderbaren, nicht antiquiert zu nennenden Sprache schildert er ausgehend von seinen Jugenderinnerungen und seiner Gymnasialzeit seinen Werdegang. Er zeichnet dabei seine Karriere als Schriftsteller nach, die ihn auf dem Höhepunkt seines schriftstellerischen Erfolgs zu einem der meistgelesenen und übersetzten Schrifsteller der Welt werden ließ. Dies änderte sich, als die Nationalsozialisten ihn vom Buchmarkt tilgen ließen, da Zweig trotz seines literarischen Renommees als Jude alles andere als wohlgelitten war. Paradoxerweise sorgten die Nazis selbst aber auch für einen Erfolg des Schriftstellers: als dieser das Libretto für die Oper Die schweigsame Frau von Richard Strauss verfasste, wurde noch einmal ein Werk des Autoren zugelassen, ehe Zweig anschließend zur geächteten Person wurde.

Die Begegnungen mit Richard Strauss finden im Buch genauso ihren ausführlichen Platz wie die die Kontakte mit den Weggefährten wie Hugo von Hoffmannsthal, Rainer Maria Rilke, Romain Rolland oder Émile Verhaeren. Allen diesen Dichtern und Denkern widmet Zweig Vignetten, mal schwärmerische, mal verhaltenere Zeilen. Dabei gelingt es ihm, einen wirklichen europäischen Blick auf die Kulturlandschaft zu entwickeln, seine Übersetzungen und Reisen machen ihn zu einem weltoffenen und interessierten Menschen, der die Leser seiner Autobiographie an diesem kosmopolitischen Blick teilhaben lässt. Stark tritt in den Kapiteln (insbesondere in denen über den Ersten Weltkrieg) Zweigs Überzeugung von der Idee Europas in den Vordergrund. Seine Absagen an nationale Kraftmeiereien und den nach dem Kriegsende erblühenden Revanchismus sind deutlich und besitzen auch 75 Jahre nach dem Erscheinen seiner Erinnerungen große Aktualität und Richtigkeit.

Eindringliche Erfahrungen

Auch insgesamt betrachtet bleibt Zweigs Schaffen von großer Bedeutung, seine Themen sind universell und lesen sich frisch. Wie guter Geschichtsunterricht entfalten sich Zweigs chronologischen Schilderungen und bleiben fesselnd und eindringlich, obwohl die Geschehnisse eigentlich ja bekannt sind. Dabei spart Zweig bei aller Persönlichkeit, die durch die Form der Autobiographie bedingt ist, auch bestimmte Themen aus. Er interessiert sich eher für die geschichtlichen Zusammenhänge und sein künstlerisches Schaffen, denn für so etwas Privates wie die Liebe. Zweigs Beziehungen finden in der Welt von gestern eigentlich nicht statt.

Den von ihm gewählten Ansatz und seine entwickelten Erinnerungsbögen finde ich, um dies nun abschließend noch einmal aufzugreifen, wirklich wunderbar und – ja, ich bemühe das Wort – meisterhaft. Eine Autobiographie, die die Zeit überstehen wird und ein wahrer Klassiker ist. Frisch, eindringlich und fabelhaft geschrieben gehört sie immer wieder gelesen.

Auch Oliver Matuschek hat am Gelingen der vorliegenden Ausgabe natürlich einen immanenten Anteil, schließlich liefert er einen erhellenden Anmerkungsapparat, der Zweigs Erinnerungen noch einmal vertieft. Mit zahlreichen Fußnoten arbeitet er die Verweise in Zweigs Werk heraus, ergänzt durch konkrete Informationen auf dem neuesten Stand der Zweig-Forschung und rundet so das Leseerlebnis ab. Einzig etwas schade, dass beide Textkorpusse völlig unverbunden nebeneinander stehen. So muss man stets vom Anmerkungsapparat zu Zweigs Erinnerungen springen und umgekehrt. Alleine aus dem Text des Österreichers wird durch die Nicht-Verwendung von Fußnoten nicht ersichtlich, an welchen Passagen Kommentierungen erfolgten. So muss man immer etwas blättern oder auf Verdacht zu Matuscheks Erläuterungen springen in der Hoffnung, die vorliegende Stelle sei eine kommentierte. Hier hätten Einmerkungen im Text für mehr Klarheit sorgen und Brücken bauen können (wenngleich sie natürlich im Lesefluss irritieren können, aber ich lese hier ja bewusst eine kommentierte und keine reine Text-Ausgabe).

Ansonsten aber von diesen kleinen Anmerkungen abgesehen ist die Konzeptionierung dieser Ausgabe absolut stimmig und zeitlos. Es bleibt nur zu hoffen, dass Zweigs Erinnerungen immer wieder neu gelesen und bedacht werden – mit dieser kommentierten Ausgabe wird hierzu ein großer Schritt getan!


Bildrechte Titelbild: Andreas Maislinger – http://www.gedenkdienst.org/deutsch/stellen/stelle34.php4, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11224860

Diesen Beitrag teilen