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Ulrike Herrmann – Das Ende des Kapitalismus

Verträgt sich der Kapitalismus mit Umweltschutz und den Anforderungen an eine grüne Zukunft? Ulrike Herrmann meint nein und spricht sich in ihrem neuen Sachbuch für Das Ende des Kapitalismus aus und setzt statt auf neue Technologien auf Grünes Schrumpfen und die britische Kriegswirtschaft während des Zweiten Weltkriegs.


Es könnte doch so einfach sein, wenn man einigen Debatten gerade nach dem Ende der Gaslieferungen aus Russland verfolgte. Wir müssen rasch die erneuerbaren Energien ausbauen, ein paar Leitungen aus dem windstarken Norden in den Süden ziehen, den Umstieg der Verbrenner auf E-Autos vorantreiben, ein paar CO²-Emissionen einsparen, Wärmepumpen hinters Haus – und dann wird das schon etwas werden mit der Einhaltung des Pariser Klimaschutzabkommens und einer grünen Zukunft. So einfach kann es sein, schenkt man einigen Stimmen dieser Tage Glauben.

Kann es eben nicht, wie Ulrike Herrmann in ihrem Buch Das Ende des Kapitalismus behauptet. Denn um unseren Kindern eine wirklich ein einigermaßen lebenswerte Erde zu hinterlassen, braucht es weitaus radikalere Ansätze als ein Windrad vor der Haustür oder einen Solarpanel auf dem Dach. Denn eine ökologisch verträgliche Zukunft und Kapitalismus, das geht nicht zusammen. Vielmehr braucht es ein Ende des Kapitalismus und sogenanntes Grünes Schrumpfen, um auf dieser Erde den Ansatz einer Chance zu haben, unsere Umwelt und damit uns zu retten. Ein Vorbild für einen solchen Ansatz findet sie in der britischen Kriegswirtschaft

Eine Geschichte des Kapitalismus

Doch zunächst beginnt Ulrike Herrmann ihr Buch mit einer Geschichte des Kapitalismus. Warum entstand dieser im Globalen Norden und warum waren es erst die vergleichsweise hohen Löhne in Großbritannien, die ausgehend von der britischen Insel zu einem Erstarken des Kapitalismus und dessen späterer Entfesselung führten? Das erzählt die taz-Journalistin einführend, ehe sie sich der aktuellen ökonomisch-ökologischen Lage unseres Landes und der Erde widmet.

Sie blickt auf die Zerstörung, die unser menschliches Handeln angerichtet hat und beleuchtet das krasse Ungleichgewicht zwischen Globalem Süden auf der einen und dem Globalen Norden auf der anderen Seite, dessen momentaner Ressourcenverbrauch momentan eigentlich zwei bis drei Erden bräuchte, um so in der Zukunft in irgendeiner Form Bestand haben zu können. Ein Zustand, der eng mit dem Kapitalismus verknüpft ist, der beständiges Wachstum braucht, um irgendwie fortexistieren zu können, oder wie es Ulrike Herrmann formuliert:

Der Kapitalismus ist faszinierend, weil er Wachstum und Wohlstand erzeugen kann. Aber leider benötigt er diese Expansion auch, um stabil zu sein und nicht in Krisen zu schlittern. Dieser Wachstumszwang kollidiert jedoch mit dem begrenzten Planeten Erde: Unendliches Wachstum ist in einer endlichen Welt nicht möglich.

Ulrike Herrmann – Das Ende des Kapitalismus, S. 84

Schon jetzt sind entscheidende Kipppunkte überschritten, die Einhaltung des Pariser Klimaschutzabkommens so gut wie unmöglich und die wahren Gefahren wie das die Freisetzung von in Mooren gebundenem Methan, der unwiederbringliche Verlust und damit die Zerstörung unserer Lebensgrundlage so gut wie unumkehrbar. Um auch nur einen halbwegs realistischen Ansatz der Rettung unseres Planeten zu haben, braucht es radikale Ansätze.

Grüne Technologie als Irrweg

Das Hoffen auf neue Technologien, vollständigen grünen Strom und den Fortbestand der Industrie und Arbeitsplätze in der aktuellen Form sind dabei nur Schimären, die wir verzweifelt zu haschen versuchen, um unsere Augen vor der unbequemen Wahrheit noch etwas weiter verschließen zu können und an Illusionen festzuhalten, die eben nicht mehr als das sind.

Ulrike Herrmann - Das Ende des Kapitalismus (Cover)

Denn in Das Ende des Kapitalismus zerstört Ulrike Herrmann gnadenlos und mit Verve sicher geglaubte Wahrheiten und angenehme Scheinsicherheiten. Wind und Sonne? Keine verlässlichen Energielieferanten. Atomenergie? Scheidet ebenfalls aus. Die Probleme von Speicherkapazitäten und Leitungsstrukturen nicht gelöst und technisch wohl auch in Zukunft kaum praktikabel umsetzbar. Generell die Vorstellung von vollumfänglicher grüner Energie eben eine Schimäre und nicht mehr als das (auch wenn beispielsweise ihr ehemaliger taz-Kollege Malte Kreutzfeldt Zweifel an dieser Hypothese äußert).

Das bisher praktizierte ökologisch-ökonomische Lebensmodell ist nicht zu halten und muss nicht nur reformiert, sondern gleich abgeschafft werden, so die mit vielen Quellen untermauerter Befund der Journalistin (die dabei auch historische Mythenbildung zu Fall bringt, wie etwa die der Kolonien, deren wirtschaftliche Bedeutung man völlig überschätzt und die abgesehen von den Verbrechen und Genoziden vor Ort wirtschaftlich immer ein reines Zuschussgeschäft waren, überstieg ihr Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt sowohl in Sachen Import als auch Export nicht einmal ein Prozent)

Digitalisierung und technische Innovationen werden uns nicht retten können, auch Wärmepumpen und neue Wohnmodelle sind nur minimale Pflaster auf einer Wunde, die im übertragenen Sinne nach einer anderen Heilung verlangt als nur kleinteiliger Kurpfuscherei.

Ein Ausweg durch Grünes Schrumpfen

Einen Ausweg sieht Herrmann nur im sogenannten Grünen Schrumpfen, einer Verabschiedung von bisher praktizierten ökonomischen Leitlinien und dem generellen Ende des Kapitalismus, dessen Bedürfnis nach Wachstum nicht mit einer Welt kompatibel ist, die dieses Wachstum nicht mehr hergibt.

Dass das nicht schmerzhaft sein kann, sondern durchaus funktioniert, dafür zieht die Journalistin das Beispiel Großbritanniens zur Zeit des Zweiten Weltkriegs heran. Denn dort hatten sich die Eliten noch zu lange in Sicherheit gewiegt, gar mit dem Hitler-Regime sympathisiert, ehe sie sie von heute auf morgen in einem Krieg wiederfanden, auf den das Land trotz moderner Truppen nicht wirklich vorbereitet war.

So musste plötzlich die ganze Wirtschaft des Landes auf Kriegsproduktion umgestellt werden, Lebensmittel rationiert und von vielen Briten und Britinnen neue Jobs in der Rüstungsindustrie ergriffen werden, um gegen das kriegshungrige Hitler-Deutschland eine Chance zu haben.

Dabei erkennt Herrmann gerade in der egalitären Natur dieser Kriegswirtschaft den großen Vorteil, der auch dem krassen Ungleichgewicht unserer Gegenwart etwas entgegenzusetzen hätte. Denn so standen allen Bürger*innen dieses Landes die gleiche Zahl an Kalorien und übrigen Zuteilungen zu, unabhängig von ihrem sozialen Stand und ihrer Klasse. Die ganze Bevölkerung wurde in dieser staatlichen Planwirtschaft gleichbehandelt, was auch mit Verzicht und der Streichung von Privilegien einherging. In unserer Gesellschaft, in der die Reichen immer reicher werden und die Armen immer mehr werden, in der oftmals das finanzielle Vermögen und die Herkunft über Chancen in der Bildung und Gesellschaft entscheiden, tatsächlich ein radikaler, aber bedenkenswerter Ansatz.

Eine solche egalitäre Einbeziehung der ganzen Gesellschaft könnte laut Ulrike Herrmann dazu angetan sein, die immer größer werdende Kluft zwischen einem kleinen Prozentsatz der Gesellschaft und dem vom Kapitalismus nicht profitierenden Rest zu verkleinern und durch neue Arbeits- und Lebensmodelle Sinn zu stiften und die von David Graeber einst als Bullshit-Jobs getauften gut bezahlten, aber sinnlosen Tätigkeiten zu überwinden. Die Vorteile fächert Ulrike Herrmann in ihrer ganzen Breite auf, wenngleich die Journalistin auch nicht verschweigt, dass unser momentaner Lebensstandard so oder so nicht zu halten sein wird und etwa Flugreisen oder Früchte außerhalb ihrer Saison ein Auslaufmodell sein dürften.

Ein radikaler Denkansatz

Man kann Ulrike Herrmann wahrlich nicht vorwerfen, dass ihr radikaler Denkansatz zu wenig ambitioniert sei. Vielmehr legt sie einen großen Strategieentwurf für eine halbwegs lebenswerte Zukunft vor, der in vielen Punkten neben der starken Illusionszertrümmerung aber auch durchaus Bereitschaft zu einer Neubewertung der Lage erkennen lässt. Oft betont die Journalistin, dass das Buch gerade in Sachen Innovationen und technischer Neuerungen den gegenwärtige Stand und die absehbare Zukunft abbildet. Sie selbst führt in einigen Passagen auch Gegenbeispiele an, die ihrer eigenen Hypothese widersprechen oder bei denen sich sicher geglaubte Annahmen als Irrtümer herausstellt.

Das mag zwar in einigen Punkten auch zutreffen, aber an der gesamtpessimistischen und alarmistischen Grundhypothese des Buchs dürfte das auch wenig ändern (obgleich man sich natürlich anderes wünscht, Herrmann aber bei ihrer stringent durchargumentierten Schrift leider auch häufiger rechtgegeben muss, als man das eigentlich möchte. Aber tief in sich ahnt doch wohl aber jeder und jede vernunftbegabte Leser*in, dass sich unser Leben in Zukunft nicht mehr so annehmlich gestaltet wird, wie wir es aktuell gewohnt sind).

Fazit

Auch wenn die Verzahnung von Kapitalismusgeschichte und illusionszertrümmernder Streitschrift in manchen Passagen nicht ganz aufzugehen vermag und man an manchen Behauptungen zweifeln darf, so ist Das Ende des Kapitalismus doch ein eindringliches Buch, das uns die Webfehler des kapitalistischen Systems und die beschränkten Potentiale der grünen Energien und der damit verbundenen Technologien vor Augen führt.

Die Stärke von Ulrike Herrmanns Buch ist die Zugänglichkeit, mit der sie von ihrem Thema schreibt. Kurze Kapitel, die die jeweilige These schon im Titel tragen, werden allgemeinverständlich von ihr ausgeführt und mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat belegt. Dabei findet sie immer wieder plausible Bilder wie das des Radfahrers, der als Sinnbild für den Kapitalismus steht. Tritt er nicht mehr in die Pedale um voranzukommen, so droht er umzukippen, denn der Stillstand ohne Bodenkontakt ist für ihn so gefährlich wie der Stillstand für den globalen Kapitalismus.

Stellte Frederic Jameson einst fest, dass man sich leichter das Ende der Welt denn das des Kapitalismus vorstellen könne, so zeigt Ulrike Herrmann hier, dass das durchaus geht.

So ist Das Ende des Kapitalismus ein massenkompatibles Buch, das unbequeme Wahrheiten ausspricht und das energisch für eine kapitalismusfreie Welt eintritt, die weit mehr Chancen als Risiken bereithält, wenn man der Zukunftsvision der Journalistin Glauben schenken darf.


  • Ulrike Herrmann – Das Ende des Kapitalismus
  • Artikelnummer 174324 (Büchergilde Gutenberg)
  • 344 Seiten. Preis: 22,00 €

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Charlotte McConaghy – Zugvögel

Und wir schauen in den Himmel
denn bald ist es soweit
In jedem Jahr auf diesem Platz zur gleichen Zeit
bilden Zugvögel ein V am Firmament
und wir schauen ihnen nach bis man das V nicht mehr erkennt

Thees Uhlmann – Zugvögel

Doch was passiert, wenn man am Himmel kein Vögel mehr beobachten kann, die in V-Formation gen Süden fliegen? Wenn die meisten Tiere auf der Erde verschwunden sind? Woran soll man noch festhalten? Diese Frage stellt sich auch Franny. Sie hat die letzten Küstenseeschwalben aufgestöbert und will deren Zug nachverfolgen. Denn Küstenseeschwalben gehören zu den belastbarsten Zugvögeln, legen in ihrem Leben den Weg von Arktis zu Antarktis mehrfach zurück. In ihrem Leben fliegen die Tiere eine Strecke von über 2,4 Millionen Kilometer, das ist eine Strecke, der der dreifachen Distanz zum Mond entspricht.

Küstenseeschwalben in Patagonien (By PMATAS – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48578659)

Wenn es also robuste und überlebensfähige Tiere gibt, dann die Küstenseeschwalben. Und so beringt Franny drei Tiere mit einem Peilsender und will ihrem Kurs folgen. Vielleicht gibt es an dem Ort ihrer Brut ja noch mehr Tiere?

Franny überzeugt den Kapitän eines Fischerbootes, dem Signal der Tiere zu folgen. Denn dort wo die Küstenseeschwalben sind, muss es auch Fische geben. Für die Crew des Kutters ein entscheidendes Argument, schließlich liegen die letzten Fangerfolge schon wieder eine ganze Weile zurück. Wie die anderen Tiere, so sind auch die Fische größtenteils verschwunden. Eine Reise beginnt, die einen unvorhergesehenen Verlauf nehmen wird.

Zugvögel – ein gutes Buch

Manchmal kann ein Urteil über ein Buch ganz einfach ausfallen. Zugvögel ist ein Buch, das ein solches Urteil erlaubt. Das bedeutet im konkreten Falle: dieses Buch ist wirklich gut! Mit ihrem Debüt ist Charlotte McConaghy ein stimmiges Debüt gelungen, das mich überzeugt hat.

Charlotte McConaghy - Zugvögel (Cover)

In diesem Roman findet vieles zusammen. Eine komplexe Protagonistin, deren Hintergrundgeschichte sich erst langsam entfaltet. Ein dystopisches Setting, das aber nicht brachial aufgemotzt wird, und das für die eigentliche Handlung nur die Grundierung darstellt. Themen wie Naturschutz oder Selbstfindung, die die Geschichte bereichern, aber nicht erdrücken. Und eine Heldin, die widersprüchlich ist und die die Sympathie der Lesenden ein ums andere Mal mit ihrem Verhalten strapaziert.

Trotz der vielen Rückblenden und Zeitsprünge entwickelt Zugvögel einen Sog und ein Tempo, der in die Geschichte rund um die Küstenseeschwalben und Frannys Lebens- und Liebesgeschichte hineinzieht. Nature Writing, Liebe, Umweltschutz – dieses Buch vereint viele zeitgeistige Themen. Es würde mich nicht wundern, wenn diesem Roman ein großer Erfolg beschieden ist. Übersetzt wurde es im Übrigen von Tanja Handels.


  • Charlotte McConaghy – Zugvögel
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-10-397470-6 (S. Fischer)
  • 398 Seiten. Preis: 22,00 €
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Gert Nygårdshaug – Mengele Zoo

Alles begann vor einem Jahr vor dem schwedischen Reichstag in Stockholm, genauer gesagt am 20. August 2018. Damals begann Greta Thunberg ihren Schulstreik, der sich binnen einen Jahres zu einem weltweiten Phänomen entwickelt hat. In über 125 Ländern gingen und gehen Menschen auf die Straße, um für mehr Klimaschutz und Naturschutz zu protestieren. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand die von Thunberg angestoßene Bewegung im weltweiten Earth Strike am 27. September dieses Jahres. Millionen Menschen beteiligten sich weltweit an den Protesten – zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte gingen Menschen auf allen fünf Kontinenten für ein- und dasselbe Anliegen auf die Straßen.

Der Klimastreik von Greta Thunberg

Eine ungeheuer große und einflussreiche Bewegung ist unter dem Stichwort Fridays for Future entstanden. Doch auch andere Bewegungen, die sich dem Umweltschutz verschrieben haben, erhalten immer mehr Zulauf und Reichweite. Hier wäre an erster Stelle die Gruppe Extinction Rebellion zu nennen. Diese fällt immer wieder mit Aktionen auf, die Bewusstsein für die Klimakrise und das Artensterben schaffen sollen. Die Aktionen reich(t)en von einer Blockade des Großen Sterns in Berlin bis hin zu einer versuchten Lahmlegung des britischen Flughafens Heathrow.

Abgesehen von drastischen Bildern, die bei den Demonstrationen erzeugt wurden, blieb dieser zivile Ungehorsam friedlich. Aber je dramatischer die Klimakrise wird, desto eher ist ein Kippen dieses Widerstands gegen die herrschenden Verhältnisse möglich. Durch eine mögliche Konkurrenz der verschiedenen Umweltschützer*innen ist eine Radikalisierung denkbar.

Wenn Umweltschutz gewalttätig wird

Doch was ist, wenn Protest plötzlich gewalttätig wird? Wenn Anliegen nicht mehr mit Worten und Widerstand, sondern mit Waffen ausgetragen werden? Wenn der Umweltschutz zum Kampffeld wird, bei dem Anliegen mit Mitteln des Terrorismus durchgesetzt werden?

Dieser Frage geht der norwegische Autor Gert Nygårdshaug in seinem geradezu prophetischen Roman Mengele Zoo nach. Ein weiterer Beitrag der Reihe #norwegenerlesen.

Er hatte begriffen, dass es wohl kaum einen weiteren Weltkrieg geben würde. Doch ein anderer Krieg stand bevor: der systematische Terror gegen alle, die die Macht zur Zerstörung, Verpestung und Unterdrückung besaßen, die die Wichtigkeit der Ameisenwanderungen genauso wenig verstanden wie die sanfte Kommunikation der Blätter, die untrüglichen Sinne der Tiere und die lebensspendende Notwendigkeit eines allumfassenden Ganzen. Er hatte gelernt, dass es Zusammenhänge gab, Ketten, die in einem langwierigen Prozess über Jahrmillionen geschmiedet worden waren und dass diese Ketten in einer blinden, sinnlosen Jagd nach Geld brutal auseinandergerissen wurden. Es gab keine Gnade. Es konnte keine Gnade geben.

Nygårdshaug, Gert: Mengele Zoo, S. 290 f.

Wer hier so radikal denkt, das ist der Held von Gert Nygårdshaugs Roman Mengele Zoo. Mino Aquiles Portoguesa wächst im Regenwald auf. Seinen Vater unterstützt der kleine Junge bei der Jagd auf exotische Schmetterlinge, die er zusammen mit ihm präpariert und dann verkauft. So bessern die beiden das karge Familieneinkommen auf.

Aus dem Regenwald zum gesuchten Terroristen

Doch das abgeschiedene Dorf im Regenwald ist bedroht. Amerikanische Firmen und einheimische Machthaber betrachten den Regenwald als gigantische Rohstoffquelle, deren Schutz zu vernachlässigen ist. Das muss auch die Dorfbevölkerung erfahren, die der Industrie ein Dorn im Auge ist. Dem Widerstand der lokalen Bevölkerung gegen die Zerstörung ihrer Heimat setzen die Machthaber Gewalt entgegen. Immer brutaler werden die Einschüchterungsversuche, bis das ganze Dorf mit seinen Bewohnern von der Armee dem Boden gleichgemacht wird. Nur Mino überlebt per Zufall diese „Säuberung“ – und tritt zutiefst verstört die Flucht in den Regenwald an.

Per Zufall kreuzt er dabei die Wege eines Gauklers und Zauberers. Dieser nimmt ihn unter seine Fittiche und lehrt ihn die Kunst der Illusion. Doch auch dieser Lebensabschnitt findet bald ein jähes Ende. Immer wieder erhält Mino auf seiner Odyssee Nackenschläge, die meist mit ausbeuterischen Firmen und Invasoren zu tun haben. Korrupte Beamte und ihre Machenschaften nähren in Mino die Flamme des Widerstandes, die bald immer heller und heller leuchtet.

Als er auf seinem Lebensweg drei weiteren Ausgestoßenen begegnet, reift in ihm ein Plan: allen Firmen und Menschen, die Raubbau an der Natur und seinem geliebten Regenwald begehen, will er das Handwerk legen. Zusammen mit seinen Freunden avanciert er unter dem Logo des blauen Mariposa-Schmetterlings zum Ökoterroristen. Ein Tetrapode, also ein vierseitiger Wellenbrecher, wird zum Symbol der vier Freunde. Gegen alle Widerstände halten sie zusammen und dehnen ihre Aktivitäten in alle vier Himmelsrichtungen aus.

In Japan, in Afrika, in Deutschland, in den USA – immer wieder schlagen Mino und seine Gefährten zu. Ihre brutalen Attentate sorgen für Schlagzeilen – und sorgen auch für viel Sympathie und Unterstützung weltweit.

Ein Terrorist als Sympathieträger

Für Mino ist die ganze Welt ein Mengele Zoo. In dem perversen deutschen KZ-Arzt, der auch in Südamerika untergetaucht war, finden die Freunde ein Bild für die aus den Fugen geratene Welt:

„Mengele Zoo“ sagte Ildebranda. „Du hast was von Mengele Zoo gefaselt.“ (…)

„“Experimentos Menge em Jungela“ von Professor Gello Lunger. Darin steht, dass dieser Nazi-Doktor ganz Südamerika zu seinem privaten zoologischen Garten machen wollte. Mengele Zoo. Haha! Inzwischen ist die ganze Welt ein einziger großer Mengele Zoo. Auch ohne Mengeles Hilfe. Ein groteskes Irrenhaus, in das wir hervorragend hineinpassen. Prost!“

Nygårdshaug, Gert: Mengele Zoo, S. 214 f.

Nun ist es ja immer ein Unterfangen, einen Terroristen, der außerhalb unseres Wertesystems agiert, zum Helden eines Buchs zu machen (oder im Falle von Mino sogar von vier weiteren Büchern). Mitgefühl und Sympathien für einen Attentäter, der Menschen ermordet und zum Erreichen seiner Ziele über Leichen geht?

Das funktioniert bei Mengele Zoo aber wirklich gut, da man sich mit Minos Zielen durchaus identifizieren kann. Der Schutz des Regenwaldes ist ein Thema, das bei uns nicht zuletzt durch die verheerenden Brände im Amazonas und das Agieren des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro in den globalen Mittelpunkt gerückt ist. Die Bilder und Nachrichten, die uns aus Südamerika erreichen, lassen Minos Motivation mehr als einleuchtend erscheinen.

Und da sind dann auch noch die Gegner, die mehr als nebulös bleiben, sodass sich das Mitgefühl mit ihnen in Grenzen hält. Die Vertreter mächtiger Konsortien und Industrieriesen, die die Natur ausbeuten, bekommen selten mehr als einen Namen verpasst. Sie sind mit recht grobem Pinsel gemalt, sodass Gert Nygårdshaug hier einem möglichen Gewissenskonflikt aus dem Weg geht. Diese schattenhaften Figuren tun Böses, also müssen sie gestoppt werden. In der Logik des Romans funktioniert das sehr gut und nachvollziehbar.

Ein prophetischer Roman

Apropos grober Pinsel: Manche Wendungen in Minos Leben erscheinen im Roman zu künstlich konstruiert und ab und an neigt Gert Nygårdshaug auch dazu, alles etwas überzuerzählen. Show, don’t tell berücksichtigt der norwegische Autor nicht immer. Ein kleines Beispiel hierzu:

Als sich Orlando auf dem Weg hinaus noch einmal umdrehte, um dem jungen Wachmann einen besonders strengen Blick zuzuwerfen, zwinkerte dieser und hielt unauffällig den Daumen nach oben. So wusste Orlando, dass er sich auf ihn verlassen konnte

Nygårdshaug, Gert: Mengele Zoo, S. 258

Solche Stellen sind insgesamt gesehen aber wirklich in der Minderheit. Ansonsten besitzt das Buch einen wirklichen Erzählfluss. Die Bilder aus dem Regenwald erinnern so manches Mal an Gabriel Garcia Marquez‚ Epos Hundert Jahre Einsamkeit. Der Plot besitzt Tempo und Drive – und einen Helden, der die Geschichte trägt. Mengele Zoo bietet immer wieder Reflektionen und Anknüpfungspunkte in unsere Gegenwart hinein. Das Buch ist ein wirkliches Lesevergnügen, das eine große gesellschaftliche Relevanz besitzt.

Der norwegische Autor Gert Nygårdshaug

Die größte Überraschung allerdings birgt ein Blick ins Impressum. Dieser so hochaktuelle Roman, der wie für unsere Tage geschrieben erscheint mit all den Problemen rund um den Imperialismus, den Regenwald und Naturschutz, erschien – man muss wirklich staunen: im Jahr 1988. Man kann es nur noch einmal sagen: 1988!

30 Jahre alt – und so aktuell wie nie

Die im Buch beschriebenen Probleme sind seitdem nicht verschwunden, sondern im Gegenteil, nur noch schlimmer geworden. Ein brasilianischer Präsident, der die letzten geschützten Refugien und Reservate im Regenwald aufgibt, damit dort Gold geschürft werden kann und die Bäume gerodet werden. Ein amerikanischer Präsident, der diese aggressive Art der Umweltzerstörung gutheißt und unterstützt. Man schämt sich, dass wir seitdem offenbar immer noch nicht schlauer geworden sind und derart mit unserer Lebensgrundlage Natur umgehen.

Eine Sache hat sich nun aber 30 Jahre später getan. Dieser erstaunliche Roman, der in Norwegen zum „besten norwegischen Buch aller Zeiten“ gewählt wurde, liegt nun endlich in deutscher Übersetzung vor. 30 Jahre lang blieb das Buch unübersetzt, ehe nun extra für diese Übertragung von der Übersetzerin Babette Hoßfeld und Mitstreiter*innen der Verlag Vida Verde gegründet wurde. Die weiteren Bände der Mino-Reihe sollen in diesem Verlag nun ebenfalls erscheinen. Sollten sie auch nur annähernd so mitreißend und auf der Höhe der Zeit sein, wäre das einen wirklicher Glücksfall und eine echte Entdeckung. Hier lohnt es sich wirklich, das #norwegenerlesen!


Bildinformationen: Greta Thunberg: Quelle Anders Hellberg, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=77270098)

Gert Nygårdshaug: Quelle Bjørn Erik Pedersen, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16532963)

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Maja Lunde – Die Geschichte des Wasser

Dieses Buch dürften wenige im Vorfeld auf dem Zettel gehabt haben, als Prognosen für den erfolgreichsten Roman des Jahres 2017 abgegeben wurden. Doch Maja Lunde hatte mit Die Geschichte der Bienen die Nase vorn, als es um die höchsten Verkaufszahlen ging. Und das sogar vor Größen wie Ken Follett und Sebastian Fitzek. Das dürfte bei der Autorin und im Verlag für einige geköpfte Flaschen Champagner gesorgt haben – zugleich ist aber natürlich auch die Erwartungshaltung gestiegen. Würde es der Autorin gelingen, einen derartigen Husarenstreich ein zweites Mal abzuliefern?

Die Geschichte des Wassers von Maja Lunde

Die Geschichte des Wassers ist nun der zweite Teil eines geplanten Klimaquartetts, das sich literarisch dem Umweltschutz widmet – grüne Literatur sozusagen. Im Vergleich zu ihrem Erstling hat Lunde die Anzahl der Erzählstränge eingedampft, statt drei Geschichten beinhaltet ihr neues Buch nun nur noch zwei Erzählungen, die abermals miteinander zusammenhängen. Eine Geschichte ist die von Signe, die 2017 mit einem Boot von einem Gletscher in Norwegen zu einem alten Freund aufmacht, der in Frankreich wohnt. An Bord dieses Boots führt Signe Eisblöcke vom Gletscher mit sich (da werden Erinnerungen wach an Lize Spits Debüt Und es schmilzt). Die andere Geschichte ist in der Zukunft angesiedelt, genauer gesagt im Jahr 2041. Darin dreht sich alles um David und seine Tochter Lou. Mit er hat er sich auf den Weg in den Norden Richtung Frankreich machen müssen, da eine große Dürre halb Europa unbewohnbar gemacht hat. Wasser ist zum flüssigen Gold geworden und hat große Fluchtbewegungen in Kraft gesetzt. Die Menschen werden zu Klimaflüchtlingen – so auch David und Lou. In einer französischen Notunterkunft müssen die beiden um ihr Leben kämpfen.

In ihrem neuen Buch macht Maja Lunde genau das, was sie schon bei ihrem Roman über die Bienen getan hat. Sie entwickelt von der Gegenwart ausgehend eine Vision, wie unsere Zukunft aussehen könnte, quasi als Mahnung und Warnung. Im schon fast dystopisch anmutenden Setting des Jahres 2041 schafft es Lunde glaubhaft, die Konsequenzen von übermäßigem Wasserverbrauch und Klimaerwärmung plastisch und nachvollziehbar zu schildern. Gegen diese spektakuläre Schilderung verliert Signes Geschichte der Bootsreise zwangsläufig etwas, auch wenn Lunde ihre Reise in schon manchmal an Moby Dick gemahnende Bilder packt.

Pantha Rhei

Auch in Die Geschichte des Wassers ist er wieder da – der Lesefluss. Die Norwegerin hat sich wirklich am griechischen Motto Pantha Rhei – also Alles fließt – orientiert. In nicht zu langen Kapiteln springt Lunde immer wieder zwischen ihren beiden Erzählsträngen hin und her, die am Ende ineinanderfließen und ein großes Ganzes ergeben. Dabei ist ihre Geschichte leider auch etwas absehbar, da viele Erzählelemente schon früh zueinanderfinden und so wirkliche Überraschungen in der Erzählung ausbleiben. Wer sich an dieser gewissen Berechenbarkeit, sowohl in puncto Buchaufbau als auch den Erzählungen selbst nicht stört, der bekommt mit Die Geschichte des Wassers wieder ein Buch, das den Umweltschutz und das Erzählen gleichermaßen als Anliegen verfolgt.

Gute Unterhaltung bietet das Buch für mein Empfinden auf alle Fälle, auch wenn ich den Überraschungserfolg der Bienen etwas stärker empfand. Welche Wünsche hege ich für den kommenden Band des Klimaquartetts? Ein bisschen mehr Raffinesse für Band Drei wäre in meinen Augen wünschenswert. Auch habe ich die Hoffnung, dass sich Maja Lunde nicht von der Leserschaft und den Verlagen zu sehr unter Druck setzen lässt und ihr neues Buch etwas reifen lässt. Die Taktung von einem neuen Buch pro Jahr erscheint mir zu hektisch, als dass wirklich jedes Mal ein Buch mit Tiefgang entstehen könnte. Lieber sollte etwas das Tempo aus der Reihe genommen werden, um das Quartett zu einem lesenswerten Abschluss zu bringen. Von diesem Meckern auf hohen Niveau abgesehen ein guter Unterhaltungsroman, der sich begrüßenswerterweise einmal mit relevanten Themen, denn hyperintelligenten Serienkillern oder Ähnlichem widmet!

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