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Christopher Wilson – Guten Morgen, Genosse Elefant

Um diesen Roman zu kritisieren, möchte ich auf ein Zitat von Philipp Tingler aus dem Literarischen Quartett zurückgreifen. Zwar bezieht es sich auf ein anderes Buch, aber auch für Christopher Wilsons deutschsprachiges Debüt passt es ganz hervorragend (wenn nicht gar nicht gar sogar noch besser, als zu Prawda, über das sich Tingler damals dergestalt äußerte):

Dieses Buch ist wie ein alter, an Hospitalismus leidender Elefant in einem Zoo: Das schwankt nach links, nach rechts und dann kollabiert es mit debilem Grinsen.

Dieses Gefühl beschlich mich auch bei der Lektüre von Wilsons Guten Morgen, Genosse Elefant (im englischen Original deutlich besser: The Zoo, Übersetzung durch Bernhard Robben).

Immer wieder drängte sich mir der Eindruck auf, dass Wilson selbst nicht so wirklich weiß, was er hier erzählen will. Seine Erzählung der letzten Tage Stalins und dem Jungen Juri, der zum Vorkoster des Stählernen wird, ist so unentschieden wie ihre Hauptfigur.

Denn dieser Juri ist eigentlich ein reiner Tor. Als Kind vom Blitz getroffen, von Straßenbahnen und Wagen überrollt ist er ein Stehaufmännchen. Seine Mitmenschen versteht er nicht immer, schwankt irgendwo zwischen Asperger und Autismus und wird von seiner Umwelt meist als Idiot und Mobbingopfer abgestempelt. Allerdings verfügt er über ein stets lächelndes und ehrliches Gesicht, das seinen Mitmenschen in kürzester Zeit intime Geständnisse entlockt. Ein eigenständiges Leben ist für Juri Zipit allerdings nicht möglich, weswegen er seinem Vater, der als Zooveterinär seinen Dienst versieht, zur Hand geht und von diesem betreut wird. Dort im Zoo erwirbt sich Juri Kenntnisse, die ihm dann auch im Umgang mit Stalin und seinen Hofschranzen nützlich sein werden.

Er tätschelt meinen Kopf. „Armes Kind“, stellt er fest. „Was fangen wir nur mit dir an? Du siehst alles, aber du verstehst nichts.“

Wilson, Christopher: Guten Morgen, Genosse Elefant, S. 192

Immer wieder blitzen in der Erzählung gute Momente auf, treffende Beobachtungen oder Zuspitzungen, die den Geist des Stalinismus gut einfangen oder zeigen, welch Geistes Kind dieser Juri ist.

Um das Eis zu brechen, wird erst einmal Rate-die-Temperatur gespielt. Der Wodsch hält ein Quecksilberthermometer hoch, und alle müssen ihre Einschätzung abgeben.

Kruschka verfehlt die richtige Temperatur um sechs Grad und muss folglich sechs Gläser Wodka trinken, Bruhah irrt sich um zwei Grad, muss also zwei Schnäpse trinken.

Bulgirow errät die exakte Temperatur, und weil er offensichtlich auf Schlaumeier macht und den Neunmalklugen gibt, muss er zur Strafe sieben Gläser trinken, um dann auf Händen und Knien rund um den Tisch zu krabbeln und dabei wie ein Esel zu schreien.

Wilson, Christopher: Guten Morgen, Genosse Elefant, S. 125

Unentschiedenes Erzählen

Insgesamt reicht das aber nicht, um aus Guten Morgen, Genosse Elefant ein Buch zu machen, das mich überzeugt hätte. Immer wieder wechselt Wilson seine Erzählperspektive vom Einfaltspinsel Juri hin zu einem auktorialen Erzähler, der uns beispielsweise den Todeskampf Stalins und seine ärztliche Behandlung näher bringt. Das ist genauso unentschlossen wie der Erzählton seines Romans. Dieser schwankt auf erstaunlicher Breite von komödiantischer Satire bis hin zur ungefilterten Beschreibung des Leids, welches Stalin und seine Clique über ihr Volk brachten. Und das obwohl Christopher Wilson eigentlich zur Psychologie des Humors Forschung getrieben hat – in sein Werk sind diese Erkenntnisse für mein Empfinden nicht eingeflossen.

Hier überzeugt leider nur sehr wenig – eben wie ein Elefant, der ständig hin und  herschwankt, ohne sich für eine Richtung entscheiden zu können.

Ein Verweis an dieser Stelle sei noch zum inhaltlich fast identisch gelagerten Film The Death of Stalin erlaubt. Dieser verursachte in Russland Tumulte und wurde dann offiziell verboten. Ob das Christopher Wilsons Buch auch bevorstehen könnte? Möglich wäre es natürlich, aber insgesamt halte ich das Buch für zu belanglos, als dass es solche Kreise ziehen könnte.

Filmtrailer: The death of Stalin
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Sasha Marianna Salzmann – Außer sich

Mit dem Debüt Außer sich der Berliner Dramaturgin und Theaterautorin Sasha Marianna Salzmann liegt ein Buch vor, das es mir nicht wirklich leicht gemacht hat und bei dessen Beurteilung ich nach wie vor schwanke.

Inhaltlich ist dieses Buch eine familiäre Spurensuche, eine Selbstfindung und ein Familienroman. Ausgangspunkt ist die Reise der Erzählerin Alissa nach Istanbul. Von dort erhielt sie nämlich eine Postkarte ihres Zwillingsbruders Anton, der in der Millionenmetropole am Bosporus verschwunden zu sein scheint. Von nun an operiert Salzmanns Roman auf zwei Achsen. Da ist zum Einen die Suche nach Anton im Moloch Istanbul und zum Anderen die Geschichte von Allissas und Antons Familie, die in Episoden erzählt wird. Von der Revolutionszeit ausgehend wird die Geschichte der Großeltern und eigenen Eltern bis zum Asyl in Deutschland ausgebreitet

Dabei verortet sie ihre Geschichte ganz konkret in der türkisch-deutschen Gegenwart: Gezi-Park-Proteste, Militär-Putsch, Asyl – all diese Themen spielen im Buch von Sasha Marianna Salzmann eine Rolle.

Mit ihrem ersten Titel gelang es der Autorin gleich, den Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung zu erringen. Kein unbedeutender Erfolg, wenn man sich die Reihe der bisherigen Preisträger vergegenwärtigt. Namen wie Martin Mosebach, Arnold Stadler oder Zsuzsa Bánk finden sich auf dieser Liste – oder auch Reinhard Kaiser-Mühlecker. Dem österreichischen Autoren gelang im letzten Jahr etwas, das auch Sasha Marianna Salzmann auf Anhieb geschafft hat – der Sprung auf die Longlist (und nun sogar auf die Shortlist) des Deutschen Buchpreises – und das als einzige Debütantin in diesem Jahrgang.

Nur eingeschränkte Empfehlung

Trotz dieser Meriten kann ich das Buch nur eingeschränkt empfehlen. Ihre 365 Buchseiten packt Sasha Marianna Salzmann übervoll mit Themen und schafft so eine Sperrigkeit, die mich nach 150 Seiten das Buch abbrechen und noch einmal von vorne beginnen ließ. Wie hängen die ganzen familiären Fäden zusammen? Wie ist die Verbindung zur Suche nach ihrem Bruder in Istanbul?

Die Sprünge in der Erzählperspektive und Brüche in der Erzählstruktur machen die Lektüre nicht wirklich leicht, zudem erfordert Außer sich ein sehr langsames Lesetempo, um die komprimiert erzählten Verwicklungen und Verbindungen en detail zu erfassen. Für Leser, die eine konzise erzählte oder klar strukturierte Familiensaga suchen, ist dieses Debüt dadurch weniger geeignet.

Das Buch machte es mir zu keinem Zeitpunkt leicht – was an sich auch nicht schlecht ist. Bücher, die fordern und den Leser auffordern, zu hinterfragen und bedenken, können auch immer ein Gewinn sein. Doch ein weiterer Malus machte mir bei Salzmanns Debüt außerdem zu schaffen: keine der zahlreichen Figuren, die das Buch bevölkern, schaffte es, Empathie zu erzeugen. Alle Protagonistinnen leiden für meinen Geschmack an Überdramatisierung. Jede Figur ist dissoziativ, problembeladen, sperrig – so gelang mir kein Einfühlen in die Figuren und ihre Lebenswelten.

Dadurch bleiben für mich in der Endabrechnungen viele Punkte auf der Soll- und Haben-Seite dieses Debüts stehen. Aktuelle Schilderungen der Türkei und Asylschicksale, ein ambitionierter Plot und eine Autorin, die für die Zukunft viel verspricht – es bei diesem Buch aber noch nicht einlöst. Sperrige Figuren, ein zu viel an Dramatisierung, viele zurückbleibende Fragen. Damit ist Außer sich für mich ein zwar recht interessanter Titel, den ich aber nicht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises sehe (auch wenn, nachdem diese Kritik nun geschrieben war, die Jury das Ganze anders gesehen hat und Salzmann auf die Shortlist befördert hat. Ich als Jurymitglied hätte anders entschieden und statt dieses Buches Ellenbogen von Fatma Aydemir auf die Shortlist gesetzt).

Außer sich ist ein Buch, das sicher ein gespaltenes Echo bei den Lesern hervorrufen wird. Ich bin auf alle anderen Meinungen Mitlesender gespannt!

[Headerbild: (c) Matthias Ripp/Flickr]

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Walter Lucius – Schattenkämpfer

Farah Hafez ist wieder da. Die niederländische Journalistin und Kampfsportlerin mit afghanischen Wurzeln, die der geneigt Leser bereits aus Schmetterling im Sturm kennt, kehrt zurück. Und wie! Gleich auf den ersten hochtourigen Seiten des neuen Romans von Walter Lucius gerät sie in eine Geiselnahme von tschetschenischen Terroristinnen, die nicht von Ungefähr an Szenarien wie die Katastrophe von Beslan erinnert. Durch einen perfiden Winkelzug der Terroristinnen wird Farah plötzlich auch als Strippenzieherin des Anschlags gebrandmarkt und muss nach der Befreiung durch russische Einsatzkräfte fliehen.

Dies ist nur einer von vielen Strängen, die in Schattenkämpfer das Gerüst bilden. Walter Lucius spannt seinen Thriller zwischen Amsterdam, Südafrika, Moskau und Indonesien auf. Denn dorthin flieht Farah, während in den Niederlanden Polizei und Journalisten versuchen, die turbulenten Ereignisse des Vorgängerbuchs weiter aufzuklären. Denn was in diesem schon angelegt war, entfaltet sich nun weiter: ein Geflecht aus Korruption und Abhängigkeiten, das von der niederländischen Politik aus bis zu russischen Energieriesen reicht. Farah und Kollegen versuchen in bester Lisbeth-Salander-Tradition, in dieses Hornissennest hineinzustechen, doch dies führt im Lauf des Buchs zu weiteren Toten und lebensbedrohlichen Situationen.

Schattenkämpfer (Deutsch von Ilja Braun) ist der Mittelteil der als Heartland-Trilogie betitelten Dreierreihe des niederländischen Autors Walter Lucius. Eingangs hatte ich ein Problem mit den Anschlüssen an den ersten, 700 Seiten starken Thriller Schmetterling im Sturm, lag die Lektüre doch schon drei Jahre zurück. In der Zwischenzeit wurde der Roman dann vom Verlag auch noch um ein Jahr nach hinten geschoben, was die Veröffentlichung anging – und so musste ich mich erst wieder im Universum von Farah Hafez einfinden.

Die Verbindung an den ersten Teil gelingt Walter Lucius dann aber im Lauf des Buchs sehr gut unter Rekursion derbisherigen  Geschehnisse, die immer wieder einfließen und für die Fortschreibung der Geschichte essenziell sind. Das macht das Buch auch für Neulinge interessant, wenngleich ich unbedingt die vorherige Lektür von Schmetterling im Sturm empfehlen würde um des maximalen Genusses wegen.

Insgesamt ist das Buch abermals ein höchst globaler Thriller, der diesmal noch etwas stärker aufs Gaspedal drückt und beständig von Ort zu Ort springt und so für hohes Tempo sorgt. Manche Szenen oder Zusammenhänge erfordern schon eine gewisse Akzeptanz des Lesers, was die Verkettungen und Zufälle angeht. Abgesehen von kleinen handwerklichen Fehlern ist Schattenkämpfer genauso wie sein Vorgänger ein lesenswerter Thriller, der die Leser auf Abschlussband 3 hoffen lässt. Hoffentlich dauert es nur nicht wieder drei Jahre, ehe es soweit ist!

 

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Chris Kraus – Das kalte Blut

Für diese Frage könnte man bei einer Quizshow schon einmal die obligatorische Million abräumen: worum handelt es sich beim Roten Herbstkalvill? Chris Kraus erklärt es in seinem Buch Das kalte Blut und macht den Apfel (so die richtige Antwort) zum Leitmotiv seiner Geschichte, die von den ungleichen Brüdern Konstatin, genannt Koja, und Hub Solm erzählt. Immer wieder taucht dabei jener Rote Herbstkalvill auf, der mal Zankapfel, mal Todesbote ist, und der das Schicksal der Brüder begleitet.

Erzählt wird uns die Geschichte in Form einer Lebensbeichte, die Koja gegenüber seinem Bettnachbarn in einem Münchner Krankenhaus 1974 ablegt. Er ist nämlich infolge eines in seinem Kopf steckenden Projektils in Behandlung, das nicht nur ihm sondern auch den Ärzten einiges Kopfzerbrechen bereitet. Wie dieses Projektil in seinen Schädel gelangte und welche unerhörte Lebensgeschichte dazu führte, dass nun das Zimmer von der Polizei bewacht wird, das erzählt Solm seinem Bettnachbar, der ausgerechnet ein Hippie ist.

Die Sympathie jenes Hippies kippt im Laufe dieser tausendzweihundertseitigen Geschichte immer mehr ins Entsetzen, als er die ganzen turbulenten Ereignisse und Taten aus Koja Solms Leben erfährt. Aufgewachsen als Deutschbalte in der Nähe von Riga erleidet die Familie nach dem Ersten Weltkrieg einen großen Bedeutungsverlust und muss sich durchschlagen. Doch dann beginnt mit dem Aufstieg des Dritten Reichs auch der Aufstieg der Solm-Brüder. Jene werden zu wichtigen Kontaktpersonen für die Nazis im Baltikum, Himmelfahrtskommandos und Verbrechen gegen die Menschlichkeit inklusive. Doch die Identität als Kriegsverbrecher ist nur eine Facette im vielschichtigen Wesens Koja. Verhaftungen durch die Russen, Tätigkeiten als Doppelagent für Russland und Deutschland folgen, eine Karriere als Kunstfälscher und Mitbegründer des Bundesnachrichtendienstes findet sich ebenso in Kojas Lebenslauf genauso wie eine Emigration nach Israel.

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Tommy Wieringa – Dies sind die Namen

Man könnte meinen, Tommy Wieringa würde prophetische Gaben besitzen. Schon bevor im letzten Jahr die große Flüchtlingsströme schließlich über die Balkanroute auch bis nach Deutschland gelangten, legte er im Jahr 2012 den Roman Dies sind die Namen vor, der sich um die Fragen von Flucht und Identität dreht.

Der niederländische Autor erzählt darin in zwei Stränge aufgeteilt von einer Flüchtlingsgruppe, die sich durch ein verlassenes Nirgendwo schlägt, auf der Suche nach einem neuen Leben, und von Pontus Beg. Dieser versieht desillusioniert in der heruntergekommenen Stadt Michailopol seinen Dienst als Polizeibeamter. Dort hät er genauso wie seine Kollegen die Hand auf und verlebt seine Zeit, ohne dass wirklich etwas Aufregendes geschieht. Doch plötzlich stehen die abgekämpften Flüchtlinge vor ihm und bringen das ganze Leben in Michailopol durcheinander.

Geschickt verschränkt Wieringa die beiden Erzählstränge miteinander und verwebt Themen wie die Suche nach Identität und einem neuen Leben  in seine Erzählung. Während sich die Flüchtlinge vom Tod bedroht durch öde Steppen quälen und schier wahnsinnig werden, lässt Beg die Frage nach seiner eigenen Herkunft nicht mehr los. Kann es sein, dass seine Mutter Jüdin war und seine eigene Existenz damit in ganz neuem Licht erscheint? Wie Wieringa hier mit diesen Themen spielt, dies ist sehr gut gemacht!

Dem Autor von Bestsellern wie Joe Speedboat – Keine Zeit für Helden ist ein Buch gelungen, das mit seiner Aktualität und seiner schriftstellerischen Klasse zu überzeugen weiß. Nicht zuletzt da die Niederlande als diesjähriger Partner der Frankfurter Buchmesse fungieren, hoffe ich, dass diesem Buch große Aufmerksamkeit zuteil wird!

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