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Chris Whitaker – Von Hier bis zum Anfang

Auf knappe 7000 Rezensionen auf einem einschlägigen Shoppingportal bringt es die englische Originalausgabe von Chris Whitakers Roman We begin at the end. Eine stattliche Anzahl von Rezensionen, auch auf die Bestsellerliste der New York Times hat es der britische Autor mit seinem Buch geschafft. Nun erscheint das Buch in der deutschen Übertragung durch die bewährte Übersetzerin Conny Lösch auf Deutsch. Was kann der „must-read crime novel of the year“, wie es vom Cover der Originalausgabe kündet?

Zunächst zwei kurze Feststellungen vorweg: im Vergleich zum englischen Originaltitel ist der deutsche Titel Von hier bis zum Anfang deutlich schwächer, da ungenauer. Und ein Krimi ist das Buch in meinen Augen auch nicht, genauso wenig wie es die Romane von Joel Dicker, Ann Petry oder Delia Owens sind. Warum komme ich zu diesen Urteilen?

Ein vermeintlicher Krimi

Zunächst klingt alles tatsächlich sehr nach einem klassischen Krimi, blict man auf den Klappentext oder die Inhaltszusammenfassung. Vor 30 Jahren soll Vincent King Sissy Radley umgebracht haben. Seine Strafe hat er im Gefängnis verbüßt, wurde wegen eines Mordes im Gefängnis noch länger einbehalten und kehrt nun nach Cape Haven zurück. Dort hat eigentlich niemand auf ihn gewartet, nur sein Freund aus Kindertagen, der lokale Polizeichef Walk hät ihm aus alter Verbundenheit die Treue. Doch die Rückkehr des verurteilten Mörders verursacht viel Aufruhr – und wenig später wird Walk zu einem neuen Tatort gerufen. Das Opfer diesmal: Star Radley, die Schwester von Sissy. Am Tatort greift er den blutverschmierten Vincent King auf, der auch diesen Mord gesteht. Die Spuren sprechen eine eindeutige Sprache und so steht eine Verurteilung von Walks altem Freund unmittelbar bevor. Doch was führte zu der Tat?

Um diese zu verstehen, muss man wirklich am Anfang der Geschichte ansetzen, die vor 30 Jahren begann. Geschickt schafft es Chris Whitaker, nach und nach kleine Puzzlestücke an den Platz zu rücken, während er seine Geschichte vorantreibt. Er schildert die Spurensuche Walks auf eigene Faust, der sich in der Kleinstadt Cape Haven auskennt und der mit seiner lokalen Expertise und Verbundenheit mit den Bewohner*innen viel Vorsprung vor den eigentlichen Ermittlern hat.

Den größten Raum in dieser Erzählung nimmt aber das Schicksal der beiden Kinder der ermordeten Star Radley ein. Da ist die Erstgeborene Dutchess. Ihren Vater kennt sie nicht, dafür spendet ihr der eigene Familienstammbaum Orientierung. In diesem Stammbaum findet sich ein Outlaw, der zum Vorbild für Dutchess wird. Die Qualitäten eines Outlaws braucht sie auch tatsächlich, um ihren kleinen Bruder Robin zu beschützen. Musste Dutchess schon vor dem Mord an ihrer Mutter die Rolle des Familienoberhaupts übernehmen, steht sie nun nach der Ermordung noch mehr in der Verantwortung. Zusammen mit ihrem Bruder wird sie nach Montana zu ihrem Großvater geschickt. Wirklich zur Ruhe kommen die beiden hier aber auch nicht. Die Macht des Schicksals ist stark und holt die beiden auch dort ein.

Ein potentieller Bestseller mit vielen Qualitäten

Dass dieses Buch zum Bestseller avancierte, überrascht wenig. Denn Whitakers Debüt besitzt ganz unterschiedliche Qualitäten, die das Buch für eine wirklich breite Leserschicht interessant machen. Da ist zunächst die Tatsache, dass das Buch rund ist. Erst am Ende ergeben sich die Zusammenhänge und die Schicksalsfäden werden entwirrt. Insofern ist der Originaltitel, der vom Beginn am Ende spricht, sehr gut passend. Alles fügt sich und ergibt ein sinnreiches Bild.

Dieses Bild, das sich dann zeigt, zielt deutlich aufs Herz und besitzt eine starke emotionale Kraft. Das Waisenschicksal von Dutchess und ihrem Bruder Robin rührt an, auch wenn Chris Whitaker hier so manches Mal etwas zu stark auf die Tränendrüse drückt. Aber wie er von Einsamkeit und dem viel zu frühen Erwachsenwerden von Dutchess erzählt, das ist wirklich stark gemacht (und erinnert an Delia Owens Bestseller).

Neben der emotionalen Güte ist es auch die Qualität eines Justiz- und Spannungsromans, die dem Buch innewohnt. Es gibt Tote, Vermisste, einen Prozess mit Geschworenen, der die Suche nach der Wahrheit beschleunigt und immer drängender werden lässt. Dabei übertreibt es Whitaker auch nicht mit der Gewalt, alles geschieht in allgemein verträglicher Intensität, sodass auch zarter besaitete Leser*innen durchaus gut unterhalten werden. Ist Vincent King schuldig? Wer hätte weiteres Interesse an den Morden und wo sind die Motive zu suchen? All diese Fragen ziehen sich durch das Buch.

Neben all der Schwere gibt es aber auch immer wieder komische Momente, etwa wenn Walks Nachbar alleine als Bürgerwehr fungiert und dabei höchst sachverständig erscheinen will, ein Wahrheit aber ständig die Polizeicodes durcheinanderbringt. Aber auch die anderen Figuren sind zumeist glaubwürdig gezeichnet und haben alle ihre zwei Gesichter.

In Von hier bis zum Anfang stellt Chris Whitaker auch unter Beweis, dass es nicht viele Figuren braucht, um eine große Geschichte zu erzählen. Er konzentriert sich auf ein sehr überschaubares Figurenensemble. Genauso klein wie die Figuren ist auch der Schauplatz Cape Haven. Dem Engländer Whitaker gelingt es ähnlich wie dem Schweizer Joel Dicker, das Leben in der amerikanischen Kleinstadt ungemein plastisch zu schildern. Man vermeint, selbst durch die Straßenzüge Cape Havens zu bummeln, die Läden und Häuser vor sich zu sehen oder in der Weite Montanas zu stehen.

Fazit

Die Atmosphäre in diesem Buch ist stark. Die Naturbeschreibungen überzeugen genauso wie das soziale Gefüge in Whitakers Kleinstadt, das Buch hat eine untergründige Spannung und große emotionale Wucht. Viele Punkte also, die das Buch maximal anschlussfähig an verschiedene Leseinteressen machen. Ein breiter Erfolg beim lesenden Publikum sollte diesem Buch gewiss sein, davon bin ich überzeugt. Ein potentieller Bestseller, den ich mir auch bei der Wahl zum Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels im Herbst gut vorstellen könnte.


  • Chris Whitaker – Von Hier bis zum Anfang
  • Aus dem Englischen von Conny Lösch
  • ISBN 978-3-492-07129-1 (Piper)
  • 448 Seiten. Preis: 22,00 €
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Sorj Chalandon – Wilde Freude

Von einer niederschmetternden Diagnose, einem riskanten Plan und einer Frauenfreundschaft erzählt der französische Schriftsteller Sorj Chalandon in seinem neuen Roman „Wilde Freude“ (Originaltitel „Une Joie féroce“, Deutsch von Brigitte Große).


Es ist eine Diagnose, die ein ganzes Leben auf links dreht. Bei einer Untersuchung stellt der Arzt der Buchhändlerin Jeanne die Diagnose Krebs. Eine Chemotherapie muss schnellstmöglich begonnen werden. Nicht nur ihr Körper wird dabei an die Grenzen der Belastbarkeit geführt. Auch die Beziehung zu ihrem Partner überlebt diese Diagnose nicht. Schon einmal stand die Beziehung kurz vor ihrem Ende, als das gemeinsame Kind starb. Und nun ist die Partnerschaft mit Jeannes Mann endgültig an ihrem Ende angekommen.

Sorj Chalandon - Wilde Freude (Cover)

Allerdings findet die Buchhändlerin schon bald eine andere Form der zwischenmenschlichen Beziehung. Bei der Chemotherapie macht sie die Bekanntschaft mit drei Frauen. Da sind Brigitte und Assia, die in einer luxuriösen Pariser Wohnung zusammenleben. Die dritte im Bunde ist Eva, deren Schicksal auch Jeanne eingedenk der eigenen Biographie sehr anrührt. So hat Evas Partner ihr gemeinsames Kind entführt. Er verlangt von ihr eine Auslöse von 100.000 Euro, damit sie ihr Kind wieder in die Arme schließen kann.

Doch woher sollte man 100.000 Euro bekommen? Die vier Frauen schmieden einen riskanten Plan. Und plötzlich gibt es eine eigene französische Version von Thelma & Louise, diesmal allerdings zu viert.

Zwischen Krebsdiagnose und Polar noir

Es ist eine außergewöhnliche Mischung, die den Reiz von Wilde Freude ausmacht. So kombiniert Sorj Chalandon in diesem Roman ein Frauenschicksal mit Elementen aus dem Polar-Noir á la Jean-Patrick Manchette und einem klassischen Heist-Roman. Der Roman oszilliert zwischen Mitgefühl für Jeannes Schicksal und der Spannung eines geplanten Raubüberfalls. Wie es Chalandon hier schafft, bei einer Laufzeit von gerade einmal 288 Seiten diese Elemente glaubhaft zu verquicken und auch noch einen überraschenden Twist einzubauen, das ist beeindruckend.

Toll, wie er auf wenigen Seiten das Schicksal von Jeanne, ihre Zweifel und Kämpfe und Belastungsproben schildert. Bei diesem Roman komme ich zum selben Urteil, die am 9. August des letzten Jahres die vier Kritiker*innen des damaligen Literarischen Quartetts fällten. So rühmten sie die Fähigkeit Chalandons, Charaktere im Spannungsfeld von Gut und Böse zu zeichnen, mitreißend zu erzählen und Anteilnahme für die Figuren zu erwecken. Das 4:0 vom damals besprochenen Am Tag davor würde man Chalandon auch in diesem Falle wieder wünschen. Denn wie er in die Haut seiner Heldin schlüpft, Spannung serviert, die Leben der vier Frauen skizziert und überrascht, das hat Klasse.

Hier schreibt ein wirklicher Könner (der ebenso könnerhaft von Brigitte Große übersetzt wurde)!


  • Sorj Chalandon – Wilde Freude
  • Aus dem Französischen von Brigitte Große
  • ISBN 978-3-423-28237-6 (dtv-Verlag)
  • Preis: 22,00 €, 288 Seiten

Bild Sorj Chalandon: Par S. Veyrié — Travail personnel, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17536422

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Regina Porter – Die Reisenden

Man kennt diesen unangenehmen Moment, wenn man bei fremden Menschen oder wahlweise sogar den potentiellen Schwiegereltern zu Gast ist. Gerne wird das willfährige Opfer zum richtigen Zeitpunkt zur Ahnengalerie geführt, die sich irgendwo im Hause befindet. Am besten in Petersburger Hängung sind sie dann an der Wand angebracht, dicht an dicht: Bilder von sämtlichen nahen und entfernten Verwandten. Urlaubsbilder, schon meist mit etwas Patina versehen. Kinderfotos, die den erwachsenen Zöglingen schon lange peinlich sind. Urlaubsfotos von Tante Gerda, Hochzeitsbilder der eigenen Großeltern. Verlobungsfotos von Onkeln und Tanten, in Sepia getränkte nostalgische Urlaubserinnerungen.

Die Fotos wollen kein Ende nehmen. Und dann ist da auch noch der Hausherr oder die Hausherrin, die sämtliche Fotos mit weitschweifigen Erklärungen versieht. Verwandtschaftsverhältnisse, Anekdoten aus Urlauben, peinliche Kindheitserinnerungen. Alles wird haarklein erzählt, man kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen. Es dauert und dauert und schon nach fünf Fotos hat man eigentlich den Überblick verloren. Aber man ist ja ein netter Gast und heuchelt Interesse. Und schon geht es weiter und das nächste Foto ist an der Reihe.

Wer je in einer solchen Situation gefangen war, der kann sie schlecht vergessen. Natürlich ist eine Vergegenwärtigung der eigenen Familiengeschichte schön und gut, aber nicht immer ist diese sonderlich spannend oder für Außenstehende verständlich. Einen Anflug dieses Gefühls hatte ich auch bei der Lektüre von Regina Porters Roman Die Reisenden (übersetzt von Tanja Handels), dessen Veröffentlichung ich schon entgegenfieberte. Ein schillerndes Zeitpanorama und ein intimes Familienepos zweier gegensätzlicher Familien, von der Bürgerrechtsbewegung bis hin zur Obama-Ära. Das versprach der Klappentext sowie die lobenden Stimmen, die das Erscheinen begleiten.

Konnte die Autorin diese Versprechen einhalten? Wie sich meinen Einleitungsworten entnehmen lässt, ist dies leider überhaupt nicht der Fall. Aber warum ist das so? Hier mein Versuch einer persönlichen Analyse.

Die Erzählkonstruktion als Fluch und Segen

So erweist sich der von Regina Porter gewählte Erzählansatz zugleich als Fluch und Segen. Als Segen, weil sie immer wieder durch unterschiedliche Jahre hüpft und die Erzählung so merklich auflockert und das starre narrative Gefüge durchbricht. Auch stehen ihr mit den zwei unterschiedlichen Familien viele Möglichkeiten offen, um Entwicklungen, Moden und Schicksale zu beleuchten und zu spiegeln. Allerdings liegt hier auch die Krux des Romans. Denn jede der beiden Familien hat zahlreiche Familienmitglieder, die von Regina Porter recht unverbunden alle lang und breit in Episoden gewürdigt werden. So bekommen Enkel, Eltern und Großeltern in verschiedenen Lebensstadien in unterschiedlichen Jahrzehnten ihre Auftritte. Mal wieder auktorial erzählt, dann gibt es wieder für ein Familienmitglied eine*n Ich-Erzähler*in.

So weit so gut. Allerdings schafft es Regina Porter nicht im Ansatz, sich zu beschränken und sich auf dieses Personal zu fokussieren. Denn sie führt auch noch außerehelich gezeugte Kinder, deren Nachbarn, deren Kindern und noch weiter entfernte Figuren ein, die alle in ERzählungen vorgestellt werden. Da sie diese Schicksale und Sprünge durch die Jahre auch nur mit sehr dünnem literarischen Kleber verbindet (manchmal ist es auch nur ein Name aus der vorherigen Episode, der dann in der 20 Jahre später spielenden Geschichte wieder relevant wird). Die Bezüge müssen dann mühsam selbst im Text herausgesucht werden – oder man schaut diesen gelinde gesagt etwas komplexen Stammbaum auf dem hinteren Vorsatzpapier an).

Alles ist mit allem verbunden.

Der Wahnsinn hat Methode

Ich mag ja Literatur, die mich fordert und die es mir nicht allzu leichtmacht. Hier hatte ich allerdings das Gefühl, einer etwas wirren und reichlich unstrukturierten Erzählerin vor ihrer gigantischen Bilderwand zu lauschen. Sicher: alles ist mit allem verbunden oder um mit dem mehrfach im Text zitierten Hamlet zu sprechen: Mir scheint, der Wahnsinn hat Methode. Auch mag es viele Leser*innen geben, die Freude an dem detektivischen Suchspiel der versteckten Bezüge haben. Ich hatte diese leider zu keinem Zeitpunkt der Lektüre. Etwas mehr literarischer Kitt hätte es schon sein dürfen. Da helfen auch keine etwas wahllos im Buch eingestreuten Fotografien, die den Realitätsgrad erhöhen sollen.

Auch hatte ich mir von der politischen Komponente in diesem Werk mehr erhofft. Natürlich werden Begebenheiten wie die Ermordung Martin Luther Kings oder der Rassismus in Form des Green Books erwähnt. Der Vietnamkrieg spielt sogar eine große Rolle. Allerdings hat es sich damit auch schon. Der große Gesellschaftsroman und Kommentar zu den politischen Entwicklungen ist dieses Buch mitnichten. Hier wird etwas zu einem Ereignis hochgejazzt, das es leider in meinen Augen nicht ist.

Für mich ist Die Reisenden somit alles andere als das erhoffte erzählerische Highlight des Frühjahrs. Ein Roman wie eine dreistündige Beschau einer eklektischen Bildersammlung. Schade drum!

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Johanna Holmström – Die Frauen von Själö

Drei unterschiedliche Frauen, über 100 Jahre Handlungszeitraum, eine Insel: das ist der neue Roman von Johanna Holmström. In ihm widmet sich die schwedischsprachige Finnin einem wenig bearbeiteten Kapitel in der Geschichte ihres Landes – nämlich dem der Insel Själö (übersetzt von Wibke Kuhn).

Diese Insel befindet sich vor der Südwestküste Finnlands im dortigen Schärengarten. Etwa zwei Kilometer beträgt der Durchmesser der Insel – und bis auf die Tatsache, dass ein Asteroid nach der Insel benannt wurde, gibt es eigentlich kaum nennenswerte Besonderheiten oder Sehenswürdigkeiten. Eine Kirche, heutzutage eine Forschungsstation, ein altes Krankenhaus, das war es. Aber gerade dieses Krankenhaus hat eine erschütternde Vergangenheit, die Johanna Holmström in ihrem Roman wieder ans Tageslicht holt.

Sie erzählt von drei Frauen, der Schicksal eng mit der Insel Själö verknüpft ist. Da ist im ersten Teil Kristina, die im Jahr 1891 eine schier unglaubliche Tat begeht. Mit einem Boot rudert sie nächtens auf einen Fluss hinaus. Dort wirft sie dann ihren Sohn und ihre Tochter schlafend über Bord und rudert dann wieder heim. Eine schier unfassliche Tat, die auch Kristina selbst am nächsten Tag nicht wirklich glauben kann.

Man weist sie in die Nervenheilanstalt in Själö ein, wo man sich um Frauen wie Kristina kümmert, fernab der normalen Zivilisation. Diese Insel wird Kristina nicht mehr verlassen, was sie auch Jahre später im Gespräch mit einem Priester konstatiert:

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Kristina. Aber eines weiß ich. Der Herr ist denen nah, die ein gebrochenes Herz haben, und er rettet die, die geistig verloren sind. Sie wussten nicht, was Sie taten, als Sie ihre Kinder ertränkt haben. Und sie haben selbst gesagt, dass Sie acht Jahre in geistiger Umnachtung verbracht haben. Ist das nicht Strafe genug?“

„Diese Frage entscheiden nicht Sie. Ich habe überhaupt nicht das Gefühl, meine Verbrechen gesühnt zu haben, und ich bin froh, sie jeden Tag aufs Neue zu sühnen.“

„Nein Sie werden gesund werden, Kristina. Schauen Sie sich doch an, wie Sie hier sitzen und mit mir reden. Sie können gesund werden, KRistina, wenn Sie es nur versuchen.“ (…)

Sie schaut ihn eine Weile an und deutet dann mit einem Nicken zum Friedhof. Erland folgt ihrem Blick.

„Ich werde diese Insel niemals verlassen“, sagte sie. „Von hier … von hier führt nur ein Weg fort, und der geht dorthin.“

Holmström, Johanna: Die Frauen von Själö. S. 120

Pfleger*innen kommen und gehen, Priester und Ärzte kommen und gehen – aber Kristina wird die Insel tatsächlich nicht mehr verlassen.

Drei Frauen in der Nervenheilanstalt

Auch die junge Elli wird Jahrzehnte später auf Själö interniert. Diese hat sich allerdings keines Verbrechens schuldig gemacht, vielmehr ist sie einem Komplott um Liebe und Enttäuschung zum Opfer gefallen. Auch für sie wird Själö zum unbarmherzigen Schicksal, dabei wollte sie eigentlich nur frei und unbestimmt leben. Doch die finnische Gesellschaft kennt auf einen solchen Emanzipationsversuch nur die Antwort – Själö.

Besonders grausam sind neben den psychischen Bedingungen auch die medizinischen Ansichten des Personals, die besonders zur Zeit des Zweiten Weltkriegs unglaubliche Blüten treiben und beim Lesen schaudern lassen.

„Es gibt also keine Chance? Das wollen Sie damit sagen? Keine Chance, jemals entlassen zu werden?“

„Tja, kommt ganz drauf an. Mit der weiblichen Natur verhält es sich nämlich so, dass sie zyklisch ist. Das gilt auch für den weiblichen Wahnsinn. Der Zusammenhang zwischen diesen Wahnsinnszyklen und der Menstruation ist in den meisten Fällen offensichtlich, und sobald die Menstruation aufhört, hört sehr oft auch der Wahnsinn auf. Deswegen hatten schon viele das Glück, zu diesem Zeitpunkt entlassen zu werden“, erklärt er.

Holmström, Johanna: Die Frauen von Själö, S. 176

Auch wenn die Jahre ins Land gehen, wenn man auf Själö gelandet ist, dann wird man kaum mehr von der Insel herunterkommen, außer man gehört zum medizinischen Personal.

Aber auch dieses hat es nicht unbedingt besser, auch wenn man sich auf der anderen Seite befindet. Das wird im dritten Teil des Romans klar, der die Pflegerin Sigrid in den Mittelpunkt stellt. Auch sie ist mit einen Wünschen und Hoffnungen einst nach Själö gekommen. Doch die Hoffnung und Illusionen haben sich im Lauf der Zeit schnell zerschlagen. Und so endet der Roman dann nach über hundert Jahren 1997.

Geblieben ist kaum etwas, außer Enttäuschung, viel Unaufgearbeitetes und jede Menge Frauenschicksale, auf deren unglückliche Leben die Gesellschaft nur die Antwort Ausgrenzung und Psychiatrie kannte.

Eine Reise nach Själö ohne Wiederkehr

Am Ende des traurigen und nachdenklich stimmenden Romans steht dann die Erkenntnis, die allen Frauen von Själö über kurz oder lang immer kommt:

„Jetzt weiß ich, dass das nur ein Märchen ist“, sagt Karin. „Denn in Wirklichkeit werden wir hier nie wegkommen, wusstest du das nicht?“

Elli schweigt einen Augenblick.

„Wie meinst du das?“, fragt sie dann, aber Karin schaut sie gar nicht an.

„Damit meine ich, dass das hier die Endstation ist. Das Ende meiner Reise. Und deiner Reise auch. Hier wird niemand entlassen (…).“

Holmström, Johanna: Die Frauen von Själö, S. 249

Kein Buch für gute Laune, erhebende Stimmung oder ein wenig Flucht aus der Realität. Aber ein nachdenklich machendes Mahnmal für ein erschütterndes Kapitel (finnischer) Psychiatriegeschichte.

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Jon Cohen – Die wundersame Mission des Harry Crane

Nun ist es Weihnachten – die Zeit also, wo nach Möglichkeit alles etwas ruhiger zugehen sollte. Man schaltet einen Gang zurück, entspannt, blickt auf das Jahr zurück und findet unter dem Baum vielleicht das ein oder andere Geschenk. Oftmals ist vom „Geist der Weihnacht“ die Rede, der jene Zeit kennzeichnen sollte. Auch „Besinnlichkeit“ ist eines jener Schlagworte, das zu dieser Zeit gerne schon überreizt wird. Für mich bedeutet diese Zeit aber wirklich zumeist Entspannung, da sie mit viel freier (Lese)Zeit einhergeht.

Eine meiner letzten Lektüren eignet sich wunderbar für jene Zeit des Jahres. Ein echtes Feelgood-Buch, bei dem ich schon während der Lektüre meine sonst so strengen Wertungsrichtlinien einfach einmal vergaß. Stattdessen ließ ich mich in das Buch versinken und bekam wunderbare Unterhaltung geboten, deren Botschaft denen des Weihnachtsfests nicht unähnlich ist. Die Rede ist von Die wundersame Mission des Harry Crane von John Cohen (übersetzt von Alexandra Kranefeld).

In den Wäldern Pennsylvanias

Im Nordosten Pennsylvanias befindet sich die Landschaft der Endless Mountains. Ein bergiges und sehr waldreiches Stück Natur, in dem die Schicksale einiger Bewohner aufeinanderprallen. Da wäre zum Einen die junge Oriana. Sie und ihre Mutter Amanda haben einen großen Verlust zu betrauern. Orianas Vater ist gestorben – und beide Frauen legen unterschiedliche Strategien an den Tag, um mit dem Schicksalsschlag umzugehen.

Ebenfalls einen schweren Verlust zu betrauern hat Harry Crane. Jener hat seine geliebte Frau durch einen Unfall verloren und bekommt nun sein Leben nicht mehr geregelt. Seinen Job als Forstbeamter übt er nur noch im Automatikmodus aus. Eigentlich möchte er seinem Leben inmitten der von ihm geliebten Bäume und Wälder der Endless Mountains ein Ende setzten. Doch dann führt ihn das Schicksal mit Amanda und Oriana zusammen. In der Folge entspinnt sich eine turbulente Geschichte, bei der ein großer Goldschatz, eine Bibliothekarin und das Märchen vom Grum eine wichtige Rolle spielen.

Ein Buch mit dem Geist der Weihnacht

Jon Cohen hat einen warmherzigen Roman vorgelegt, der stellenweise selbst an ein Märchen erinnert und voll mit skurril-liebenswerten Figuren ist, die man gerne begleitet. Das Buch ist zugleich eine Hymne auf die Kraft es Guten sowie die Schönheit und heilsame Kraft der Wälder. Auch ruft die Handlung Erinnerungen an Geschichten wach, die von Nächstenliebe erzählen, und die eher klingen, als hätte sie Claas Relotius denn die Wirklichkeit geschrieben. Sein geradezu filmisch erzählter Feelgood-Roman hält diese Werte hoch und lässt das Gute siegen. Harrys wundersame Mission gibt den Glauben an das Gute im Menschen und das Happy-End zurück.

Natürlich könnte man das, wenn man gewillt ist, auch an dem Buch kritisieren. Zudem sind die Charaktere doch recht eindimensional, manches ist vorhersehbar und der Epilog hätte gestrichen gehört. Doch dann da hat das Buch solch einen Charme und eine solche Warmherzigkeit, dass man all das gerne verzeiht. Es ist ein bisschen jener eingangs erwähnte „Geist der Weihnacht“, den auch dieses Buch atmet, weswegen ich es auch so gerne las.

Alles wird gut, Hoffnung besteht für alle, das Gute siegt. Nächstenliebe kann Menschenleben retten und unsere Welt verbessern. Durchaus christliche Botschaften, die sich auch bei Jon Cohen wiederfinden, weswegen das Buch dezidiert gut in diese weihnachtliche Zeit passt. Falls jemand zufällig einen Buchgutschein unter dem Christbaum gefunden hat – mit dem vorliegenden Buch hätte man eine gute Eintauschmöglichkeit gefunden, um sich selbst in diesen Tagen etwas zu beglücken. Gute Unterhaltung mit wärmender Botschaft in der kalten Zeit – gerne empfohlen!

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