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Heinrich Mann – Der Untertan

Er ist wohl DER Urtyp für den Menschenschlag „Radfahrer“ – nach oben buckeln und nach unten treten. Die Rede ist von Diederich Heßling, den Mann in seinem wohl bekanntesten Werk Der Untertan ersann. Nun lässt er sich gleich in zwei Fassungen aus dem Reclam-Verlag noch einmal neu entdecken.


Da wäre zum Einen die neugestaltete Ausgabe in der Reihe der Reclam-Klassiker, die mit ansprechenden Design daherkommt und Lust auf eine erneute Lektüre macht. Darin begegnet man dem schon auf dem Cover großartig vorweggenommenen dumpfen Untertanengeist, sturer Mentalität und preußischer Militärbegeisterung, die in Diederich Heßling geweckt wird, als er dem Kaiser Wilhelm bei einer Parade in Berlin Unter den Linden begegnet (stets wird er ihn in der Folge als „originellen Denker“ und „persönliche Persönlichkeit“ rühmen und preis).

Ein Untertan macht Karriere

Mit seiner eigenen Militärkarriere hingegen ist es nicht weit her, schon nach ein paar Tagen bei der Truppe scheidet er ausgemustert wieder aus. Fortan wird diese Episode ein Makel in Heßlings Biografie sein, den er mit einer umso eifrigeren Mitgliedschaft in einer schlagenden Verbindung auszugleichen versucht. Er agitiert, schneidet auf, übernimmt die Papierfabrik seines Vaters, poltert und tobt durch das fiktive Städtchen Netzig, macht unterschiedlichen Frauen den Hof und ist sich bei allem stets der nächste.

Heinrich Mann - Der Untertan (Cover)

Die sozialdemokratischen Umtriebe im Städtchen und in seiner eigenen Fabrik beobachtet er mit Abscheu, ist sich später aber nicht zu schade, um für die Durchsetzung der eigenen Interessen mit seinem verhassten Arbeiter Napoleon Fischer zu paktieren.

Lustvoll beschreibt Heinrich Mann diesen einerseits duckmäuserischen, andereseits an ein Rumpelstilzchen erinnernden Heßling, der der Obrigkeit gegenüber höchst devot ist und seine Kaisertreue stets laut herausposaunt. Das führt zu großartigen Szenen wie einem aufsehenerregenden Prozess um die Niederschießung eines revolutionär gestimmten Arbeiters, der von einem alten Richter geleitet wird, der Heßling an einen wurmigen Adler erinnert und in dessen Verlauf es im Gerichtssaal turbulent hergeht.

Überhaupt, die hochkomische Beschreibungskraft bierdunstgesättigter nächtlicher Sitzungen in Kaschemmen, die bei Heinrich Mann Brüllwettbewerben auf einem Pavianhügel gleichen. Oder der Besuch des heißgeliebten Kaisers in Rom, der hier zu einer Art Hase und Igel-Spiel zwischen dem Monarchen und Diederich Heßling wird, der seinem Kaiser stets nachrennt und nachreist.

Der Untertan als Taschenbuch und als illustrierter Roman

Der Untertan ist von einer ebenso großartigen Komik wie von einer zeitdiagnostischen Schärfe, die in Heßlings Untertanengeist, seinem Berserkertum und seiner Verehrung der politischen Führung später ja in die Katastrophe zweier Weltkriege mündete. Wie er sich anbiedert, sein ganzes Denken und seine Verehrung nach dem Kaiser ausrichtet und wie er diesem in seinem Gehorsam blind folgt, das zeigt Heßling als Teil jener Masse, die bis heute immer wieder Diktaturen und populistische Führungsfiguren ermöglichte, indem sie sich beständig nach Stärke und Führung sehnte und ihrem Obrigkeitsgehorsam

Heinrich Mann - Der Untertan (Cover)

In der eleganten Neugestaltung des Taschenbuchs (wie überhaupt das ganze Reihe von Klassikerneuausgaben, die gerade bei Reclam erscheinen) lässt sich all das vielfach facettiert nachlesen und erleben. Auch 108 Jahre nach Erscheinen überzeugt das Buch durch einen genauen psychologischen Blick Manns auf seinen Anti-Helden.

Aber auch in der zweiten Variante aus dem Reclam-Verlag wird diese Qualität offenbar, hier wird sie zusätzlich noch durch die graphische Gestaltung gestützt und angereichert.

Für diese Gestaltung zeichnet sich Arne Jysch kenntlich. Der 1973 geborene Illustrator bewies sein Talent für die Adaption von literarischen Vorlagen mit seiner Umsetzung des Bestsellers Der nasse Fisch von Volker Kutscher im Carlsen-Verlag.

Mit seinen Illustrationen lässt er das Tun und Treiben in Netzig lebendig werden, hier etwa die Szene zur Einweihung des kaiserlichen Reiterstandbilds, für das sich Heßling eingesetzt hat, dessen Enthüllung aber im Fiasko enden wird. Daneben dann Szenen einer Ehe zwischen Guste Daimchen und ihrem Mann Diederich:

Bildquelle: Reclam-Verlag

In seinen Schwarz-Weiß-Zeichnung werden die Figuren in ihrer Abgefeimtheit und manchmal auch recht platten Denkweise lebendig. Zudem ist der Mitteleinsatz von Arne Jysch reduziert und drängt die eigentliche Lektüre nicht in den Hintergrund, sondern unterstützt diese mit seinen pointierten Zeichnungen. Immer wieder tauchen Illustrationen aus Heßlings Leben auf, allerdings schön über das Buch verteilt und nicht omnipräsent.

Gerade auch für eine Schullektüre wäre diese Variante reizvoll, kann der Schulstoff doch auf den reinen Text reduziert für den einen oder die andere LeserIn schnell dröge werden und sich der Humor Manns nicht wirklich vermitteln. In der graphischen Adaption gewinnt das Buch aber deutlich und drängt auch die eigene Lesefantasie nicht allzu weit zurück, sodass für eine eigene Interpretation der Szenen auch immer noch Platz bleibt und Raum für Diskussionen ermöglicht (wenn der Preis für Schulklassen nicht doch etwas arg exorbitant wäre).

Fazit

So sind zwei neue Zugänge zu Heinrich Manns Der Untertan geschaffen, die zu einer Lektüre einladen und die in den jeweiligen Versionen mit Zeittafeln und weiterführenden Infos die Lektüre ergänzen. Es lohnt sich, Diederich Heßlings Leben noch einmal eine Chance zu geben, selbst wenn man zu Schulzeiten wenig mit diesem Werk anfangen konnte, ist es doch zurecht ein Klassiker, der über seinen eigentlichen Bezugsrahmen weit hinaus weist und bei aller Abscheu über den Opportunisten Heßling auch die Komik nicht vergisst.


  • Thomas Mann – Der Untertan
  • Textausgabe:
  • ISBN 978-3-15-020665-2 (Reclam)
  • 470 Seiten. Preis: 10,00 €
  • Illustrierte Ausgabe:
  • 978-3-15-011326-4 (Reclam)
  • 494 Seiten. Preis: 36,00 €
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Thomas Willmann – Der eiserne Marquis

Zehn Jahre. So lange hat Thomas Willmann nach seinem Sensationsdebüt Das finstere Tal nichts mehr von sich hören lassen. Nun ist er zurück und legt mit Der eiserne Marquis einen innerlich wie äußerlich wuchtigen Roman vor, angesiedelt irgendwo zwischen sprachlichem Barock, Opulenz, Horror und Frankenstein-Neuinterpretation, der von der alten Sehnsucht erzählt, die eigenen Grenzen mithilfe der Technik zu überwinden.


Es ist die erste Begegnung mit dem Stahl eines Messers, die im Erzähler von Thomas Willmanns zweitem Roman die Faszination für alles Metallene und Mechanische weckt. So erzählt er in Form einer Beichte von jenem Zeitpunkt, als einst ein Messer in den Bauch seiner Mutter drang, um ihn per Kaiserschnitt auf die Welt zu befördern. Der Urgrund jener Faszination war gelegt, die ihn zeitlebens nicht mehr loslassen soll und die ihn in letzter Konsequenz in jene deprivierte Lage bringt, aus der heraus er in einem Kerker seine Lebensbeichte vor ein paar Ratten ablegt.

Ja, vor euch sitzt ein Mörder – und leugnet es nicht. Oder, genauer, denn lasst mich nicht jetzt schon wortbrüchig werden und halbe Wahrheit nur auftischen: Vor euch sitzt einer, der zwei Leben hatte. Und im ersten davon zum Mörder ward. Der aber – und drum gesteh ich’s frei, ohne mich um Eure Verdammnis oder Absolution zu scheren – in seinem weiten die Buße auch tat. Dem in seinem zweiten Leben dann alles genommen, gemordet ward. Dass er nun nichts mehr zu verlieren hat, nichts mehr zu erwarten.

Also kommt her, wenn Ihr mögt, und hört mich an. Lasst Euch nieder auf dem speckigen Stein, oder scharrt Euch ein genehmes Plätzlein, im Staub, da vor mir.

Kommt her, meine Ratten und lauscht.

Ich will euch meine Geschichte erzählen.

Thomas Willmann – Der eiserne Marquis, S. 8

Dieses Leben, in dem der Erzähler zum Mörder wurde, sich neu erfand, um schlussendlich als Beichtender vor den Ratten im Kerker zu enden, Willmann erzählt es als groß angelegten Bilderbogen und Sprachrausch, der sich, ganz wie es der Erzähler in seinen vorausgeschickten Worten ankündigt, in zwei Teile stellvertretend für die zwei Leben aufteilt.

Aus der Provinz in die Kaiserstadt

Dieses Leben führt ihn im Jahr 1753 aus der Provinz nach Wien, wo er auf Initiative seines Oheims zum Lehrling eines Uhrmachers wird. Die Uhrmacherei, ihre filigrane Mechanik und die Technik faszinieren ihn ja schon seit der ersten Episode mit dem Messer, die er uns zu Beginn präsentiert. Erfüllung fand er im kleinen Dörfchen in K— an der T—- aber nicht. Dort gingen die Uhren noch sprichwörtlich anders, waren es doch „ungeschlachte Instrumente, die man hier baute, ihr Werk mit den derb-eckigen Holzzähnen offen entblößt im unverkleideten Eisenrahmen: In grobe Stundenbrocken und Minutenfetzen hackten und rissen sie Gottes ungeteilte Zeit mit hinkenden Ticken.“ (S. 25).

Thomas Willmann - Der eiserne Marquis (Cover)

In Wien hingegen findet er bei einem geduldigen Uhrmacher und dessen Frau Aufnahme. Während er sich in seiner Freizeit mit der Anfertigung von filigranen Spielereien und Versuchen beschäftigt, fasziniert ihn auch das Leben in der Kaiserstadt, das so viel schneller, lauter und bunter ist als jenes in der Provinz, der er entstammt. Nicht nur technische Verfeinerung seiner Fertigkeiten erfährt er dort in Wien, auch die Liebe findet er dort – allerdings in Form eines mehr als deutlichen Klassenunterschieds.

So entflammt er für Amalia, die Tochter eines Grafen aus dem Umfeld des Königshofs. Obwohl diese Liebe natürlich nicht sein darf, finden die beiden jungen Menschen Mittel und Wege, um sich für diverse Rendezvous zu treffen und zu begegnen.

Doch wie es klassischerweise mit einer solchen nicht standesgemäßen Liebe im historischen Roman ein Ende nimmt, so auch hier. Die Amour fou endet in einer Katastrophe und der Erzähler erfindet sich als „Jacob Kainer“ neu. Nach einer Episode als Eremit und Soldat im Dienst des Königs von Preußen macht er nach einer Kriegsverwundung auf dem Krankenlager die Bekanntschaft mit einem französischen Marquis, dem das Talent des Erzählers für alles Technische sowie dessen Faszination fürs Filigrane nicht verborgen bleibt.

Der eiserne Marquis als Bruder Frankensteins

Jenes zweite Leben wird zu einem, das man als einer Art französischer Variante von Mary Shelleys unsterblichen Klassiker Frankenstein oder Der moderne Prometheus lesen könnte. Denn wie einst Götz von Berlichingen, als der sich der Marquis auf einem rauschenden Ball einmal passend verkleidet, weist auch der französische Adelige eine Prothese anstelle seines Arms auf. Bei dieser handelt es sich allerdings um eine ungleich feinere und durchdachtere Variante, für die der Marquis Ersatz benötigt. Denn sein Arm verfällt immer mehr und schneller – und nun soll ihm der Erzähler eine neue hochfunktionale Hand aus Eisen anfertigen.

Doch das technische Projekt wächst sich bald zu einem aus, das schon bald keine Grenzen mehr kennt. So ist der mechanische Arm nur der Anfang, denn schon bald reißen der Marquis, sein Victor Frankenstein Jacob plus der Gehilfe Mael in ihrem Streben nach technischer Vervollkommnung und Überwindung des Todes sämtliche ethische Barrieren nieder.

Der eiserne Marquis erzählt vom Vertrauen auf die Technik als Lösung aller irdischen Unzulänglichkeiten. Wandelt Willmann in der ersten Hälfte des Romans noch auf recht klassischen (um nicht zu sagen hinlänglich bekannten) Pfaden in Sachen Bildungsroman und Liebe gegen alle zeithistorischen Widerstände, so schält sich in der eindrucksvolleren zweiten Hälfte des Buchs die Technologiegläubigkeit als großes Thema heraus, dem der Erzähler und der Marquis verfallen sind.

Ein historischer Roman mit Anleihen der Horrorliteratur

Da werden seltene Zitteraale importiert (die man aus den Beschreibungen Alexander von Humboldts kennt), Experimente an Mensch und Tier durchgeführt, die mesmerisierend Vorrichtungen und damit frühe Vorläufer der Elektrik getestet. In ihrem Drang nach Erkenntnis und Überwindung der menschlichen Beschränkungen in Sachen körperlicher Fähigkeiten und Sterblichkeit kennen die Beteiligten kein Einhalten mehr. Damit positioniert Willmann seinen eisernen Marquis sowohl inhaltlich als auch zeitlich zu als einen frühen Vorläufer der Horrorliteratur, der in Verwandtschaft zu Klassikern des Genres wie Mary Shelleys Frankenstein oder E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann steht.

Was im ersten Teil noch etwas handelsüblich und im zweiten dann zunehmend spannend wird, ist auch in seiner ganzen erzählerischen Anlage als rückschauende Lebensbeichte ebenfalls recht konventionell angelegt. Somit wäre das Ganze eigentlich ein historischer (Schauer-)Roman, wie man ihn in Ansätzen schon kennt – wäre da nicht diese Sprache, die Der eiserne Marquis weiter über das Gros ähnlicher Bücher hinaushebt und die auch Assoziationen zu Patrick Süskinds Das Parfum weckt.

Willmann gelingt es, über die ganze Lauflänge von über 900 Seiten einen geradezu barocken Sprachstil an den Tag zu legen, den er bravourös durchhält. Sprachburlesk sind die Schilderungen, die durch die literarische Veredelung Willmanns im zeittypischen Sound aus dem Rahmen fallen. Hier nähert sich ein Autor mit stimmigen Sprachmitteln der beschriebenen Zeit an, geht mit seinen im Roman verhandelten Themen aber auch weit über die Zeit des 18. Jahrhunderts hinaus.

Fazit

Die Fragen nach Potentialen und Grenzen der Technik, das Streben nach immer mehr Erkenntnis und technischer Abhängigkeit, das alles scheint hinter dem eisernen Marquis und dessen Streben deutlich auf. Sprachlich klar im 18. Jahrhundert verhaftet, gelingt Willmann ein ebenso unterhaltsamer wie nachdenklich machender Beitrag über Wissenschaftsgläubigkeit, Fanatismus und menschliche Hybris.

Das hätte dieses literarisch ambitionierte Werke auch durchaus zu einem würdigen Kandidaten für die Longlist des Deutschen Buchpreises gemacht – es bleibt nun nur zu hoffen, dass sich Willmanns zweiter Streich trotz der herausfordernden Länge zu einem ebensolchen Überraschungshit entwickelt, wie es Das finstere Tal vergönnt war.

Weitere Meinungen zu Willmanns barockem Sprachrausch gibt es auch bei Bookster HRO.


  • Thomas Willmann – Der eiserne Marquis
  • ISBN 978-3-95438-165-4 (Liebeskind)
  • 928 Seiten. Preis: 36,00 €
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Sebastian Guhr – Chamissimo

Adelbert von Chamisso – war da nicht etwas? Vielleicht entsinnt sich manch einer noch des bekanntesten Werks des 1781 geborenen Autors, nämlich Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Vielleicht kramt man aus der Tiefe des eigenen Erinnerns noch den Adelbert von Chamisso-Preis hervor, der bis 2017 an Autor*innen nichtdeutscher Sprachherkunft verliehen wurde, etwa an Esther Kinsky oder Abbas Khider. Damit dürfte es dann aber alles gewesen sein, was man als durchschnittlich gebildeter Nicht-Germanist zu Chamisso beitragen kann.

Was für ein spannendes Leben Adelbert von Chamisso tatsächlich geführt hat, das zeigt der Berliner Autor Sebastian Guhr in seiner Romanbiografie Chamissimo, in der Fantasie und Wirklichkeit verschwimmen, ganz wie im Schaffen von Chamisso selbst.


Unstetigkeit, sie war Adelbert von Chamisso schon von Kindesbeinen an vertraut. So musste die Familie im Jahre 1971 vor den anrückenden napoleonischen Aufständischen aus ihrem Schloss in Frankreich fliehen. Chamisso kam nach Bayreuth und fand Anschluss am preußischen Hof, an dem er trotz Romanzen und Freundschaftsbünden mit Männern wie Eduard Hitzig oder Karl August Varnhagen (dem später Mann von Rahel Varnhagen), Außenseiter blieb.

Sebastian Guhr - Chamissimo (Cover)

Zwar nahm Chamisso am höfischen Leben teil, verliebte sich und trat 1798 als Kadett dem Infanterieregiment Ferdinand von Goetzes ein und versuchte sich als preußischer Soldat – so recht wollte dieses Leben aber nicht zu ihm passen.

Er lernte im Rahmen von Salons Berühmtheiten seiner Zeit kennen, darunter Wilhelm Humboldt, Ludwig „Turnvater“ Jahn oder E.T.A. Hoffmann, das Rezept für ein gelingendes Leben lieferten sie ihm aber alle nicht. Seine Schreibversuche blieben in der Welt zwischen Frankreich und Deutschland beschränkt – und erst die (imaginierte?) Episode der Begegnung Chamissos mit einem Mann, der ihn um seinen Schatten ersuchte, brachte die Wende im Leben des unsteten Poeten.

Trotz gegenteiliger Anweisung veröffentlichte ein Freund Chamissos die Erzählung des gestohlenen Schattens als Peter Schlehmils wundersame Geschichte – die fortan für Ruhm und Ehre sorgte. Doch auch dieser erzählerische Durchbruch sorgte nicht für Konstanz – und Chamisso heuerte an Bord des russischen Schiffs Rurik unter Leitung des Kapitäns Otto von Kotzebue als Titulargelehrter einer Expedition an, die ihn bis nach Brasilien, den Nordpol und Kamtschatka bringen sollte.

Dort wird er zum Robinson, entdeckt auf der Reise neue Algenarten – und doch bleibt die Unstetigkeit auch dort in seinem Leben ein treuer Begleiter.

Voller Zeit- und Literaturgeschichte

Adelbert von Chamisso - Porträt
Adelbert von Chamisso

Chamissimo ist ein Werk, das von Zeit- und Literaturgeschichte durchzogen ist. Seit den Kindertagen Chamissos, als er mit der Familie vor Napoleons Aufständischen fliehen muss, ist der korsische General ein Wegbegleiter, dessen Treiben immer wieder Auswirkungen auf Chamisso haben wird. Entzweigerissen zwischen seinem Herkunftsland und seiner neuen Heimat wird Chamisso ein unangepasster Mensch bleiben, der zwischen Frankreich, Preußen und Russland hin und hermäandert und nicht zur Ruhe kommt, weder geographisch noch psychisch.

Genauso unklar wie seine wirkliche Heimat und Identität ist auch sein Schreiben, dass durch die Begegnungen mit vielen Schriftstellerinnen geprägt wurde und das sich irgendwo zwischen Klassik (Jean Paul), Vormärz (Kotzebue), dunkle Romantik (E.T.A. Hoffmann) und der hellen Seite der Romantik verortet.

Schön, dass sich Sebastian Guhr hier entscheidet, die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion zu verwischen, indem er Chamissos erfolgreichstes Werk Peter Schlemihl auch auf Chamissos Leben selbst überträgt.

Ihm gelingt eine gut geschriebene und ebenso gut lesbare Romanbiographie, die in ihren Grundzügen etwas an Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt oder an die Pfaueninsel von Thomas Hettche erinnert. Sehr zugänglich und mit dem kleinen literarischen Twist der Vermengung von Fakt und Fiktion ist ihm so ein Buch gelungen, das durchaus empfehlenswert ist.

Fazit

Mit der bewegten Lebensgeschichte von Adelbert von Chamisso hat Guhr ein ergiebiges Ausgangsmaterial gefunden, das unter seinen Händen zu einem gut lesbaren Roman wird, der Lust macht, sich auch mit den Werken von Chamissos eingehender zu beschäftigen. Bravissimo für Chamissimo!


  • Sebastian Guhr – Chamissimo
  • ISBN 978-3-7374-1199-8 (S. Marix-Verlag)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
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Christian Torkler – Der Platz an der Sonne

In diesem Bücherherbst ist es noch nicht so oft vorgekommen, dass sich Sprache, Botschaft und Inhalt eines deutschsprachigen Romans auf eine derartig großartige Art und Weise vermengt haben. Umso verblüffender, dass dieses Stück Literatur ein Debüt ist. Geschrieben hat es Christian Torkler und es hört auf den Namen Der Platz an der Sonne.

Auf der Flucht nach Afrika

Torklers Grundidee ist dabei bestechend und macht das Buch zur Pflichtlektüre unserer Tage. Denn er dreht die Fluchtbewegung von Afrika ins wirtschaftlich so prosperierende Europa einfach um. Bei ihm zieht es nun die Deutschen nach Afrika, so auch den Ich-Erzähler Josua Brenner, der sich auf eine unglaubliche Odysee hin zu seinem eigenen Platz an der Sonne macht.

Denn jenen Platz an der Sonne, den Bernhard von Bülow noch 1897 für das aufstrebende Deutsche Kaiserreich forderte, den hat Deutschland in Torklers Buch nicht bekommen. Stattdessen liegt Deutschland im Jahr 1978 in Kleinstaaten zersplittert danieder. Brenner lebt in der Preußischen Republik, die von  großer Armut, einer desolaten Infrastruktur und wild wuchernder Bürokratie gekennzeichnet ist. Mögen auch die Machthaber und ihre Wahlparolen wechseln, die Grundübel einer Nation im Niedergang bleibt. Und so beschließt Brenner, sich auf den Weg ins Gelobte Land zu machen, das hier der Afrikanische Kontinent ist

Nach der klassischen Einführung (Mann legt Beichte ab, die ihn in diese Situation gebracht hat, wir erfahren nach und nach seine Geschichte) formuliert Torkler eine wild wuchernde und überbordende Geschichte. Diese ist genauso eine alternative Geschichtsschreibung wie eine klassische Odyssee. Torkler formuliert einen fantastischen Bilderbogen, mitreißend und nachdenklich stimmend.

Für seinen Ich-Erzähler Josua Brenner findet er genau den richtigen Ton, genauso wie für alle anderen Menschen, denen er begegnet. Dass ein Debütant derart vielgestaltig und -sprachig zu erzählen weiß, das überrascht positiv und nimmt mich noch mehr für das Buch ein.

Ein anderer Blick

Hier zeigt sich wieder einmal was Literatur in ihrem besten Sinne kann. Sie lässt uns unsere Weltbilder hinterfragen, schürt Empathie und unterhält dabei auch noch auf das Beste. Wer Der Platz an der Sonne gelesen hat, der sieht neu auf Fluchtbewegungen und bekommt auch einen neuen Blick auf den Komplex Flucht. Gerade in Zeiten, in denen Diskurse vergiftet, Positionen verschoben und Mitgefühl als Schwäche verleugnet werden, rückt dieses Buch wieder vieles gerade.

Für mich ist Der Platz an der Sonne das Buch der Stunde, die Antwort auf alles fremdenfeindliche Geblöke und eine geistige Kur für alle, die von Wohlstandsflüchtlingen und Ähnlichem schwafeln. Eines der literarischen Highlights dieser Saison. Bitte lesen – danke!

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Michael Roes – Zeithain

Nach Norman Ohlers Buch Die Gleichung des Lebens ist Michael RoesZeithain bereits der zweite Roman in diesem Bücherherbst, der sich mit Friedrich II. von Preußen und dessen Beziehung zu Hans Hermann von Katte befasst. Dabei gelingt Roes ein eindringliches Katte-Porträt, eine Studie über Väter und ihre Söhne sowie eine Reise zu den Grundpfeilern des Mythos Preußen.

Ausgangspunkt ist Hans Hermann von Katte, der mutterlos in einem Haushalt ohne Liebe oder Fürsorge aufwächst. Seinem Vater Hans Heinrich von Katte gilt als preußischem Landjunker die strenge Disziplin als das höchste Gut; Hauslehrer, die zu liberal oder freigeistig sind, werden von Kattes Vater schneller entlassen, als ihnen lieb ist. Als Stein des Anstoßes genügt da schon, dass Katte senior zugetragen wird, sein Sohn würde in den schönen Künsten gelehrt wird. In diesem indoktrinierten und regelstarren Milieu wächst Hans Hermann von Katte heran und schafft es dennoch, sich einen Willen zur Selbstbehauptung zu bewahren.

Das Leben des Hans Hermann von Katte

Vom Aufwachsen in Wust ausgehend schreibt sich Roes chronologisch durch Kattes Leben, einem Aufenthalt im pietistischen Francke’schen Collegium zu Glaucha folgt dann die historisch verbürgte Kavaliersreise Kattes, ehe er den Eintritt des jungen Mannes in das preußische Heer beschreibt. Generell ist die historische Genauigkeit zu loben, mit der Roes seinen Roman versieht. Roes füllt die Eckdaten und bekannten Fakten aus dem Leben Kattes weiterhin mit einem erzählerischen Kniff. Er erfindet den Erzähler Philipp Stanhope, ein illegitimen englischen Sproß, der auf einer Seitenlinie mit dem preußischen Königshaus verwandt ist. Jener imaginiert sich in die historischen Begebenheiten hinein und wird dadurch zum Ich-Erzähler Katte. Angereichert wird das Ganze durch eine von Dissoziation und Psychosen (so zumindest meine Deutung) gekennzeichnete Rahmenhandlung, in der Stanhope die Lebensstationen von Katte noch einmal bereist. Von Glaucha über Köthen bis nach Kaliningrad, London und abschließend Küstrin führt Stanhopes Reise, die auch immer wieder von fiktiven Briefen Hans Hermann von Kattes unterbrochen wird.

In Küstrin endet dann Roes fiktionalisierte Katte-Biografie mit jenem Ereignis, das an Dramatik kaum zu überbieten ist. Im Heer verbindet Katte mit dem jungen Königssprößling Friedrich II. eine innige Freundschaft, deren Grenze zu Liebe überschritten wird. Friedrich, der unter seinem ebenfalls unmenschlich agierendem Vater, dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm, leiden musste, beschließt zu fliehen. Hans Hermann von Katte sollte ihm auf der Flucht beistehen – doch der Plan scheiterte. Beide werden festgesetzt und Katte wird in Festungshaft genommen. Als Erziehungsmaßnahme für den jungen Thronfolger beschließt Friedrich Wilhelm, Katte vor den Augen Friedrich Wilhelm II. mit dem Schwert hinrichten zu lassen.

Eine geheime Zuneigung – und eine Hinrichtung

Hans Hermann von Katte

Einen solchen Stoff kann man sich als Schriftsteller ja nur wünschen. Die Lebensgeschichte Kattes und sein Schicksal sind ein Geschenk in Sachen Dramatik und Eindringlichkeit. Schon Theodor Fontane, dessen Zitat aus den Wanderungen durch die Mark Brandenburg vorangestellt ist, begreift die Katte-Geschichte als zentrales Motiv im Mythos Preußen. Und tatsächlich gelingt es Roes glaubhaft, diesen Mythos auch durch die Leben von Katte und Friedrich II. zu begründen. Er zeigt in gelungenen Spiegelungen die Folgen von Härte und Unbarmherzigkeit in der väterlichen Erziehung und enttarnt starre Regeln wie etwa die Preußischen Tugenden als ein Joch, das junge Männer bricht und im Zusammenspiel mit Militarismus eine fatale Dynamik entwickelt.

Die Zeichnung der gegenläufigen und doch so ähnlichen Männern gelingt Roes genauso bravourös wie die Beschreibungen ihres Kampfes um Souveränität und Selbstbehauptung. Bei anderen Schilderungen gehen die Pferde dann doch etwas mit ihm durch, gerade was die wilden psychotischen Schilderungen von Stanhopes Eskapaden betrifft. So wohnt dieser etwa im nächtlichen Berliner Tiergarten der Geburt von Kojotenjungen bei, die dann im Lauf der Geschichte zu Engeln werden. Hier hätte eine Reduktion derartiger Fantastereien zugunsten der Katte-Biographie Not getan.

Stark sind die Binnenepisoden immer dann, wenn Stanhope zu den Schauplätzen aus Kattes Biografie reist und seine Eindrücke der Städte schildert. Egal ob Kaliningrad oder Köthen, die Diskrepanz zwischen dem Glamour des 18. Jahrhunderts und der Gegenwart ist frappant und wird von Roes gut herausgearbeitet. Schilderungen wie die etwa oben erwähnte Kojoten-Episode oder Nachtszenen hingegen fallen angesichts des insgesamt hohen Niveaus bedauerlicherweise ab. Auch die inkonsequente Haltung, die Stanhope’sche Rahmenhandlung im Nichts enden zu lassen, ist nicht ganz schlüssig und lässt diesen Erählstrang zur schwächsten Seiten des Buchs werden.

Der Erzählungstrang um Katte überzeugt

Die Hinrichtung Hans Hermann von Kattes

Mit dem Setting rund um Hans Hermann von Katte hingegen kann Roes umso mehr überzeugen, mehrere Punkte machen die Qualität dieses Erzählstrangs aus. Neben der Sprachmacht Roes (für die er eine gute Mittellösung zwischen historischem Duktus und aktueller Lesbarkeit findet) sind es auch Setting und Figuren, die man in dieser Qualität nicht häufig findet. Über die Zeichnung von Handlungsorten wie etwa den Francke’schen Erziehungsanstalten zu Glaucha oder dem megalomanischen Heereslager in Zeithain gelingt ihm auch ein Porträt der damit verbundenen historischen Persönlichkeiten. Eine ganze Fülle an historischen Gestalten begegnet Katte nämlich auf seinem Lebensweg, vom Meisterkompositor Bach über Georg Friedrich Händel in London bis zu August Hermann Francke. Aus diesen auch heute noch klingenden Namen erschafft Roes tiefenscharfe Vignetten und zeigt Menschen mit Schwächen und Stärken.

Die wahre Klasse von Zeithain beweist sich auch darin, dass Roes sich nicht, wie zumeist für historische Romane üblich, mit dem Nacherzählen von Fakten und Figuren begnügt. Er geht deutlich tiefer und schafft über diese Ebene hinaus noch ein viel eindrücklicheres Leseerlebnis, indem er viele Subthemen in seine Rahmenhandlung einwebt – mal auffälliger, mal subtiler. So werden die Fragen von schwuler Identitätsfindung im 18. Jahrhundert und heute immer wieder aufgegriffen und verhandelt, die Vater-Sohn-Konflikte treten ebenso in der Vergangenheit wie heute zutage. Insgesamt eignet sich Roes‘ Roman für mehrere wissenschaftliche Arbeiten, soviel Motive und stilistische Besonderheiten sind in diesem Roman versteckt.

Dass dieser Roman bei der Auswahl zum Deutschen Buchpreis im Herbst übergangen wurde, ist für mich nicht nachvollziehbar. Ein gewaltiger Stoff und ein immenses Drama, dem Roes wirklich gerecht wird. Ein Mammutwerk mit leichten Schwächen, die durch den Rest des Buchs allerdings mehr als wettgemacht werden. Ein Doppelporträt zweier besonderer Männer, ein historischer Roman und Zeitgeist-Roman zugleich, ein pralles Gemälde, satt an Bildern, Gerüchen und Emotionen. Ich bin begeistert und schließe mit einem etwas albernen, im Kern doch zutreffenden Poem: Für Zeithain sollte Zeit sein. Doch diese Investition von Zeit lohnt sich aber auf alle Fälle – man wird mit großem literarischen Genuss belohnt.

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